OVID, dieser einschmeichelndste aller Dichter ... (Pierre Klossowski)
DAS PROÖMIUM – VIELE GESCHICHTEN MACHEN DIE WELT DURCHSCHAUBAR: meine Rezension zu Ovids METAMORPHOSES
1. „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“
(W. Dilthey, „Traum“ | in: „Gesammelte Schriften“, Leipzig/Berlin 1913, Bd. 8)
2. „Die Universalgeschichte ist menschlich nur durch ihre historische Aufhebung: als Multiversalgeschichte.“
(Odo Marquard, „Apologie des Zufälligen“)
3. „Raban befindet sich deutlich in einer Zwickmühle. In dem Konflikt zwischen seinen inneren Wünschen und den äußeren, auferlegten Pflichten wünscht er sich als Lösung eine traumähnliche Verwandlung herbei.“
(Franz Kafka, „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“)
_______
I.
Für O. Marquard („Apologie des Zufälligen“ | UB 8351) ist unsere Epoche dank ihrer spektakulären Fortschritte das Zeitalter der Informationsgesellschaft. Natürlich vor den imponierenden, technisch und industriell nutzbaren Fortschritte der Naturwissenschaften sind, heutzutage, die Geisteswissenschaften in eine Legitimationskrise geraten. Die Forschungen der Geisteswissenschaftler haben im Vergleich zu den Naturwissenschaften „etwas ameisenhaft Betriebsames und zugleich Sinnloses an sich.“ (M. Fuhrmann) Die Existenz der Geisteswissenschaften (besonders der Literatur, zu der die „Metamorphosen“ gehören) ist das Erzeugnis einer „bestimmten Phase des europäischen Geistes und wie dieser selbst eine historische Erscheinung.“ (Fuhrmann) Aber heute – sagt der Konstanzer Latinist Manfred Fuhrmann – sind diese Geisteswissenschaften – erst recht – „lebendig“, weil sie „unvermeidlich“ bleiben. Fuhrmann schreibt: „Die Geisteswissenschaften, behauptete Marquard, seien dazu da, den durch die Naturwissenschaften verursachten Modernisierungsprozess – einen Prozess, in dessen Verlauf unsere Welt immer undurchschaubarer werde – zu kompensieren und hierdurch erträglich zu machen, und sie bewirkten dies, indem sie Geschichten erzählten, Geschichten zum Zwecke der Sensibilisierung, der Bewahrung, der Orientierung. Je moderner die Welt werde, lautete Marquards Fazit, desto unvermeidlicher würden die Geisteswissenschaften. Die Geisteswissenschaften als Kompensationswissenschaften, als auf die Vergangenheit rekurrierendes, identitätsstiftendes Gegengewicht gegen die Dynamik der den Menschen sich selbst entfremdenden Naturwissenschaft und Technik...“.
Für uns heute sind die phantastischen Geschichten Ovids eine Kunst der „Wiedervertrautmachung“. „Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichte aber muss man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschaden, indem sie erzählen … Sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie.“ (Marquard)
Diese Schrift des Philosophen Odo Marquard ist eine notwendige Voraussetzung, um der ,Wirklichkeitswandel‘ unserer Zeit zu verstehen. Wirklichkeitswandel, der, auch wenn er nicht eindeutig mit der literarischen Tradition der „Verwandlung“ in Zusammenhang gebracht werden kann, vor dem Hintergrund dieser Tradition klarere Konturen gewinnt.
∎ Zeitalter der Weltfremdheit?
„Unsere Zeit hat viele Namen. Sie gilt als »Industriezeitalter« oder »Spätkapitalismus« oder »Atomzeitalter«; sie gilt als »Arbeitsgesellschaft« oder »Freizeitgesellschaft« oder »Informationsgesellschaft«; sie gilt als Zeitalter der »funktionalen Differenzierung« oder »Epoche der Epochisierungen« oder »postkonventionelles Zeitalter« oder bereits als »nacheuropäisches Zeitalter« oder einfach als »Moderne« oder auch schon als »Postmoderne« und so fort. Diese Vielnamigkeit ist indirekte Anonymität: unsere Zeit und Welt befindet – scheint es – auch deswegen in einer Orientierungskrise, weil sie zunehmend nicht mehr weiß, mit welcher dieser Kennzeichnungen sie sich identifizieren muss.“
„Neu ist nämlich eine zeitalterspezifisch moderne Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens. Ich nenne sie tachogene Weltfremdheit; denn sie resultiert aus der beschleunigten Schnelligkeit (auf griechisch: to táchos) des modernen Wirklichkeitswandels.“
II.
In dem Proömium stellt Ovid sein Werk kurz vor:
„In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora; di, coeptis (nam vos mutastis et illas)
aspirate meis primaque ab origine mundi
ad mea perpetuum deducite tempora carmen!“
Lateinische Verse, die Hermann Breitenbach so übersetzt:
„Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue
Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt,
Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse
Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen!“
Das persönliche Prooemium oder der Prolog des Dichters, dem am Ende der „Metamorphosen“ ein Epilog entspricht, behandelt die Urgeschichte der Menschheit von der „(als Science-fiction eingekleideten) Schöpfungsgeschichte über die (an hesiodische Tradition anknüpfenden) vier Weltalter und die Sintflut bis zur Neuentstehung der Menschen und der »Urzeugung« sonstiger Lebewesen“ (Michael von Albrecht, „Ovid · Eine Einführung“ | UB 17641). „Literarisch knüpft das Proömium (durch Anrufung der »zuständigen« Götter) an Traditionen des Lehrgedichts an, die auch in der Abfolge der Weltalter und anderwärts spürbar sind, spielt aber zugleich mit dem Anspruch homerischer Kontinuität und kallimacheischer Feinheit“ (M. v. Albrecht). In diesem Kontext ist auch die Idee der Metamorphose („mutatas formas“) zu verstehen, die als wahrer Herzschlag des Buches eine uralte und immer wieder neue Fragestellung berührt: Inwieweit ist der Glaube an die Lebendigkeit der alten Bilder vererblich? Die Mythen haben längst für uns ihre Realität verloren, nicht aber ihre Wahrheit. Und solange wir uns in ihrem Spiegel wiedererkennen, haben sie uns etwas zu sagen.
Das Gedicht der „Metamorphosen“ endet im 15. Buch mit Caesars Apotheose und einem Preis des Augustus. Es fließt „ununterbrochen“ dahin und reicht von der Schöpfung (das Hesiodische Thema der Kosmogonie) bis in Ovids eigene Zeit.
∎ Das Leben als Bild, als Kunstwerk
„Auch für den Zusammenhang von ›Bildung‹ und ›Bild‹, für die Ineinssetzung von Ästhetik und Ethik, eine Lieblingsvorstellung der deutschen Klassiker, könnte man auf antike, zumal platonisierende Wurzeln verweisen. […] Das Leben als Bild, als Statue, als Kunstwerk: diese programmatische Maxime gelangte über Plotin und den Neuplatonismus zu Shaftesbury, zu Winckelmann und zur deutschen Klassik.“ (Manfred Fuhrmann, „Bildung“ · Europas kulturelle Identität, S. 49 | UB 18182)
Wir erinnern uns, dass sowohl die Klassiker als auch Ovid Ästhetik und Ethik, Bildung und Bild, gleichermaßen unter die Idee des Lebens fassten, während die Postmoderne das Leben sowohl von der Bildung als auch von der Ethik absetzt. Die Beziehung von Mythos und Leben überschneidet sich mit der von Mythos und Bildung, sodass viele der Ovids Geschichten auch hier hätten diskutiert werden können. Mythos ist Teil unserer Interpretation der Wirklichkeit, Mythos ist Leben: der Mythos hat sich aus dem Leben entwickelt und jetzt erfüllt er die Funktion, uns mit Leben wieder vertraut zu machen. Der moderne ,Mann der Tat‘ ist zufrieden, dass die Welt existiert und Dinge darin passieren. Für ihn ist die (Schopenhauerische) „Vorstellung“ der Welt sekundär. Dem liegt eine grundsätzliche Gleichgültigkeit zugrunde. „Nicht dass Gregor Samsa – schreibt Günther Anders in „Franz Kafka – Pro und Contra“ (Die Neue Rundschau 58, 1947) – am Morgen als Käfer aufwacht, sondern dass er darin nichts Staunenswertes sieht, diese Alltäglichkeit des Grotesken macht die Lektüre so entsetzenerregend. Das Prinzip, das man das der ›negativen Explosion‹ nennen könnte, besteht darin, dass, wo ein Fortissimo zu erwarten steht, noch nicht einmal ein Pianissimo einsetzt, sondern die Welt ihre unveränderte Lautstärke einfach beibehält. – In der Tat ist nichts verblüffender, als die Unverblüfftheit und Naivität, mit der Kafka in die erstaunlichsten Geschichten hineinspringt.“ Kafka übersetzt in Bilder nicht Begriffe, sondern Situationen. Genauer: „er schöpft aus dem vorgefundenen Bestand, dem Bildcharakter der Sprache“. (G. Anders) Kafkas Verhältnis zu den antiken Mythen, den biblischen und chassidischen Erzählungen ist geprägt vom Prinzip der ,Entstellung‘ und ,Widerrede‘. Kurzgeschichten wie „Prometheus“, „Poseidon“, „Das Schweigen der Sirenen“, „Der Jäger Gracchus“ sind mythendeformierende und entmythologisierende Stücke.
Altertümliche Erzählungen, Göttergeschichten sind natürlich von der Moderne und Postmoderne als Ausdrucksform einer vorrationalen Stufe der Kultur verstanden, die – denkt man – im aufgeklärten, nachmythischen Zeitalter ihre Wirksamkeit verloren haben. Das ist nicht ganz wahr. Im Gegensatz dazu werden diese Erzählungen aber auch als grundlegende Modelle menschlichen Weltverständnisses aufgefasst, die ,auch‘ in der Moderne weiterhin ihre Verbindlichkeit bewahren. Sie bestimmen das menschliche Verhalten unbewusst. Man denke an den Ödipus-Komplex bei Sigmund Freud oder an die Archetypen Carl Gustav Jungs. Als ›Mythen des Alltags‹ (Roland Barthes) dienen sie der emotionalen Orientierung und als gemeinsame Kommunikationsbasis in der modernen Gesellschaft. Die Literatur hat einen mythischen Ursprung und die Sagen der Mythen drücken diese antike Herleitung der Literatur aus dem Mythos aus. Man kann das Motto von Camus („Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden“) als ein Zeichen, dass zwar die klassische Mythologie überlebt hat.
Metamorphose, Verwandlung | griechisch ›μετα-μορφόω‹ (umgestalten, verwandeln) – ich wollte hier die Stärke dieser uralten Idee, dieser Energien, die Franz Kafka noch im 20. Jahrhundert nach Christus beherrschten, kurz verdeutlichen. Kein Wort bewahrt dieses Erbe so wirkungsvoll wie die Bezeichnung der griechischen Sprache: ›μετα-μορφωσις‹ = Transformation:
»Ovid’s „Metamorphoses“ also presents itself as a microcosm, or a universe recreated in the poem. The work actually begins with the origins of the world; then comes the story of the succession of the four ages (the Golden, Silver, Bronze, and Iron ages), and the poem ends in the fifteenth book with a vision of the peace brought to the world by Augustus. Between the origins and the present, the history of metamorphoses depicts the chain of causes and effects, or of the world’s events.«
(Pierre Hadot, „Le Voile d’Isis: Essai sur l’histoire de l’idée de Nature“ | englische Übersetzung von Michael Chase)
OVID IN TOMI
Der Himmel eine Last, dezemberschwer.
Wolken von Weißgold, nur in kargen Streifen,
lichten, was immortellengrau verhängt ist.
»Zu«, geschlossen wie das Außen, so mein Innen.
Das Meer – ein Eisen wie ein Phalanx-Schild,
brandungslos, nomen est omen: schwarz.
So abweisend, so undurchdringlich,
als könne nie ein Schiffsbug es zerteilen …
Das höhnt mir jeden Fluchtgedanken weg
– wohin auch, Bürger eines Weltstaats?
Kein Trost, daß auch der Herr der Weltanschauung
der Herrin lebenslänglicher Gefangner.
Zum Schutz vor ,ihr‘ verbannte er mich mondweit.
Wie bleibst du auf den Füßen, Erhabener,
ertappst du dich, daß du aus Angst nicht ißt,
bevor die Kaiserin aus gleicher Schüssel aß?
Du komischer ,Monarch‘, der heute schon
– an welchem Hofe hat’s das je gegeben? –,
vier Prinzen überlebt hat, die »gestorben«
an ihrem Recht, dein Thronfolger zu sein!
Wer lacht, dem fröstelt’s im Genick, daß du
›Medea‹ für die Schaubühne verbietest,
weil dir die Mörderin im Staatstheater spiegelt,
wie Livia mit deinen Enkeln umspringt …
(Rolf Hochhuth, „Anekdoten und Balladen“ – Künstler und ihre Gesellen | UB 18112)