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MarkusDittrich

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Cover des Buches Poetik (ISBN: 9783150078280)

Bewertung zu "Poetik" von Aristoteles

Poetik
MarkusDittrichvor 5 Jahren
Kurzmeinung: Das wichtigste Werk der Dramaturgie.
Sultans of Storytelling

In Umberto Ecos Der Name der Rose löst ein geheimnisvolles Buch eine Serie von Morden aus. Die Serienkiller-Geschichte im späten Mittelalter spielt in einem Kloster, das für seine Bibliothek berühmt ist, seine Bücher aber streng unter Verschluss hält. Denn es gibt hier alles, was sonst nicht erlaubt ist: Werke von Alchimisten, Schwarzmagiern, arabischen Gelehrten, ja sogar ketzerische Schriften wie jene des Fra Dolcino, den die Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat. Das Kloster – so das Credo der Mönche – bewahre Zeugnisse der Wahrheit wie der Lüge.

Doch ein Buch ist so gefährlich, dass seine Geheimhaltung nicht nur eine bizarre Mordserie verursacht, sondern am Ende die Vernichtung des ganzen Klosters durch Feuer nach sich zieht.

Das Necronimicon? Keineswegs. Nur ein Buch über die Komödie, genauer gesagt der zweite Teil der Poetik des Aristoteles. Dieses Buch ist tatsächlich verschollen und war es meines Wissens nach schon 1327, also zu der Zeit, in der Ecos Roman spielt. Bis heute gibt es Stimmen, die behaupten, es habe nie existiert.

Glücklicherweise hat der erste Teil der Poetik aber nicht nur überlebt, sondern ist nach wie vor ein Standardwerk der Dramaturgie. Die Poetik des Aristoteles stellt so etwas wie das erste „How to write a screenplay“ der Menschheitsgeschichte dar, geschrieben vor über zweitausendfünfhundert Jahren. Es ist das allererste Zeugnis einer systematischen Betrachtung von Struktur und Wirkung des Geschichtenerzählens, von der wir wissen.

Die Überraschung ist nun, dass die konkreten Tipps und Kniffe in der Poetik heute noch bestechen. Steckt ein Autor mal wieder in einer development hell – und das passiert den Besten von uns – braucht er nur bei Aristoteles nachzulesen, und das Bild wird wieder klar. Egal ob es um ein Script, einen Roman oder nur um einen guten Witz geht (okay, für letzteres wäre der verschollene zweite Teil vielleicht besser gewesen).

Das Wesentliche was Aristoteles sagt, sollten sich Autoren auch heute noch hinter die Ohren schreiben. Einige Beispiele:

„Die Fabel des Stücks ist nicht schon dann – wie einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht.“

„Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse.“

„Die gute Fabel muss also eher einfach sein (…) und sie darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern muss vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen.“

 „Die Peripetie [Wendepunkt] ist (…) der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar (…) gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit.“

„Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“

Das zur story structure. Und zu den Inhalten:

„Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich (…) dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung.“

 „Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Naheverhätnissen ereignet (z.B. ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter) – nach diesen Fällen muss man Ausschau halten.“

Aristoteles kannte kein Internet, kein Fernsehen, kein Kino, auch der Roman im heutigen Sinne war noch nicht erfunden. Die Welt war jung. Noch war es nicht lange her, dass sich der Mythos von der Religion abgespalten hatte – und die Fiktion vom Mythos. Die Gedanken waren groß. Vielleicht traf Aristoteles gerade deshalb in den wichtigen Fragen den Nagel auf den Kopf, unverstellter als seine zahlreichen „Follower“ in späteren Jahrhunderten, die bis heute sein Prinzip der sogenannten geschlossenen Dramaturgie bzw. dreiaktigen Struktur zwar nachgebetet, aber nicht wirklich verstanden haben.

Fazit: Wer sich ernsthaft mit dem Schreiben oder Geschichtenerzählen beschäftigen will, der sollte dieses Buch lesen, bevor die große Bibliothek abbrennt.


Cover des Buches »Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna« (ISBN: 9783596148035)

Bewertung zu "»Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna«" von Fynn

»Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna«
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Mr. Gott, lies dieses Buch!
Kinder sind klüger als wir

Anna, die zentrale Figur dieser ergreifenden Geschichte, ist acht Jahre alt und ein Wesen zwischen Genie, Engel und frecher Göre. Ihren literarischen Vater "Der kleine Prinz" kennen wir als eine Ikone der ganz großen, bewegenden kleinen Form: Allegorie und märchenhafte Poesie in einem. Doch was, wenn eine in der Substanz ganz ähnliche Geschichte in einem realistischen Milieu spielt, zwischen Industriegleisen, scheißenden Pferden, Straßenmädchen, komischen Todesfällen und Arbeitern, die sich nach Feierabend ihre Pint gönnen? Das Buch wirkt in seiner brillanten Schreibe so echt, dass ich zu diesem Zeitpunkt, da ich dies hier schreibe, nicht einmal genau sagen kann, ob es sich doch "nur" um einen erfundenen Roman oder um die Nacherzählung wirklichen Geschehens handelt. Und die erstaunliche erste Erkenntnis beim Lesen ist: Es ist egal!
Die Geschichte ist leicht erzählt. Der junge Physikstudent Fynn liest bei einem seiner nächtlichen Spaziergänge am Hafen ein verwahrlostes, hungerndes Kind auf. Spontan schließen die beiden beim Wurstessen Freundschaft und sind seither unzertrennlich. Fynn nimmt Anna mit nachhause, wo seine Familie sie aufnimmt, als allen klar wird, dass ihre leiblichen Eltern sie misshandelt haben. 
Was für ein Aufhänger!
Doch überragend wird das Buch, weil es nicht am Punkt der Anklage stehen bleibt. Anna ist zu stark. Es ist Annas Neugier, Einfallsreichtum und Vitalität, die nicht nur Fynns Leben zum Besseren ändert, sondern ihn darüber hinaus lehrt, die Dinge des Lebens, der Natur, der Zahlen, der Musik, einfach allem, was wichtig ist - letztlich also jene Entität, die sie als "Mr. Gott" bezeichnet - mit anderen Augen zu sehen. Anna lehrt Fynn, und damit uns, dass jeder Mensch auf unendlich viele Fragen schon die Antworten weiss.
Fazit: Wer dieses Buch nicht liebt, sollte mal zum Arzt gehen...

Cover des Buches Fragt mal Alice von Anonym (2001) Taschenbuch (ISBN: B00HLQ8B70)

Bewertung zu "Fragt mal Alice von Anonym (2001) Taschenbuch" von Anonym

Fragt mal Alice von Anonym (2001) Taschenbuch
MarkusDittrichvor 9 Jahren
Kurzmeinung: Drogenkarriere eines Kindes, die an die Nieren geht.
Eine Geschichte von Drogen und Unschuld

Man sagt, nicht der Schriftsteller suche sich die Figuren aus, sondern die Figuren den Schriftsteller. Das stimmt! Dass sich allerdings Bücher (und die Figuren darin) ihre Leser aussuchen, das ist mir so zum ersten Mal passiert.
Frag mal Alice lag zusammen mit einem anderen Haufen verweister Bücher auf einer Bank im Freien, wo es jemand beim Entrümpeln hingelegt hat. Ich nahm das Buch mit und fing an darin zu blättern – um unvermutet eine herzzerreißende Story zu finden: Die Geschichte vom Verlust der Unschuld.
Das Buch ist, laut Klappentext, ein authentisches Dokument, daher wird auch der Name der Ich-Erzählerin niemals genannt (Alice ist ein Verweis auf Alice im Wunderland).
In Tagebuch-Form beschreibt das gerade 15 gewordene Mädchen in lebhafter, noch sehr kindlicher Sprache ihre Welt, ihr Zuhause, die typischen „kleinen“ Glücksmomente und Sorgen des Erwachsenwerdens. Kein Klischee vom asozialen Zuhause mit Alk-Vater und Depri-Mutter. Sie wächst behütet auf, vielleicht zu behütet, hat liebevolle Eltern, Geschwister, Großeltern.
Beim Besuch einer Party wird sie Opfer eines derben Junior-Scherzes: Nach dem Russischen-Roulette-Prinzip geben die Jungen einigen ahnungslosen Mädchen „etwas“ in die Cola, anderen nicht. Am nächsten Tag geht sie wieder hin... Und wieder... Und schon nach ein paar Seiten merkt man an der Sprache des Tagebuchs, mehr als an den Ereignissen selbst, wie sich die heile Welt des Mädchens allmählich von innen zersetzt. Plötzlich – und viel zu früh – redet sie von Bullen und Ficken, plötzlich ist nicht mehr der erste Kuss das Thema, sondern die benebelte Gruppensexorgie unter LSD.
Der Prozess geht über zwei Jahre, in denen die Kleine immer krasser zwischen verlorener Kindheit und „erwachsener“ Verwahrlosung, zwischen Heim und Flucht hin und herschwankt. Sie läuft von Zuhause weg, kommt zurück, darf eine Zeitlang wieder Kind sein, bricht erneut aus, lebt auf der Straße.
Das Buch geht an die Nieren, weil es so anschaulich die Zerstörung eines Kindes durch Drogen beschreibt. Und nebenbei, in diesem Licht wird die alte „intellektuelle Lüge“ (Stephen King) restlos entlarvt, sich selbst mit Sucht zu zerstören sei heroisch oder habe etwas mit Freiheit zu tun (und dass das klar ist: Mir ist scheißegal, welche Droge, ob legal oder nicht). Das Kind in diesem Tagebuch, das für viele Kinder steht, ist tatsächlich heroisch und etwas Besonderes; aber trotz seiner Sucht, nicht durch sie!
Der einzige Wermutstropfen dieses Buches liegt darin, dass es Zweifel an seiner Echtheit gibt. 1971 herausgegeben von einer Ärztin, die viel mit Jugendlichen zu tun hatte, hält sich leider unwiderlegt (allerdings auch unbewiesen) das Gerücht, die ganze Sache sei erfunden. Paradox genug: Fast wünschte ich, es wäre so.

Cover des Buches Wurzeln - Roots- (ISBN: B004BFG97I)

Bewertung zu "Wurzeln - Roots-" von Alex Haley

Wurzeln - Roots-
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Große Familiengeschichte mit historischer Dimension.
Schwarz und stolz

Fight the Power sangen Public Enemy 1989. Für mich ist dieser Track nicht nur die beste Rap-Nummer aller Zeiten (jawohl, besser als Rappers Delight, denkt was ihr wollt!), auch musikalisch übrigens, sondern vor allem die schwärzeste. „Because I’m black and I’m proud“ ist die Zeile, die es auf den Punkt bringt. Und obwohl ich selbst ungefähr so schwarz bin wie eine Kugel Vanille-Eis mit Sahnehäubchen, jagt mir dieser Song beim Hören doch jedes Mal Schauer über den Rücken. Das mag albern sein, na und?
Als Alex Haley Roots 1976 publizierte, lag Rap noch in der Zukunft. Die Geschichte aber, die Haley erzählt, beschreibt in Form einer Familienchronik das, was bis heute in der schwarze Kultur Amerikas wichtig ist: Das Bewusstsein der eigenen Identität. Vordergründig erzählt Roots dabei einfach in zeitlicher Reihenfolge Haleys eigene Familiengeschichte, angefangen bei seinem Vorfahren Kunta Kinte, geboren 1750, der als freier Afrikaner von touboubs (Weißen) in die Sklaverei verschleppt, über dessen Tochter Kizzy, die von ihrem weißen „Massa“ vergewaltigt wird, über deren Sohn Chicken-George, das Hahnenkampf-Genie, der sich als erster hundert Jahre nach Kunta mit eigenem Geld aus der Sklaverei freikauft, über dessen Sohn Tom, den Schmied, der den Treck der Schwarzen nach Aufhebung der Sklaverei 1865 in ein neues Land führt, wo sie eine neue Stadt gründen – als freie Menschen. Dieser Tom Murray ist Alex Haleys Urgroßvater.
Das Buch ist also sehr umfangreich, es erstreckt sich – in unterschiedlicher Breite – über sieben Generationen in mehr als zweihundert Jahren. Und in all den Jahren erzählen die älteren Mitglieder der Familie den Kindern die Geschichte von ihrem Vorfahren dem „Afrikaner“, der von touboubs verschleppt wurde, als er in den Wald ging um sich Holz für eine Trommel zu schlagen.
Haley, der sich vor Roots schon Lorbeeren mit der Biografie von Malcolm X verdient hatte, hörte die Geschichte selbst als kleiner Junge von der Großmutter und kam irgendwann – als professioneller Autor – auf die Idee, sie zu schreiben. Haley recherchierte zehn Jahre für dieses Buch, wobei diese Recherche sogar eine Schiffsfahrt im Rumpf einschloss – genau wie Kunta im Sklavenschiff vier Monate im Schiffsrumpf transportiert wurde. Literarisch spannend, wenn auch schwierig, ist bei dem Buch der ständige Übergang von romanhafter Form zu historischem Bericht. Vermutlich hat Haley deshalb auf jeden stilistischen Schnickschnack verzichtet und einfach die Geschichte erzählt. Er folgt hier ganz der Tradition seiner Vorfahren; in Kunte Kintes afrikanischer Welt gab (und gibt es meines Wissens bis heute) sogenannte griots, alte Männer, die die jahrhundertelange Geschichte ihrer Stämme mündlich überliefern. Der Höhepunkt Haleys persönlicher Geschichte ist, als er im Zuge seiner Recherche im Dorf Juffure, dem Geburtsort Kuntes, die Bestätigung für das hört, was in seiner Familie seit jeher über „den Afrikaner“ erzählt wurde – aus dem Mund eines griots, der die Geschichte von Kunta Kintes Verschleppung unmöglich wo anders herhaben konnte als aus der eigenen Überlieferung. Dieser Moment ist ergreifend. Familienlegende, persönliche Story und historische Wahrheit werden hier eins.
Lesen!

Cover des Buches Das Hotel New Hampshire (ISBN: 9783257016307)

Bewertung zu "Das Hotel New Hampshire" von John Irving

Das Hotel New Hampshire
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Fast so verrückt wie meine Familie. Grandios!
Besessen bleiben

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.“ So beginnt Anna Karenina von Leo Tolstoi. Tatsächlich scheint es einer der schwierigsten Übungen für einen Schriftsteller zu sein, über das Glück zu schreiben, besonders über das Glück einer Familie. Heulen, Zähneklappern, Muttermord und Vaterhass sind allemal besser geeignet, den Leser bei der Stange zu halten. Und mal ehrlich – glaubwürdiger ist es auch.
John Irving ist es gelungen, eine liebenswerte und im Grunde glückliche Familie zu beschreiben, ohne zu „menscheln“. Der Kunstgriff ist simpel: Es ist zwar eine Familie, die wie Pech und Schwefel zusammenhält und das Leben liebt, aber jeder hat einen Sockenschuss - der Ich-Erzähler John und die Mutter vielleicht ausgenommen. Angefangen mit Iowa-Bob, dem Großvater und Baseball-Coach, der noch im hohen Alter Hanteln stemmt und den Wahlspruch beisteuert, man müsse besessen sein und besessen bleiben; seinem Sohn, dem ewigen Kind, dessen einziger Traum ist, ein tolles Hotel zu führen; dem ältesten Sohn Frank, dem Taxidermisten und Uniformliebhaber und – wie er selbst sagt – der Tunte; die quirlige Franny, die die Kinder anführt und „verfickt noch mal“ kein Blatt vor den Mund nimmt; die kleine Lilly, die ähnlich wie Oskar Matzerath eines Tages aufhört zu wachsen und als eine Art erwachsenes Kind zur erfolgreichen Schriftstellerin wird; der kleine Egg („Ei“) der fast taub ist und auf jede Frage „Was?“ antwortet. Schließlich John, der die ganze Geschichte erzählt und ganz offen in seine Schwester Franny verknallt ist (und sie in ihn!). Als sie „es“ nach Jahren endlich tun, kommen sie zehn Stunden nicht aus dem Bett – und man muss schmunzeln, so sehr hat Irving seinen Stoff im Griff. Sex zwischen Bruder und Schwester wurde nirgends so lustig, so leicht und so unschuldig beschrieben wie hier.
Der Roman erzählt das Leben der Familie von den 1940er bis in die späten 1960er Jahre. Eine Familie von Hotelbetreibern, wobei keines der Hotels ein echtes Hotel ist, sondern eher die Karikatur eines Hotels (zuerst in einer alten Schule, dann in einem Bordell, dann in einer Ruine). Es geschehen auch nicht nur nette Dinge: Franny, in ihrer Zeit als Cheerleaderin, wird von einem Baseball-Platzhirsch vergewaltigt, den sie hasst und heimlich liebt; Egg und die Mutter sterben bei einem Flugzeugabsturz, als die Familie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien umsiedelt. Der Zusammenhalt der verrückten Familie von der Nachkriegszeit bis zur beginnenden Hippie-Ära ist bestechend in seinem Charme. Als Sahnehäubchen tauchen jede Menge anderer skurriler Figuren und Episoden auf, etwa der dressierte Bär, der falsche Bär (der eigentlich ein Mädchen ist), der blinde Freud, NICHT identisch mit Sigmund, die verrückte Hure Kreisch-Annie, benannt nach ihren Orgasmen. Anarchisten, Prostituierte, Baseballspieler, schwarze Aktivisten und der Familenhund „Kummer“ (!), der zuerst als lebendiges Wesen, dann als Ausgestopfter bei allem dabei ist.
Kurz, Irving greift volle Pulle ins Leben, weniger verzagt als man es bei einem Buch dieser stilistischen Kategorie erwartet, und ich glaube, das war es vor allem, was seinen Erfolg ausgemacht hat. Ich selbst war aber zuerst verwirrt, da sich dieses Buch hunderte von Seiten einer großen Story verweigert und nur Anekdoten erzählt, die durch die Figuren, die Zeit und Familien-Insider verbunden sind („Bleib immer weg von offenen Fenstern.“). Seltsam genug, schien Irving das sogar zu wissen. Im Roman schreibt Lilly nämlich ein Buch, mit dem sie kreuzunglücklich ist. Und zwar deshalb: „... was Lilly an dem Buch am meisten hasste – (...) daß es keine durchgehende Handlung hatte...“ (Seite 557). Die Überraschung ist dabei, dass ich Das Hotel New Hampshire – das ich etwa die ersten 100 Seiten eher nervig fand – etwa ab dem ersten Drittel mochte und gegen Ende anfing zu lieben. Und als ich es richtig doll liebte – da hatte ich die letzte Seite erreicht.
Ein bisschen wie das Leben, oder?

Cover des Buches Groucho und ich (ISBN: 9783442722273)

Bewertung zu "Groucho und ich" von Groucho Marx

Groucho und ich
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Vergesst Karl Marx - hört auf Groucho!
Willkommen im Club

„Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie“ schrieb Karl Marx 1844. Aber um diesen Komiker geht es heute nicht, sondern um die Marx Brothers, vor allem um Groucho Marx, dem Mann mit dem Witz, dem komischen Gang und dem aufgemalten Schurrbart, dem Querkopf und neben Harpo wohl bekanntesten Marx (außer Karl, aber den Gag hatte ich schon).
Groucho und ich - im Original Groucho an me - ist keine typische Autobiografie, erst recht keine typische Promi-Lebensbeichte. Groucho war ein Genie des Wortwitzes. Entsprechend schreibt er im Stil bester Stand Up Comedy respektlos über Themen wie Liebe zu Autos, Idiotenjobs, Frauen und Sex, seinem fatalen Hang (und dem heimlichen Vergnügen) ins Fettnäpfchen zu treten, die Mischpoke, Geldverdienen, zurück zur Natur usw. Im Zuge dessen erfahren wir quasi nebenbei Fakten aus seinem Leben: Grouchos Kindheit in einfachen bis armen Verhältnissen, mit fünf verrückten Brüdern (und den noch ein ganzes Stück verrückteren Eltern), der Aufstieg der Marx Brothers von der Kellerloch-Komikertruppe zu Broadway-Stars, nach jahrelangem Tingeln durch billige Spelunken und Varietés. Dann der Sprung nach Hollywood, der Groucho, Chico und Harpo wider Erwarten nicht das Genick bricht, sondern sie noch größer macht. Da sie nicht nur komisch sondern auch musikalisch sein konnten (inklusive anarchister Zerstörung der Instrumente nach der Coda!), hatten sie im damals neuen Tonfilm die Nase vorn. Bis heute lache ich Tränen bei Filmen wie Duck Soup (Die Marx Brothers im Krieg) oder A Night At the Opera. Ein besonderes Schmankerl für Filmfreunde ist Grouchos Briefwechsel mit Jack Warner. Der Film-Mogul wollte den Titel Die Marx Brothers in Casablanca verbieten lassen, da Warner Brothers Casablanca vertrieb. Wie Groucho hier den mächtigen Studioboss nach Strich und Faden verarscht, ist einfach nur großartig.
Später gibt es auch Kapitel über den nun schon älteren Groucho, zum Beispiel über seine damals pubertierende Tochter Melinda, die für eine Party seine Bude auf den Kopf stellt, und über Grouchos erfolgreiche Fernsehsendung You Bet Your Life, die bis heute DAS Vorbild für Late-Night-Formate sein sollte.
Dieses Buch ist ein Must-Have für jeden, der sich für Komik interessiert. Nebenbei sei gesagt, dass es leider noch eine ältere Übersetzung von Groucho an me gibt, unter dem dämlichen Titel Schule des Lächelns. Die nicht kaufen, ok? Hier ist vieles abgemildert, es fehlen Teile, ja ganze Kapitel. Den Mut den Groucho bei manchen heißen Eisen (wie Sex oder Religion) schon 1959 aufbrachte, als er das Buch schrieb, ging den damaligen Übersetzern wohl zu weit. Daher mag ich meine Hand nur für das Original oder die vorliegende deutsche Fassung (übersetzt von Sven Böttcher) ins Feuer legen. Grouchos vielleicht berühmtester Spruch war: „Ich möchte keinem Club angehören, der Leute wie mich aufnimmt.“
Willkommen im Club.

Cover des Buches Fool (ISBN: 9783442542598)

Bewertung zu "Fool" von Christopher Moore

Fool
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Shakespeare würde das Buch lieben!
Shakespeare trifft Monty Python

Was, wenn der klassische Narr der Shakespeare-Bühne einmal selbst zum Held einer Story wird? Eine Idee, so simpel und bestechend, dass Christopher Moore allein dafür jeden Dollar verdient hat, den das Buch hoffentlich gemacht hat. Warum der Narr? „Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere“ schreibt Orwell in Die Farm der Tiere. Ich sage: Narren sind wir alle, aber einige sind närrischer als andere. Figuren wie Shakespeares Narr, wie Goldonis Truffaldino, wie die Figuren Molières, wie Dostojewskis Idiot, wie Chaplins Tramp, wie Woody Allens frühe Figuren oder wie Winston Grooms Forrest Gump, um nur einige zu nennen sind – paradox genug – oft mehr Mensch als wir, der traurige Rest, der sich genervt um Normalität bemüht. Auf einer Tarotkarte sieht man den Narren mit zerrissenen Klamotten am Abgrund entlang gehen, ein Hund beißt ihm in den Hintern, doch sein Blick ist fröhlich. Man braucht wenig Fantasie um zu ahnen, dass ihm niemals etwas passieren wird. Tatsächlich ist der Narr im Tarot die einzige Figur, die am Ende mehr Magie besitzt als der Magier selbst.
Was also, wenn man König Lear von Shakespeare nimmt und den (fast) gleichen Grundplot aus der Perspektive des Narren erzählt, der im Original nur der Sidekick ist, der Joker, der Witze und Possen reißt, wo andere bluten, sich verraten und leiden? Christopher Moore hat es getan, und es ist ein witziges Stück Literatur dabei herausgekommen. Verblüffenderweise eines, das sich leicht und unterhaltsam lesen lässt.
Der kleinwüchsige, hochintelligente und begabte Narr Pocket wird in diesem Roman zum heimlichen Strippenzieher, Weisen, Frauenbeglücker, Hexenbändiger und Held in einem. Pocket ist Narr am Hofe König Lears, einem harten, jedoch senil werdenden König. Lear will „in Rente“ und daher sein Reich unter den drei Töchtern aufteilen. Als er sie deswegen fragt, welche ihn am meisten liebt, überschlagen sich die beiden älteren in Lobhudeleien. Nur Cordelia, die jüngste und Pockets heimliche Angebetete, bleibt ehrlich und sagt nichts. Lear verstößt Cordelia. Nachdem die anderen Töchter das Reich und die Macht an sich gerissen haben, kommt Lear sowohl geistig als auch sozial auf den Hund. Pocket, der mit einer Art Hassliebe an dem alten König hängt (Lear hatte ihn damals aus der Gosse gerettet), hilft dem Alten, dabei verfolgt er jedoch eigene Pläne. Gleichzeitig erzählt er uns von seiner eigenen Kindheit als Findelkind im Kloster, seiner Jugend als wanderndem Gaukler, seiner heimlichen Liebe zu Cordelia und seiner Bestimmung.
Pocket als Ich-Erzähler spricht zu uns dabei in einer derben, pointierten, schwarzhumorigen, mittelalterlich wirkenden Sprache. Es wird geprügelt, gevögelt, geeitert, das Fleisch zuckt, es pestiliert und donnert im sprachlichen Gebälk – um uns dann bei heruntergelassener Hose mit plötzlicher Weisheit zu überraschen.
Am ehesten kann man den Tonfall des Buches mit dem der frühen Monty Python-Filme vergleichen (Moore wird’s mir vergeben; er selbst erwähnt die geniale Komiker-Truppe in seiner Danksagung als Inspiration). Fool ist also kein historischer Roman im eigentlichen Sinne; vieles ist sogar historisch falsch, wie Moore freimütig zugibt. Das Buch erzählt die Tragödie Lears aus einer komischen Perspektive und schafft es dann, den komischen Erzähler selbst zu einem Menschen aus Fleisch und Blut zu machen, der uns am Herzen liegt.

Cover des Buches Klapsmühle (ISBN: 9783499242694)

Bewertung zu "Klapsmühle" von Jim Knipfel

Klapsmühle
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Eine wahre Geschichte, stark wie ein Roman! Lesen!
Narren sind wir alle!

Das Thema Verrückte lässt mich nicht los. Warum gelten manche Menschen als „psychisch krank“ und andere nicht? Warum gelten Religion, politischer Fanatismus oder auch nur kollektiver Wahn beim WM-Spiel als normal, Halluzinationen und Wut dagegen nicht? Die gängige Antwort ist, dass Verrückte unter ihrer Psyche leiden (und andere leiden lassen), Normale hingegen nicht. Also mal ehrlich; jetzt sollte jeder mal sein eigenes normales Leben betrachten...
Das Buch handelt von Jim Knipfel, der ein halbes Jahr in die Geschlossene kommt. Knipfel ist kein erfundener Romanheld – obwohl der Name des glauben lässt – sondern Autor und reale Figur in einem. Das Buch ist kein Roman, es ist ein subjektiver Bericht, jedoch in der Art der Szenen, dem Detailreichtum und Witz ein Buch, dass es stilistisch mit Einer flog über das Kuckucksnest aufnehmen kann. Ein Lesegenuss, der einen vergessen lässt, dass man „nur“ einen Bericht liest.
Das ständige, unausgesprochene Thema ist der Grenzgang von Irresein und Normalsein. Jim Knipfel erlebt beides, oft in unentwirrbarer Verzahnung: Wahn und Wirklichkeit, Realität und Raserei. Knipfel ist ein junger New Yorker Intellektueller aus liebevollem Elternhaus, begabter Student der Philosophie, arm zwar, aber immerhin schon erfolgreich Tutor für jüngere Studenten (Philosophie scheint eine typische Irren-Wissenschaft zu sein: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, dem ein IQ von schlappen 200 nachgesagt wurde, endete ebenfalls im Irrenhaus). Nach einem verdeckten Selbstmordversuch mit Tabletten – Knipfel wollte ihn wie ein Unfall aussehen lassen, um seinen Eltern den Schmerz zu ersparen – kommt er in die Geschlossene Abteilung. Er glaubt zunächst, dass er bald wieder gehen kann und macht sich nicht einmal die Mühe, das Anstalthemdchen anzuziehen. Doch dann hält man ihn für Monate fest. Er erlebt den Psychiatriealltag mit der gesteigerten Wahrnehmung des Übersensiblen. Das absurde System der Essens-, Zigaretten- und Tablettenausgabe, das hässliche Zimmer, die Pfleger, die mal scheiße nett und dann wieder kaltschnäuzig sind, die 10 Minuten „Therapie“ beim gelangweilten Doktor einmal die Woche; die anderen, schon viel tiefer in die Finsternis abgetauchten Patienten. Das allein ist schon lesenswert, aber seine Kraft bekommt das Buch durch die Kapitel, in denen der Autor Knipfel die „Halluzinationsreisen“ des Patienten Knipfel beschreibt – denn im Erzählen dieser grandiosen Fantasien werden beide Knipfels einen Moment lang zu einer unentwirrbaren Einheit. Beide beschäftigt letztlich über das Ende des Buches hinaus das Rätsel, was genau diese Halluzinationen eigentlich sind.
Knipfels Größe – und die des Buches - liegt gleichwohl darin, dass er uns nichts vormacht. Er ist kein „aus Versehen“ Eingesperrter, es ist kein Verwechslungs-Plot wie im Horrorfilm, der Mann, der Außerirdische oder Geister gesehen hat, die es wirklich gibt und dem keiner glaubt. Nein, Knipfel ist hier ganz und gar realistisch. Er sieht Dinge, die nicht da sind, er ist von paranoider Wut erfüllt, er hat irrationale Ängste, etwa dass Blumen und Topfpflanzen ihn angreifen. Er weiß, dass er spinnt. Doch genau dieser Mann beschreibt als humorvoller Ich-Erzähler mit spitzer, ironischer Feder, wie hilflos die Normalen angesichts der Irren, wie sinnlos die Verwahrung in der Anstalt ist. Dass kaum sie es war, die ihn, Knipfel, letztlich wieder auftauchen ließ.
Und hier liegt auch die Grenze des Buches, wenn man es mit dem Anspruch an das große Drama betrachtet. Ohne spoilern zu wollen kann man sagen, dass die Auflösung (soll ich Erlösung sagen?) der Story kein dicker Knall, keine Epiphanie, keine besondere Erkenntnis ist – wie etwa beim Kuckucksnest – sondern eher eine ironische Klimax, in der die triviale Realität siegt. Doch immerhin, dieses eine Mal ein Sieg zugunsten des Verrückten. Es bleibt also Hoffnung.

Cover des Buches Tunnel-Menschen (ISBN: 9783861530794)

Bewertung zu "Tunnel-Menschen" von Jennifer Toth

Tunnel-Menschen
MarkusDittrichvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Reise in den Hades - nur real!
Reise in die Finsternis

„Blades Persönlichkeit war von so unergründlicher Tiefe, daß ich ihn nie völlig verstanden habe.“ Blade war schwarz, Blade war obdachlos, Blade lebte im Tunnel und er war Jennifers Freund und Beschützer – zumindest eine Zeitlang.

Als Jennifer Toth Anfang der 1990-er mit gerade mal 24 Jahren frisch von der Universität nach New York kam – sie hatte ihren Magister in Journalismus gemacht -, gab es mehr Obdachlose in dieser Stadt als jemals zuvor. Die Zahl der Schlangensteher vor Asylen, Suppenküchen und sozialen Einrichtungen explodierte.

Toth ist jung; voller Energie und Optimismus. Obendrein besitzt sie offenbar genau jenes kleine Stück Verrücktheit das man braucht, um DAS Thema zu suchen (und darüber zu schreiben), vor dem sich alle anderen fürchten. Toth interessiert sich für Obdachlose, vor allem für die Tunnelmenschen. Zuerst scheint alles nur eine moderne urban legend; offiziell wird die Existenz der Tunnelmenschen von der Polizei geleugnet; selbst für die „normalen“ Obdachlosen umgibt die Tunnel- oder Maulwurfmenschen einen Hauch von Mythos.

Doch als sie sie findet, eröffnet sich ihr eine vollkommen fremde, beängstigende Welt im Dunkeln, eine Welt voller Outsider, Einzelgänger, Kids auf Trebe, Suchtkranker, Psychotiker. Doch Toth findet – oft gerade bei diesen Menschen – bewegende Geschichten, ja Freundschaft. In den Tunneln gibt es nicht nur Verzweifelte; es gibt Graffiti-Künstler, es gibt organisierte Aussteiger in Gruppen, mit eigenen Gesetzen und eigener Moral. Und nichts ist ganz so, wie es scheint. Ein Mann, der eine Ratte in seinem Tunnel brät (und Jennifer höflich davon anbietet), hat Thoreaus Walden dabei und kann seitenlang daraus zitieren. Einer glaubt von sich selbst, er sei der Teufel. Ein anderer – Blade – hilft Jennifer Toth, sich in den Tunneln zurecht zu finden. Toth lernt Blade bei der Arbeit in einer Suppenküche kennen; sie die behütete Weiße aus London, er ein seit der Kindheit auf der Straße lebender Mann, der die Welt der Obdachlosen genauso gut kennt wie die der crackrauchenden Straßengangs, die oft für wenige Dollar einen Mord begehen. In einer Art erstauntem Respekt freunden sich die beiden an. Blade nennt Jennifer „Kid sis“ (Kleine Schwester), ihm imponiert ihr Mut, er hilft ihr bei ihrer Reise in die Tunnel (Reise ist nicht übertrieben; das Tunnelsystem ist mindestens 1100 Kilometer lang und geht sieben Ebenen tief). Jennifer Toth geht bei der Suche nach Fakten bis auf die Grenze ihrer Kraft und gerät mehr als einmal in Lebensgefahr.

Schließlich sogar durch Blade.

Diese persönliche Beteiligung macht das Buch so stark, aber auch ohne sie hätte Jennifer Toth ein wichtiges Zeitdokument geliefert.

Cover des Buches Die Asche meiner Mutter (ISBN: 9783442741007)

Bewertung zu "Die Asche meiner Mutter" von Frank McCourt

Die Asche meiner Mutter
MarkusDittrichvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Mein Herz. Geniale Schreibe!
Limerick mon amour

Ein Mann aus Frankfurt am Main in Hessen
Der liebte die Frauen und das gute Essen
Erst lud er sie ein
Dann schnitt er sie klein
Dann kochte er Frauen-Ragout in Hessen.

Dies ist mein Versuch eines kleinen Limericks – einer Form, die sowohl in ihrer absurden Komik als auch in ihrem asymmetrischen Versmaß so einzigartig ist, dass sie sogar in anderen Sprachen ihre Eigenart behält. Ich wollte mich mit den Zeilen dreist und ein bisschen vermessen vor dem großen Frank McCourt verbeugen, der seine bitterarme Kindheit nicht nur in Irland, sondern buchstäblich in dem Ort Limerick verbracht und darüber eines der bewegensten Bücher über Kindheit geschrieben hat.

Die Asche meiner Mutter – im Original Angelas Ashes– ist ein Buch, das Schreckliches schön macht, allein durch die Grandiosität der Beschreibung. Der Stil ist so poetisch, dass man bald vergisst, „nur“ eine Biografie zu lesen. Tatsächlich nimmt sich McCourt dichterische Freiheiten heraus, in dem er die Erzählperspektive des eigenen kindlichen Ichs annimmt, was eben auch heißt, ihren Glauben, ihre Naivität, ihre Mystik. Etwa wenn der kleine Frank auf den Stufen der McCourt-Bruchbude mit einem Engel über den Mythos von Cuchulain redet. Spätestens hier wird klar, dass wir es nicht mit dem typisch deutschen Krümelkacker-Verständnis journalistischer oder historischer Wahrheit zu tun haben.

Nein; die Wahrheit ist viel größer. McCourt beschreibt seine irische Kindheit als einen Ort ständiger Bedrohung durch Hunger und Tod, beschreibt in einem meisterhaften Wechsel zwischen Nüchternheit und metaphorischer Bildsprache, wie ein Kind extreme Armut, Tode von Geschwistern, schwere Krankheiten, den saufenden Vater, Dreck, Ungeziefer, die Arroganz der katholischen Kirche, Kälte... kurz, wie ein Kind all diese Dinge erleben, überleben und mit trotzigem Humor verarbeiten kann.

An der Verarbeitung trifft sich das Kind Frank mit dem – nun längst in Amerika lebenden, wohlhabenden, älteren McCourt. Denn Frank McCourt schrieb diese Erinnerungen nach seiner Pensionierung als Lehrer in der Bronx über vierzig Jahre nachdem sie in Irland passiert waren, und in dem sprachlichen Clash zwischen damals und heute entsteht die geniale Sprache des Buches. Eine Sprache die so echt ist, dass sie keinerlei semantischen Signale für Perspektivwechsel braucht – weder zwischen dem alten und dem kindlichen McCourt noch zwischen Erzähltext und Dialog. Die Dialoge sind ohne Anführungsstriche in den Text eingewoben, oft innerhalb eines einzigen Satzes. Zum Beispiel so: Er klettert ins Grab. Her damit, sagt er, und Dad gibt ihm den Sarg. In dieser Szene, in der die Familie einen von Franks kleinen Brüdern beerdigt, der an Schwindsucht gestorben ist, hören wir den besoffenen Totengräber, hören aber gleichzeitig die innere Stimme des kleinen Frank und sehen mit seinen Augen.

McCourt selbst sagte in einem Interview, dass er beim Schreiben des Buches an einem bestimmten Punkt von der normalen Erzählsprache der Vergangenheitsform in die des historischen Präsenz verfallen sei, zuerst ganz unbewusst. Es war genau der Moment, in dem der kleine Junge anfing zu sprechen.

Und hier liegt vielleicht auch der Schlüssel dazu, dass dieses Buch nicht deprimierend ist. Die Perspektive des Kindes zeigt uns zwar die Armut und das Elend, aber sie ist vital, bissig, anarchistisch-komisch, verspielt und – siehe oben – mit einem mystischen Urvertrauen ausgerüstet, das sich bewahrheitet hat (denn er hat überlebt). Der Vater, nach bürgerlichen Maßstäben eine Null und Alkoholiker, ist tatsächlich ein liebevoller in seinem hilflosen Kampf gegen die Briten erstaunlicher Mann, ein gebrochener IRA-Held, der nie einen Penny auf der Naht hat, aber auch ein Geschichtenerzähler, der seine Kinder statt mit Brot mit Märchen von Hexen und Zauberern füttert, Märchen, die er mit großer Leichtigkeit erfindet. Es ist einer der bewegensten Stellen in diesem Buch (das viele bewegenden Stellen hat) wie Frank die frühen Morgenstunden schildert, in denen er den Vater und dessen Geschichten ganz allein für sich hat. Es ist letztlich vor allem dieses Erbe, das Frank McCourt mit Angelas Ashes antritt.

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