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MarinaB

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Cover des Buches Kanada (ISBN: 9783906910345)

Bewertung zu "Kanada" von Juan Gómez Bárcena

Kanada
MarinaBvor 4 Jahren
Sprachlosigkeit

Es ist ein Roman, zu dem sich kaum Worte finden lassen. Atemlos, gebannt, fast an einem Stück habe ich ihn gelesen. Und jetzt Sprachlosigkeit infolge des Raums und der Sprachlandschaft dieses Romans, der Fülle und zugleich der Leere …

Juan Gómez Bárcena war eine Empfehlung Alexander Weidels vom Secession Verlag für Literatur. Ohne ihn hätte ich das Buch vermutlich nicht gelesen. Im Wust der Bücherfluten wäre er untergegangen. Ich bin froh, dass das nicht passiert ist. Mir wäre etwas entgangen, was für mich unvergleichlich gute Literatur ausmacht. Trotzdem oder gerade deshalb fällt es mir schwer über den Roman zu schreiben. Ich weiß jetzt schon, dass ich das nicht zu fassen kriege, was er transportiert in all seiner Bildhaftigkeit und was vermutlich bei jedem/jeder Leser/in ganz anders ankommt. Und ich weiß, dass es anderen bei der Lektüre ähnlich ging.

„Kanada ist eine Empfindung, ein Schütteln, ein Schlag, den man nicht verstehen kann und der aus diesem Grund niemals verschwindet, während dein Leben vor dem Krieg nur ein Konzept ist, eine Idee, die sich auflöst, sobald man sie erklärt.“

Zunächst klingt der Titel ganz harmlos. Kanada. Doch dann spielt der Roman in Ungarn. Und erst auf Seite 124, zumindest ich wusste es vorher nicht, erfahre ich von den Erlebnissen des Protagonisten in „Kanada“. Gemeint ist nicht das Land in Übersee. Furchtbare traumatisierende Erfahrungen macht dieser Mann und kann nicht wieder in sein Leben zurück, weil er eigentlich nicht mehr lebensfähig ist. Was er durchgemacht hat, versteht niemand. Auch nicht der „nette“ Nachbar, der sich in der Zeit seiner Abwesenheit um das Haus gekümmert hat. Trotzdem wurde es geplündert. Dem/r Lesenden wird klar, warum. Die Stadt ist von den Bomben des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört. Der Mann verkriecht sich im Haus. Anfangs glaubt der Nachbar, der ihm regelmäßig Essen bringt, dass er bald wieder anfangen wird zu arbeiten. Versucht zu vermitteln. Doch nach dem Krieg haben die Kommunisten das Land übernommen. Mit einer Arbeit wird es nichts. Der Mann zieht sich in sein ehemaliges Büro im Haus zurück und verlässt es nicht mehr, zieht sich immer mehr in sich zurück. Man erfährt, dass er ein Zahlengenie ist, dass er einmal Dozent war, ein versierter Astrophysiker. Dass er das Lager nur überlebt hat, weil er diese Begabung hat. Doch auch jetzt in der Freiheit kann er nur weiter dahinvegetieren, mehr Tier als Mensch. Der Nachbar quartiert im restlichen Haus Mieter ein und verdient Geld damit. Jahre vergehen. Das Kind der Nachbarin wird vom Säugling zum Schukind. Wie viele Jahre wirklich vergehen, erfährt man erst, als es plötzlich Straßenkämpfe gibt, sowjetische Panzer durch die Stadt rollen. Es ist also der Ungarnaufstand 1956, als sich das Land gegen die Besatzungsmacht, die Sowjetunion auflehnt.

„Der Schuld lässt sich auf die ein oder andere Weise trotzen. Unschuldig zu sein, ist dagegen ein Gewicht, das dich zerquetscht. Unschuld stellt die ganze Welt bloß. Wenn es möglich ist, die härtesten Strafen grundlos zu erleiden, dann wird die  Wirklichkeit schuldig und verliert ihren Sinn –“

Der gebrochene Mann – nur ein einziges Mal erfährt man seinen Namen, János Kövári – nimmt kaum noch etwas außerhalb war, er fantasiert in Wahnvorstellungen, absurden Träumen oder sind es Retraumatisierungen? Erst am Schluss, als alles rückwärts läuft, scheint vollkommene Klarheit in den Mann zurückzukehren. Es ist wie ein Abspann. Er sieht sich und seine Familie unversehrt aus dem Zug aussteigen und ins Haus zurückkehren mit allen Koffern und sieht aus dem Fenster, wie der Nachbar den Schergen den Weg zu seinem Haus weist …

Die Entpersonalisierung oder Abspaltung wirkt besonders stark durch die Erzählform aus der Du-Perspektive. Und auch deshalb kommt mir die Geschichte besonders nah. Und tut weh. „Kanada“ ist ein Roman, der schmerzt, schmerzen muss, weil Literatur mitunter so sein muss. Große Literatur ist für mich keine, die unterhaltsam ist, sondern eine, die mich auch an meine Grenzen bringen darf. Das tut Bárcena mit diesem unfassbaren Buch. Und gerade deshalb leuchtet dieser Roman in all seinen Schrecken und seiner Düsternis.


Cover des Buches Eine Frau erlebt die Polarnacht (ISBN: 9783548377315)

Bewertung zu "Eine Frau erlebt die Polarnacht" von Christiane Ritter

Eine Frau erlebt die Polarnacht
MarinaBvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Faszinierende Geschichte einer Emanzipation
Faszinierende Geschichte einer Emanzipation der besonderen Art

"Diese Landschaft hat nichts Irdisches mehr. Sie scheint in ihrer Entrücktheit ein in sich geschlossenes Leben zu führen. Sie ist wie der Traum einer Welt, der sichtbar wird, bevor er sich zur Wirklichkeit gestaltet."

Es ist faszinierend: Christiane Ritter, geboren 1898 in Karlsbad, aus wohlhabender Familie, reist im Alter von 36 Jahren zu ihrem Mann, der sich schon länger in der Arktis aufhält, nach Spitzbergen, um dort ein Jahr lang mit ihm in einer winzigen Hütte ohne Komfort in absoluter Einsamkeit zu verbringen. Und was sie anfangs selbst nicht glaubt, sie erliegt dem Zauber der Natur, der Stille und der weißen Weite.

Bereits im letzten Winter hatte ich mir dieses Buch gekauft. Offenbar hat es aber jetzt erst den richtigen Zeitpunkt des Lesens gefunden. Wohl auch, weil der kühle Norden mich immer mehr anzieht. Wie man schon an obigem Zitat erkennen kann, liegt die Besonderheit dieses Buches nicht nur an der Außergewöhnlichkeit, dass eine Frau 1934 mit ihrem Mann, einem Kapitän und Abenteurer, einen dunklen Winter im eisigen Spitzbergen unter schwierigsten Lebensbedingungen verbringt, sondern auch an der großartigen Sprache Ritters. Sie schafft es, all das, was man hier im gemütlichen mitteleuropäischen Winter so gar nicht kennt, in Worte zu fassen, die genau die Stimmung dieses nordischen Landstrichs spiegeln.

Und sie zeigt auch, dass Frauen all das auch können. Immer schon konnten. Christiane Ritter wusste ihre kleine Tochter bei den Großeltern gut versorgt und lebte ihren Traum und ließ sich dabei nicht von damaligen Konventionen beirren. „Laß alles liegen und stehen und folge mir in die Arktis“, schrieb ihr Mann und sie tat es. Ich bin von diesem Reisebericht, der letztlich auch Überlebens/Erwachensbericht ist, zutiefst beeindruckt. Gleich nach der Ankunft, ihr Mann ist längere Zeit auf der Jagd, erlebt sie allein in einer winzigen Hütte einen tagelang dauernden Sturm. Dies durchzustehen, war Vorbereitung auf die "Polarnacht" (vier Monate lang ist die Sonne nicht zu sehen) und gab ihr die Kraft den Winter mit all den Entbehrungen zu überstehen. Und nicht nur das: aus jedem ihrer Sätze klingt die große Faszination, die eine solche Landschaft im Menschen auslösen kann, an. Die Weite, das Licht, das Dunkel, die Nähe zur alles überwältigenden Natur, das auf sich selbst zurückgeworfen sein klingt durch jede Zeile.

Im Laufe des Winter müssen die Ritters monatelang ohne frisches Fleisch auskommen, weil sie abhängig sind vom Auftauchen von Eisbären, die mit dem Packeis an Land kommen. Robben, Füchse und Enten werden geschossen und bevorratet. Die Daunen gesammelt, die Felle gegerbt. Hier wird einem klar, was Jagd eigentlich einmal bedeutete. Ritter beschreibt, wie wichtig die winzigen Hütten sind, die verteilt über die Fjorde stehen, um unterwegs Schutz vor Wetter und Kälte zu finden. Sie erläutert, wie es sich anfühlt bei minus 35 Grad mit Skiern über das zugefrorene Meer zu fahren, wie es ist keine Geräusche mehr zu hören oder lauthals tobende Stürme. Sie macht die Erfahrung mondsüchtig zu werden oder geisterhafte Naturphänomene zu erleben, die an Hellsichtigkeit grenzen. Heutzutage würde man sagen, sie findet im Einklang mit der (damals noch intakten) Natur zu sich selbst. Doch was sie schreibt ist so klug und wichtig, dass ihr Reisebericht Jahrzehnte überdauerte. Für mich ist dieses Buch in jeder Hinsicht besonders: es ist feministisch, es ist spirituell und es ist sprachlich beeindruckend. Eine echte Perle. Polarlichtleuchten!

Cover des Buches Professor Andersens Nacht (ISBN: 9783908777168)

Bewertung zu "Professor Andersens Nacht" von Dag Solstad

Professor Andersens Nacht
MarinaBvor 4 Jahren
Alles andere als ein Krimi ...

"Professor Andersens Nacht" mutet zunächst wie ein Kriminalroman an. Er erschien bereits 1996 in Norwegen und die Handlung beginnt am Heiligabend mit einem typisch norwegischen Weihnachtsessen.

Der Literaturprofessor Pål Andersen, alleinlebend, verbringt den Weihnachtsabend zu Hause und sinniert über Sinn und Unsinn dieses Festes. Zu vorgerückter Stunde steht er am Fenster und beobachtet die Menschen in den hell erleuchteten Fenstern im Haus gegenüber. Alles scheint friedlich, bis Andersen Unglaubliches sieht. In einer Wohnung wird eine junge Frau von einem Mann erdrosselt. Andersen ist schockiert, greift zum Telefonhörer, um die Polizei zu benachrichtigen. Doch dann legt er wieder auf. Warum er das tut, weiß er selbst nicht. Es scheint wie ein Zwang. Doch Ruhe findet er nach dieser Entscheidung nicht mehr. Wir kennen das alle: man schiebt eine wichtige Sache auf und irgendwann, je länger man wartet, wird es schier unmöglich, es noch zu tun.


"Dann lief er durch seine Wohnung, [...] bis zum hell erleuchteten Arbeitszimmer, wo er sich einige Zeit hinsetzte und zu lesen vorgab, bevor er aufstand, und wieder durch die Zimmer der Wohnung ging, grübelnd, über sich selbst nachdenkend, im völligen Bewusstsein über das, was er da trieb, aber mindestens ebenso ergriffen von dem Unverständlichen daran."


Was nun in Professor Andersen vorgeht ist spannendstes Kopfkino und psychologische Studie zugleich. Andersen schläft schlecht, geht spazieren und vor allem steht er den Rest des Weihnachtsfests am Fenster und lauert, was gegenüber weiter passiert. Bei einer Einladung zu einem Freund versucht er sich mitzuteilen, endlich über das Vorgefallene sprechen zu können, würde ihn beruhigen, denkt er. Doch er schafft es nicht. Nach schlafloser Nacht, bricht er spontan auf nach Trondheim, um dort Silvester zu verbringen. Nur weg, denkt er. Dort trifft er sich mit einem Kollegen und die Gespräche, von viel Alkohol durchtränkt, lassen ihn langsam das Gesehene vergessen. Über existenzielle Themen und über ihren Beruf und inwiefern die Literatur heutzutage überhaupt noch tragbar ist, wird diskutiert. Sehr spannend ist das alles für die Leser, obgleich man selbst natürlich den Mord nicht aus dem Kopf bekommt, wissen will, wie es weitergeht. Doch auf eine übliche Krimihandlung darf man hier nicht hoffen und das ist gut so.

Andersen erwacht früh am Morgen im Hotel in Trondheim mit panischer Angst, bricht sofort auf und reist nach Hause. In der Wohnung begibt er sich sofort ans Fenster. Infolge sieht Andersen den mutmasslichen Mörder in der Wohnung, die Wohnung verlassen und wieder betreten, kann anhand der Namensschilder an der Haustür seinen Namen ausfindig machen, begegnet ihm sogar auf der Straße. Wochen vergehen. Täglich durchforstet er die Zeitung nach dem Todesfall oder einer Vermisstenanzeige. Doch nichts. In hanebüchenen Selbstgesprächen erläutert er das Für und Wieder nun endlich doch noch zur Polizei zu gehen. Und schließlich sitzt Andersen sogar in einer Sushibar um die Ecke neben ihm, wo er mit ihm ins Gespräch kommt ...

Was Dag Solstad als Schriftsteller leistet ist einfach genial. Er schreibt so herrlich unberechenbar, dass seine Geschichten, obwohl scheinbar wenig passiert, spannend und berauschend sind. Das Wenige, was im Außen passiert, steht dem reichen Innenleben seiner Protagonisten entgegen und reicht bis zu philosophisch existenziellen Themen, die uns alle betreffen. Denken und hinterfragen und zweifeln stehen hier im Mittelpunkt. Und eine anspruchsvolle Sprache, die Ina Kronenberger großartig übersetzt hat. DAS ist große Literatur! Hellstes Leuchten!

Cover des Buches T. Singer (ISBN: 9783038200659)

Bewertung zu "T. Singer" von Dag Solstad

T. Singer
MarinaBvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Sehr eigen, sprachlich und inhaltlich grandios! Was für ein Erzähler!
Was für ein Erzähler! Was für eine Hauptfigur!

Im Roman "T: Singer", der bereits 1999 in Norwegen erschien, lässt Solstad einen absoluten Außenseiter, immer wieder kommentiert vom allwissenden Erzähler durch sein grüblerisches, gewollt gleichförmiges Leben gehen. Eigentlich möchte er unsichtbar bleiben und nichts als ein gewöhnliches Leben führen. Einmal, als Kind, hat ihn ein Ereignis so geprägt, dass er noch im späteren Leben immer wieder davon beeinträchtigt wird. Es ist so unspektakulär und dennoch entspringt dem ein großes Schamgefühl. Durch Tagträume und Philosophieren gelangt er durch die Tage und wird unversehens zum Langzeitstudent. Anfangs manifestiert sich der Wunsch Schriftsteller zu werden, doch er denkt so lange über den ersten Satz nach, dass er darüber nicht hinaus findet.


"Singer liegt auf der Couch seiner Bruchbude im Stadtteil Homansbyen, [...] während er hier, bald dreißig Jahre seinem seligen Tagtraum nachhängt. Das hier ist Singer, absorbiert von seiner heimlichen Bestimmung, die in erster Linie ein Tagtraum ist."


Schließlich wird er Bibliothekar, nimmt mit Mitte 30 eine Stelle in der Provinz an und zieht weg aus Oslo. In Notodden in der Telemark läuft anfangs alles nach Plan. Er geht in der Masse unter. Seine recht gleichförmige Arbeit bei meist gleichem Tagesablauf ist genau das, was er will. Bestimmte Rituale ergänzen den Tag.

Als er sich in eine Frau verliebt, bei ihr einzieht und heiratet, läuft auch das alles vollkommen unspektakulär für ihn ab. Die Anfangszeit ist geprägt von frischem Wind, von Ablenkungen und neuen Ritualen, wird für ihn aber schnell wieder zur Routine und Singer wird wieder introvertiert wie zuvor. Bald wird klar, dass es zu einer Trennung kommen muss. Doch durch einen Verkehrsunfall kommt seine Frau Merete zu Tode. Dass Singer sich um ihre Tochter kümmert, die aus einer vorigen Beziehung stammt, ist für ihn gleich klar. Und obwohl er weiß, dass ihm nicht wirklich an ihr liegt, besteht er den Großeltern gegenüber darauf, immer in der Angst, alle könnten ahnen, dass Merete und er sich eigentlich scheiden lassen wollten. Von seinem eigentlichen Entschluß, aus diesem Leben auszubrechen, als 40-jähriger anderenorts neu zu beginnen, bleibt nur der Umzug nach Oslo mit einer neuen Bibliothekarsstelle. Und so lebt er schließlich mit einer ihm fremden Tochter ein ihm eigentlich fremdes Leben ...

T. Singer ist wie viele der männlichen Protagonisten bei Solstad einer, der sich schicksalhaft treiben lässt, selten eigene Entscheidungen trifft, und wenn doch, dann sogar oft gegen das eigene intuitive Bauchgefühl. So als müsste er nach einer höheren Instanz, einer bestimmten Norm oder Moral handeln, die über sein Tun zu entscheiden hat. Das macht einem die Figuren mitunter fremd aber eben auch extrem faszinierend. Allesamt sinnt sie Zweifler und Eigenbrötler. Solstad beherrscht die Sprache perfekt und bereichert sie mit philosophischen und moralischen Fragestellungen.

Cover des Buches Wie alle anderen (ISBN: 9783813507140)

Bewertung zu "Wie alle anderen" von John Burnside

Wie alle anderen
MarinaBvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Sprachlich und inhaltlich grandios!
Cover des Buches Hiltu und Ragnar (ISBN: 9783945370056)

Bewertung zu "Hiltu und Ragnar" von Frans Eemil Sillanpää

Hiltu und Ragnar
MarinaBvor 7 Jahren
Cover des Buches Zeichnungen (ISBN: 9783104034751)

Bewertung zu "Zeichnungen" von Reinhard Kaiser-Mühlecker

Zeichnungen
MarinaBvor 7 Jahren
Cover des Buches Null K (ISBN: 9783462049459)

Bewertung zu "Null K" von Don DeLillo

Null K
MarinaBvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Grandioser Roman des großen amerikanischen Erzählers
Auf dem Weg in die Unsterblichkeit?

„Unsere Gutenachtgeschichte heißt Katastrophe.“

Der neue Roman des bereits 79-jährigen großen amerikanischen Erzählers ließ mich frösteln, es ist eine Geschichte, die einiges Unbehagen auslösen kann. Das liegt am Szenario, an der sterilen unterkühlten Atmosphäre, die der Autor in dieser Geschichte herrschen lässt, die den Leser gleichzeitig auf Abstand hält und unwiderstehlich anzieht. Ein Roman, der über die Maßen viele Fragesätze beinhaltet; die Fragen legt DeLillo seinen Protagonisten in den Mund und somit landen sie auch im Kopf des Lesers, der sich dann unweigerlich selbst damit konfrontiert sieht. Immer geht es dabei um nichts geringeres als Leben und Tod und das Dazwischen, das „Weltsummen“.

Ross Lockhart und sein Sohn Jeffrey sind die Hauptfiguren; erzählt wird aus der Perspektive Jeffreys. Lockhart senior, der in NY als Millionär in einem feinen Stadthaus lebt, ist liiert mit der deutlich jüngeren Artis, die unheilbar krank ist. Artis entschließt sich, in einem Institut namens „Konvergenz“, dass seinen Sitz irgendwo abgeschieden in der russischen Steppe hat und in das Ross einen Teil seines Vermögens investiert, ihren kranken Körper durch Einfrieren konservieren zu lassen. Das Nanotechnologie-Laboratorium bietet Menschen, die es sich leisten können, die Hoffnung, dass es in der Zukunft technische und medizinische Möglichkeiten gibt, sie wieder zu erwecken und, womöglich unendlich, weiterleben zu lassen.

„Sie sprach stockend über das Wesen der Zeit. Was passiert in der kryonischen Kammer mit der Vorstellung vom Kontinuum – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft? Begreift man noch, was Tage, Jahre, Minuten sind? Oder verringert sich diese Fähigkeit, stirbt sie ab? Wie menschlich ist man ohne sein Zeitgefühl? Menschlicher denn je? Oder wird man fötal, etwas Ungeborenes?“

Ross` Sohn Jeffrey reist an, um sich von Artis zu verabschieden, die seine Stiefmutter ist. Sein Vater hatte Jeffrey und seine Mutter verlassen, als er noch klein war und sich einer anderen Frau zugewandt. Die Beziehung von Vater und Sohn ist nicht einfach. Jeffrey hat einige Verhaltensstörungen und Macken entwickelt, um den Verlust des Vaters zu kompensieren. So begann er in seiner Kindheit zu hinken, um sich abzuheben und gesehen zu werden. Bis ins Erwachsenenalter haben sich gewisse Zwangshandlungen erhalten; er überprüft beispielsweise mehrfach, ob der Herd wirklich aus ist oder die Tür abgeschlossen, wenn er die Wohnung verlässt und erfindet für manche Menschen neue, passendere Namen. Auch der Vater hatte seinerzeit einen anderen, härter klingenden Namen angenommen, mit dem er glaubte, erfolgreicher zu sein.

Zwei Jahre nach Artis` Kryokonservierung entschließt sich Jeffreys Vater, der aus Trauer um den Verlust seiner Frau, nicht mehr leben will, freiwillig Artis zu folgen – mit ihr in eine mögliche Zukunft zu gehen. So begleitet der Sohn erneut den Vater, der ihn nun ein zweites Mal verlassen will, an diesen seltsamen Ort der Zeitlosigkeit.

DeLillo schickt den Leser in die „Konvergenz“, einen Ort, der an Szenen aus Raumschiff Enterprise oder Odyssee im Weltraum erinnert. Ziellos wie die Hauptfigur, fühlt man sich auch als Leser gefangen in einem undurchdringlichen Labyrinth. Thematisch beschäftigt sich der Roman mit ähnlichen Ideen von der Unsterblichkeit des Menschen wie Thea Dorns Roman Die Unglückseligen". Sprachlich gehört er allerdings in eine andere, höhere Dimension ..
Bisweilen entfaltet sich darin auch eine Art Spiritualität – kurze Momente menschlicher Verbundenheit – Alleinssein. Der Roman strahlt dennoch vorwiegend eine Atmosphäre der Kälte aus. Das eisige Thema in Sprache zu übertragen ist DeLillo bravourös gelungen.
Ein Leuchten!


Cover des Buches Die Jahre im Zoo (ISBN: 9783518424919)

Bewertung zu "Die Jahre im Zoo" von Durs Grünbein

Die Jahre im Zoo
MarinaBvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Große Literatur! Der Lyriker Durs Grünbein erzählt...
Durs Grünbein erzählt...

Es war für mich eine ganz große Lektüre! Da verteilt sich die Sprache des Dichters in biografischen Erinnerungen und zeigt eine besondere, eigene Ansicht auf seine Heimatstadt Dresden. Es ist ein sehr persönliches Buch und es weist auf ganz andere Seiten des Lyrikers Grünbein hin, die in seinen Gedichten nicht unbedingt durchscheinen.

Biografie könnte man es nennen, es geht um Kindheits- und Jugenderlebnisse, im Untertitel heißt es Kaleidoskop. Das passt insofern auch, als das Buch tatsächlich Bilder enthält, alte Aufnahmen, die ich im Grunde gar nicht für wichtig halte. Ich empfinde es als ein Buch der Erinnerungen, dass ganz eigene Bilder erzeugt, durch die Erzählweise. Die dazwischen eingefügten lyrischen Sequenzen passen hervorragend dazu. Wie die Elbe durch Dresden, mäandert Grünbein durch Erlebtes. Er gleitet von Gedanken zu Gedanken, geht dabei keineswegs chronologisch vor, dennoch wirkt die Erzählung nie sprunghaft, sondern wie ein ruhiger Fluß. So erzählt er uns zu Beginn beispielsweise von Spaziergängen des kleinen Kindes mit dem Großvater durch Cotta, dem ersten Zuhause, zum Ostragehege.

“Mir ist das Bild vom großen Gehege in der Abenddämmerung jedenfalls nie aus dem Kopf gegangen. Ich sah darin den Fingerzeig auf ein in Unfreiheit begonnenes Leben und eine Bevölkerung, die man umzäunt hatte, eingefriedet wie eine besondere Sorte Zuchtvieh, friedliche Kühe, mit denen die staatlichen Heger und Hirten noch einiges vorhatten.”

Grünbein, Jahrgang 1962, ist in Hellerau aufgewachsen, einem Teil Dresdens, der auch Gartenstadt genannt wurde und die nach den Ideen einer Reformbewegung  entstanden war, die Arbeit, Bildung, Kunst und Kultur verbinden wollte. So entstand damals eine Möbelwerkstätte und das jetzige Festspielhaus Hellerau, wo beispielsweise auch die bekannte Tänzerin Pallucca wirkte. Bis sich ab 1933 alles änderte…
So wie Grünbein von Hellerau erzählt, erscheint es einem als friedlicher Stadtteil, beinahe dörflich im Grünen (hinter dem allerdings auch eine große Müllkippe schwelt). Während die Eltern arbeiten gehen und Haus und Garten hegen, beginnt das recht träumerische Kind seine Umwelt zu entdecken, mit den wenigen Freunden, aber auch oft einzelgängerisch.

“Es waren Menschen, die sich wie Schnecken zurückgezogen hatten in ihre Privatsphäre, Menschen, abgeschnitten von aller Weltöffentlichkeit, amputiert, vollständig losgelöst von der eigenen Vergangenheit. Die wenigsten hatten noch eine Vorstellung davon, was sich hier einmal ereignet hatte, was hier erträumt, geplant, gegen den Widerstand vieler erstritten worden war.”

Grünbein erzählt in feinster Sprache von seinem unerfüllbaren Wunsch zur See zu fahren, von Jungsabenteuern, vom verbotenen Karl-May-Lesen, vom ersten Kuss, von Fahrradtouren bis ins Tschechische, von Bahnhöfen, von der Suche nach Kafkas Grab in Prag als Jugendlicher, vom verehrten Lyriker Gottfried Benn, der zuzeiten kurz in Hellerau lebte, so wie auch Kafka, kurz vor der Auflösung der Verlobung mit Felice Hellerau einen Besuch abstattete.
Er driftet durch die unterschiedlichen Epochen, zeigt die jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten auf. So ergibt sich ein spannender Blick auf Dresden(vor allem auch, wenn man bereits Uwe Tellkamps “Der Turm” oder Peter Richters “89/90” oder Thomas Rosenlöchers “Die verkauften Pflastersteine” kennt).

Und zu guter letzt berichtet Grünbein von der Initiation zum Schreiben. Ob den Grundstein der Großvater in Gotha legte, der Kreuzworträtselhersteller, der das Sprachgefühl und die Lust auf Worte weckte? Das Schreiben, das Türen im Kopf öffnet und Weite schafft, die es im Zoo hinter Gitterstäben sonst nicht gibt…

“Poetologisch betrachtet, war dies der erste Schritt in jenes ungeheure Neuland der Imagination, in dem der Dichter, diese ewig fluchtbereite, überall deplazierte Person noch am ehesten heimisch wird.”


Cover des Buches Euphoria (ISBN: 9783406682032)

Bewertung zu "Euphoria" von Lily King

Euphoria
MarinaBvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Exotischer Hintergrund, gute Story, sprachlich gelungen!
Auf in die Tropen...

Lily Kings Roman “Euphoria” ist kurzweilig und er ist in allem stimmig. Ein exotischer Hintergrund mit einer guten Story gepaart, sprachlich gelungen in ästhetisch schöner Aufmachung! Ein farbenprächtiges Buch für einen trüben Wintertag!

Die Reise geht in die Tropen nach Neuguinea und von Anfang an taucht der Leser in diese fremde, faszinierende, abenteuerliche Welt ein. Die Geschichte spielt Anfang der 30er Jahre. Hauptprotagonistin ist Nell Stone, eine amerikanische Anthropologin, die an die tatsächlich existierende Person der Ethnologin Margaret Mead angelehnt ist. Mit ihrem Ehemann, dem Australier Fen, lebt die bereits durch eine Buchveröffentlichung bekannt gewordene Nell bei verschiedenen Stämmen am Fluß Sepik und erforscht die Verhaltensweisen der Bewohner eines aggressiven Stammes, bei dem Nell sich aber bald nicht mehr sicher fühlt. Das Verhältnis zwischen dem Ehepaar ist nach der langen Zeit in der Wildnis angespannt, auch weil Nell, die sich dringlich ein Kind wünscht, noch wegen einer Fehlgeburt leidet. Als Bankson, ein britischer Forscher in ihrem Leben auftaucht, wird die Situation ordentlich aufgemischt. Er bringt sie, die sie schon auf der Rückreise Richtung Australien waren, zu einem Stamm, der in einem ihm bekannten Gebiet liegt, und Nell gewinnt rasch das Vertrauen der Dorfbewohnerinnen. Gerade die Frauen scheinen hier bei den “Tams” die Gemeinschaft stark zu prägen, was Nell erfreut als neuen Aspekt in ihre Forschung mit einbezieht.

“Ich erfasse die Beziehungen unter den Frauen, die Sympathien & Antipathien im Raum auf eine Weise, wie ich es über die Sprache nie könnte. Im Grunde behindert die Sprache die Kommunikation, merke ich immer wieder, sie steht im Weg wie ein zu dominanter Sinn. Man achtet viel stärker auf alles Übrige, wenn man keine Worte versteht. Sobald das Verstehen einsetzt, fällt so viel anderes weg. Man beginnt sich ganz auf die Worte zu verlassen, aber Worte sind eben nur bedingt verlässlich.”

Bei Banksons Besuchen entstehen erste erotische Spannungen. Der Brite ist einsam und hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich und das Paar ist von ihm sofort eingenommen, aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Nell und Bankson scheinen Verwandte im Geiste zu sein, sie fühlen sich unwiderstehlich zueinander hingezogen und beflügeln sich gegenseitig in ihrer Arbeit. Fen hingegen fühlt sich sehr schnell ausgebootet. Als dieser ein risikoreiches Unterfangen startet, um Nell zu übertrumpfen und endlich größeren Ruhm als Anthropologe zu erlangen, geschieht Unvorhergesehenes mit weitreichenden Folgen…

Lily King hat genau recherchiert, schafft es zwischenmenschliche Beziehungen, auch Unterschwelliges, extrem gut zu beschreiben und dadurch Spannung zu erzeugen. Seien es die Verhältnisse zwischen den “Zivilisierten”, seien es die Verhaltensweisen der einheimischen “Wilden”, es gelingt ihr zu überzeugen.  Für mich ist solch ein Buch immer dann gut, wenn ich Lust bekomme, mehr über die Thematik zu erfahren und selbst zu forschen beginnen möchte. 


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