Wer die Kinderbücher von Tanya Stewner kennt, weiß, dass die Titel ihrer Bücher nicht immer das halten was sie versprechen. Gerade in ihren Elfenbüchern („Wie weckt man eine Elfe“, „Eine Fee ist keine Elfe“ auch im Fischer Verlag erschienen) faltet sie eine eigenwillige Phantasiewelt auf, die mit den kitschigen Varianten akuteller Elfenwelten nicht viel zu tun hat. Auch ihr neues Buch, das im hellblauen Einband und mit dem fast harmlos klingenden Titel „Das Lied der Träumerin“ aufwartet präsentiert alles andere als eine verträumte harmlose Geschichte. Sind ihre Elfen nicht die zarten und zerbrechlichen Geschöpfe, wie sie in unseren zeitgeistigen Köpfen herum schwirren, so ist auch die Träumerin keine junge realitätsfremde, zerbrechliche junge Frau. Angelia Fortis hat einen „glühenden Kern“ (S.383), der sie lebenshungrig vorantreibt und dessen Herausforderung sie immer wieder mutig annimmt.
Nach dem Tod ihres Vaters, der ihr Mentor und Vorbild war, beschließt Angelia Fortis die Schule abzubrechen und ihren Traum, Musikerin zu werden zu verwirklichen. Gegen den Willen der Mutter macht sie sich auf den Weg nach London, „die Stadt, in der Träume wahr werden“ (S.21). Damit bricht sie in die Heimat ihres Vaters auf. Von ihm hat sie auch ihr musikalisches Credo, Musik mit dem Herzen zu hören. In dem Bewusstsein, dass Musik ihr Leben ist, betrachtet sie die ganze Welt immer aus dem Blickwinkel des Herzens und des Gefühls. Die Sprache des Herzens ist die Sprache der bekennenden Träumerin ist die Sprache der Musik ist Leben - für Angelia Ausdruck und Sein zugleich. Was sich für die Mutter nach unerträglichen Hirngespinsten anhört, wird Angelia im Laufe der Geschichte wie ein fein gewebtes leichtes und unsichtbares Kettenhemd schützen.
In London angekommen, wohnt sie mit den ungleichen Brüdern Josh und Jeremy zusammen. Zu beiden fühlt sie sich hingezogen, wenn auch auf eine sehr unterschiedliche Art. Ihr Seelenverwandter ist Josh, ein Gefühlsmensch mit „Sonnenherz“ (S.38) wie Angelia selbst. Sein Lebens-Ausdruck ist der Tanz. Mit ihm erlebt sie London von seiner prallen, lebensbejahenden und pulsierenden Seite. Sie trifft die unterschiedlichsten Menschen - die begnadete Musicalsängerin Alice, den Theologiestudenten Amon und viele andere mehr - hört ihre Geschichten, lernt ihre Weltanschauungen kennen und sieht, wie sie sich alles zu einer Großstadtharmonie zusammenzufügen scheint. Daraus schöpft sie die Inspiration für ihre Lieder .
Alles ist Rhythmus, und der kann für Angelia nicht stark genug sein, um ihn ganz in sich aufzunehmen.
„Ich drehte die Lautstärke hoch, um den Beat richtig spüren zu können, aber das reichte mir noch nicht. Kurz entschlossen nahm ich eine der armlangen Boxen aus dem Regal. Ich presste die Seite, aus der der Sound kam, fest gegen meinen Bauch. Der Beat drang nun unmittelbar auf mich ein und hämmerte mir den Sound unter die Haut. (...) Schwelgerisch summte ich die Melodie mit und ließ mich von dem Song treiben, den Bass tief in meinem Bauch.“ (S. 50)
In London spürt Angelia jeden Tag aufs Neue, Träumerin zu sein heißt lebendig sein. Eine Träumerin zu sein bedeutet, sich dem Leben und seinen Überraschungen mit Mut hinzugeben, hingeben zu können, da das Leben selbst sie trägt. Doch in London wird dieser „Glaube“ auch auf eine harte Probe gestellt. In der Auseinandersetzung mit Jeremy wird ihr bewusst, dass zum Leben immer auch der Tod gehört. Jeremy ist ganz im Gegensatz zu Angelia und Josh ein Kopfmensch. Mit seinem sarkastischen Lächeln und den rabenschwarzen Augen (S. 41) steht er schon äußerlich für ein ganz anderes Lebenskonzept. Sein Medium ist die Literatur. Die Schönheit des Lebens versucht er in Büchern zu erkunden, da er sie nicht unmittelbar mit dem Herzen in sich aufnehmen kann. An die Stelle der eigenen, innerlichen Leere treten die Gedanken der unterschiedlichsten Schriftsteller, mit deren Gedanken er Liebe, Freude und Schmerz gleichermaßen nachvollzieht. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit fühlen sich Angelia und Jeremy magisch zu einander hingezogen. An seiner Seite lernt Angelia körperliche Liebe und Lust in ihrer tiefsten und schönsten, fast heiligen Dimension kennen. Es ist gerade diese extreme körperliche Anziehung, die Angelia neugierig macht auf Jeremys extreme Art und Weise der Weltsicht. Gemeinsam mit ihm erobert sie sich in langen Vorlesenachmittagen und anschließenden Diskussionen die Welt der Bücher und Worte. Doch wie brilliant sich Jeremy auch in dieser Welt bewegt, er findet für sich selbst keinen aktiven Ausdruck. „Als Poet ohne Liebe“ (S. 174) kann er die Welt nicht in seine eigenen Worte fassen, ist er nicht fähig einen Weg zu seinen Gefühlen zu finden. Sein aufrichtiger Versuch sich auf Angelias Sicht des Lebens und ihre Liebe einzulassen, scheitert letztlich auf tragische Weise. Jeremy bleibt der ewige Beobachter, der sich vom Leben ausgeschlossen sieht. Für ihn ergibt das Leben keinen Sinn (S. 172) und der selbst gewählte Tod die logische Konsequenz. Diesen Schritt als selbstbestimmte Variation ihrer Lebens-Philosophie zu begreifen kann Angelia nur allmählich akzeptieren. Doch Jeremys Tod lehrt sie letztlich, das Leben nur noch mehr zu lieben und zu leben.
Und London ist nicht zuletzt die Stadt ihre Vaters. In London zu leben bedeutet für Angelia auf den Spuren ihres Vaters und dessen Lebensgeschichte zu wandeln. „Zu-fällig“ lernt sie einen alten Freund ihres Vaters kennen, den sie in einer Pianobar trifft. Mittlerweile vom Leben und seiner großen Liebe der Musik enttäuscht erzählt ihr der resignierte Jazzmusiker Sullivan wie er als junger Mann mit ihrem Vater William Fortis als begeisterter Musiker durch die Nachtclubs der Stadt tingelte. Von Sullivan erfährt Angelia viel über das wilde Leben der Vaters, bevor er nach Deutschland auswanderte, um dort das brave Leben eines Ehemannes und Familienvaters zu führen. Unversehens sieht sie sich mit dem Thema, der vermeintlichen Mittelmäßigkeit, Selbstaufgabe und Verbitterung konfrontiert. Das Bild des Vaters und letztlich auch der Mutter muss Angelia neu für sich zusammen puzzeln. Sie lernt die für sie zunächst weniger spektakulären Lebenswege als Lebenswege der anderen zu schätzen, nicht ohne Tränen zu vergießen und nicht ohne sich immer wieder der Kraft der Musik ganz hinzugeben, denn sie weiß, „dass ein einziges Lied ein ganzes Leben verändern konnte - dass ein Lied Leben retten konnte“ (S. 227). Sich auf diese Kraft zu besinnen, bedeutet für sie, nie Opfer zu sein, sondern sich selbst immer als Schöpferin ihrer Lebensumstände zu wissen und zu fühlen. Die Musik gibt ihr die Möglichkeit, sich mit dem Leben zu versöhnen, sich für dessen Schönheit durchlässig zu machen um den eigenen Rhythmus immer wieder aufs Neue erspüren zu können - sich selbst fühlen zu können um das Leben zu erkennen.
„Das Lied der Träumerin“ ist eine Liebeserklärung an das Leben selbst und die verheißungsvolle Aufforderung an jeden von uns, das ganz eigene Leben zu leben.