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Mr. Rail

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Cover des Buches Unterwerfung (ISBN: 9783832197957)

Bewertung zu "Unterwerfung" von Michel Houellebecq

Unterwerfung
Mr. Railvor 9 Jahren
Kurzmeinung: Houellebevq wurde an einem trurigen Tag der französischen Geschichte mit seinem Buch unterworfen... und instrumentalisiert...
Der Tag an dem Houellebecq unterworfen wurde


Manchmal fällt es sehr schwer, einen Roman völlig losgelöst von den realen sozialen Rahmenbedingungen unseres Lebens zu lesen und ihn dabei in seiner rein inhaltlichen Wirkung zur freien Entfaltung kommen zu lassen. Manchmal spielt das reale Leben auch einem Roman einen Streich und hebt ihn durch das Eintreten besonderer Ereignisse auf eine andere und nicht vom Autor erdachte und beabsichtigte Ebene.

Behandelt zum Beispiel eine moderne Gesellschaftsutopie den Zusammenprall von Politikern, Konfessionen und Kulturen im Frankreich des Jahres 2022 und entwirft dabei ein bedrohliches Szenario aus Demonstrationen gegen die drohende Islamisierung des Landes, schafft Bilder von bürgerkriegsähnlichen Szenen zwischen den Anhängern der unterschiedlichen politischen Richtungen und projiziert viele tagesaktuelle Probleme in die Zukunft, dann erlangt ein solcher utopischer Roman flankiert durch das reale Leben eine ungeheuerliche Relevanz.

Erscheint dieser Roman dann auch noch in einer Zeit, in der selbst in unserem Land Protestzüge mit islam-, flüchtlings- und ausländerfeindlichen Parolen durch die Städte ziehen und Schlagworte wie „Lügenpresse“ skandieren, dann wird dem Leser mulmig. Erscheint der Roman zudem noch am selben Tag, an dem in Paris einzelne islamistische Terroristen die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ stürmen und gezielt Journalisten und Karikaturisten liquidieren, die mit ihren mehr als kritischen Mohammed-Karikaturen provozierten, dann weht der Hauch von „VISION“ über Buch und seinem, Autor.

Als hätte er es vorhergesehen! Und als stünden das Erscheinen des Romans und die Anschläge in Paris in kausalem Zusammenhang. Als wäre alles miteinander verbunden und was wäre geeigneter, als gerade diesen neuen Roman mit dem allzu passenden Titel „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq (DUMONT) auf ein hell erleuchtetes Podest zu heben und dann, egal von welcher Seite auch immer, zu instrumentalisieren?

Einerseits als hellsichtig formulierte Warnung vor dem islamischen Gottesstaat und andererseits lauter Weckruf für die wackeren AufRECHTEN, die eigenen Bestrebungen zu intensivieren. Zitate werden gesucht, Textstellen willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen, der Titel wird zum schlagwortartigen Selbstläufer und zurück bleibt ein Autor, der anderes beabsichtigte und bei den Pariser Anschlägen selbst gute Freunde verloren hat.

„Unterwerfung“ hat Michel Houellebecq an jenem tragischen 7. Januar 2015 selbst unterworfen. Vereinfacht wurde in allen Medien darüber berichtet, dass sein erdachtes Schreckgespenst erwacht sei und man nun nur in diesem Buch nachlesen müsse, wie es mit Frankreich weitergeht. Aus dem Gesellschaftskritiker Houellebecq wurde auf einen Schlag ein Populist. Ein guter zwar, aber nichts desto trotz ein verschlagworteter Autor.

Dabei hat er nichts anderes getan, als sein literarisches Echolot auf das geliebte eigene Land zu richten und die Schallwellen, die ihn erreichten mit Wortgewalt verstärkt und zu einem Roman verdichtet, der in seiner utopischen Ausrichtung keinesfalls die Angst vor dem sich ausbreitenden Islam in Europa in den Mittelpunkt stellt. Wer dieses Buch so versteht, macht es sich zu leicht. Wer es so versteht, hat nicht in den Spiegel geschaut, den Houellebecq so blank poliert hat, dass die darin entstandenen Bilder keine Verzerrungen zulassen.

Frankreich befindet sich im Jahr 2022 in einer tief angelegten politischen Krise. Die althergebrachten politischen Parteien sind im Präsidentschaftswahlkampf lediglich auf der Basis leerer Parolen bestrebt, die Macht zu erhalten und die zukünftigen Ämter in den dichten eignen Reihen zu verteilen. Die inhaltichen Unterschiede zwischen den Vertretern der liberalen Parteien sind zwar vorhanden, für politikverdrossenen Wähler jedoch kaum noch wichtig.

Es gilt nur noch, zwischen den Extremen zu entscheiden und einen Rechtsruck im Land zu verhindern. Und dieser droht beharrlich, demonstrieren doch nicht nur in Paris die „Ureinwohner Europas“ in den Straßen und machen ihrem Unmut gegenüber den üblichen zu verunglimpfenden Minderheiten Luft. Gegen die Islamisierung des Landes. Gegen Flüchtlinge. Gegen Zuwanderung. Gegen… Gegen… Gegen…

Um zu verhindern, dass genau diese Demonstranten von der rechtskonservativen Partei des Landes automatisch aufgesaugt werden, gehen alle restlichen Parteien eine logisch erscheinende, aber letztlich fatale Koalition mit einem Kandidaten und seiner Partei ein, um den Rechtsruck im Land zu verhindern und dabei selbst noch ein wenig im Sattel der Macht zu bleiben.

Dass der muslimische Präsidentschaftskandidat der Wertetradition eines durchaus gemäßigten Islam anhängt, und seine Partei der „Bruderschaft der Muslime“ genau die Gefahr verkörpert, gegen die man auf den Straßen demonstriert, nehmen die Politiker gerne in Kauf. Es gilt einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern, zu dem die Rechten im Lande immer unverhohlener aufrufen.

Am Wahltag entscheidet sich das Schicksal eines ganzen Landes und angesichts der drohenden Revolten und Unruhen im ganzen Land gewinnt die Koalition um den muslimischen Kandidaten Ben Abbes und dessen Vorstellung von der Führung eines Staates auf der Grundlage des Wertevorrates des moderaten Islam beginnt Realität zu werden.

Was Houellebecq dann beschreibt ist mitnichten die Machtübernahme radikaler Islamisten in einem europäischen Land. Er richtet das Brennglas seiner Utopie auf den Werteverfall westlicher Länder. Eigene religiöse Vorstellungen sind schon lange verdampft und haben mit dem realen Leben wenig zu tun. Gewalt, Egoismus und pures Streben nach Karriere sind die Eckpfeiler einer hohlen Gesellschaft, die „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ längst auf dem Altar der globalisierten Wirtschaft geopfert haben.

Die Politiker-Attrappen, die sich einbilden für die Menschen ihres Landes zu sprechen werden gnadenlos entlarvt und in das große Vakuum der Wertlosigkeit bringt der von Ben Abbes vorgelebte gemäßigte Islam einen Lebensinhalt, der von breiten Schichten der Gesellschaft plötzlich als wohltuend empfunden wird.

Houellebecq entwirft kein islamistisches Horrorszenario, sondern hält uns nur vor Augen, auf welche Werte wir dauerhaft verzichtet haben, und wie wir in unserer extrem lebhaften Unzufriedenheit miteinander umgehen. Das Land erfindet sich völlig neu. Die Kriminalitätsrate sinkt ebenso wie die Anzahl der Arbeitslosen. Frauen werden aus den Berufen gedrängt und kümmern sich wieder um die Familie. Kindergartenplätze werden frei, weil die selbst betreute Familie eine neu entdeckte Lebensform wird. Die Wirtschaft boomt durch neue Handelsbeziehungen, Frauen werden aufgrund ihrer züchtigeren Kleidung nicht mehr als sexuelles Freiwild betrachtet und das Bildungssystem richtet sich plötzlich an den realen Erfordernissen aus.

Der Islam steht hier stellvertretend für jeden Wertevorrat, der denkbar wäre, den abendländisch hochgradig gefährlichen Wertemüll zu ersetzen und mit neuem Leben zu füllen. Houellebecqs Protagonisten erleben diese innere Wandlung aus ihrer jeweiligen rein subjektiven Perspektive und der Ich-Erzähler Francois steht stellvertretend für uns alle. Passiv, latent unzufrieden, abgetaucht in Scheinwerte-Ebenen. Tief versunken in die vergangene Welt der Literaturklassiker bemerkt er selbst viel zu spät, dass auch seine eigene Welt auf moralischem Sand gebaut ist.

Houellebecq macht es sich manchmal allzu leicht, seine Utopie zu etablieren. Er blendet aus, was sie tatsächlich zur Utopie macht und bleibt einfach, wo er hätte noch komplexer hätte ausholen können. Dies jedoch macht seine Utopie unterhaltenswert. Und unterhalten wurde ich in diesem Roman hervorragend. Sprachlich spielt er in einer eigenen Liga! Er regt intensiv zum Denken an, schürt keine Ängste vor Minderheiten oder Religionen, sondern verdeutlicht so sehr den Zustand, in dem wir uns befinden.

Ich denke gerade an Demonstrationen in Deutschland. Während früher die Kirchen des Landes in schweren Krisenzeiten bis auf den letzten Platz gefüllt waren, schalten sie heute maximal noch ihre Lichter aus, während ausländerfeindliche Demonstranten vor ihren geschlossenen Toren einträchtig Kirchenlieder singen und gleichzeitig die Anzahl der Kirchenaustritte ungeahnte Dimensionen erreicht. Hach, lasst uns das Abendland retten, es ist nichts mehr übrig davon!.

„Unterwerfung“ ist ein sehr wichtiges Buch. Ich wünschte mir nur, es wäre auch ohne die feigen Anschläge radikal-islamistischer Terroristen, die auch ihren eigenen Glauben attackieren, wichtig gewesen. Ich lasse mich nicht unterwerfen.

Chapeau, Michel
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Der persische Großwesir Ibn Abad Quaism Ismail Kafi führte im 10. Jahrhundert auf Reisen immer 117 000 Bücher mit sich. Seine Bibliothek war dem gelehrten Mann so wert und teuer, dass er sie sogar in den Krieg mit- nahm. Transportiert wurde sie von 400 Kamelen, die darauf abgerichtet waren, in alphabetischer Reihenfolge zu gehen. So musste der Großwesir nicht lange nach einem bestimmten Band suchen. "Das muss ich in einem meiner früheren Leben gewesen sein!"

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