NiamhOConnors avatar

NiamhOConnor

  • Mitglied seit 12.02.2018
  • 1 Freund*in
  • 15 Bücher
  • 14 Rezensionen
  • 15 Bewertungen (Ø 4,67)

Rezensionen und Bewertungen

Filtern:
  • 5 Sterne11
  • 4 Sterne3
  • 3 Sterne1
  • 2 Sterne0
  • 1 Stern0
Sortieren:
Cover des Buches Dunkelblum (ISBN: 9783864847011)

Bewertung zu "Dunkelblum" von Eva Menasse

Dunkelblum
NiamhOConnorvor 3 Jahren
Das ist eben das Problem mit der Wahrheit

August 1989. Nach dem unerwarteten Tod seiner Mutter kommt der Mittdreißiger Lowetz zurück nach Dunkelblum, einem Ort nahe der Grenze, und findet dort eine Welt vor, die er fast vergessen hatte, die aber immer noch beinahe so funktioniert wie in seiner Kindheit, in wesentlichen Zügen sogar noch immer so wie in der Jugend seines schon lange verstorbenen Vaters. Immer noch dieselben Nachbarn, immer noch derselbe Gemeindearzt, immer noch derselbe Greißler, immer noch dieselben Winzerfamilien, immer noch der Stammtisch in der Gaststube des Hotel Tüffer, und immer noch tut „eine Gruppe von ehemaligen Halbstarken“ ihr Möglichstes, damit keiner aus der Reihe tanzt. 

Anders ist nur, dass ein Trupp junger Leute von außerhalb begonnen hat, den jüdischen Friedhof zu renovieren und dass sich erstmals Widerstand gegen einen Plan des Bürgermeisters formiert: Eine Bürgerinitiative widersetzt sich dem Beitritt zum Wasserverband und verlangt stattdessen die Errichtung einer autonome Wasserversorgung für die Gemeinde. Fast gleichzeitig mit Lowetz kommt ein älterer Mann in dem Ort „am östlichen Ende der westlichen Welt“ an, mietet sich im Hotel Tüffer ein und beginnt mit den Leuten über die Vergangenheit zu reden. Die Menschen sind meist nicht besonders auskunftsfreudig, wenn es um „die alten Geschichten“ geht, nur Rehberg, der Besitzer des Reisebüros, findet das Thema ebenso interessant wie der Fremde. Rehberg arbeitet gemeinsam mit Flocke Malnitz, der jüngsten Tochter der aus einem anderen Ort eingeheirateten „Dorfkönigin“ und erfolgreichen Bio-Winzerin Leonore Malnitz, an einer Ortschronik. Während die Menschen unter der Sommerhitze leiden, der Bürgermeister in einem Krankenhaus der Hauptstadt mit dem Tod ringt und auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein Paneuropäisches Picknick organisiert wird, gelingt einem DDR-Flüchtling der illegale Grenzübertritt. Er wird in Dunkelblum vorbeugend mit einer Tracht Prügel begrüßt, findet aber, nachdem sich seine Identität geklärt hat, Aufnahme bei Lowetz und hofft in dessen Haus darauf, dass seine Frau und Tochter bald nachkommen können. 

Meine Meinung: Dunkelblum ist Eva Menasses Auseinandersetzung mit dem Massaker von Rechnitz und seinen Nachwirkungen. In der burgenländischen Kleinstadt waren im März 1945, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter vermutlich von Gästen eines Festes auf Burg Rechnitz ermordet und danach auf deren Befehl vergraben worden. Die Leichen wurden nie gefunden, einige Zeugen wurden in den darauffolgenden Jahren ermordet. Es gibt bereits zahlreiche literarische und journalistische Versuche, das Thema aufzuarbeiten, unter anderem ein Hörspiel von Elfriede Jelinek und einen Bericht von Sacha Batthyany, dessen Großtante Margit die Gastgeberin des Festes auf der Burg gewesen war. Eva Menasses Geschichte bleibt den bekannten Fakten oder zumindest Wahrscheinlichkeiten treu und erzählt, ebenfalls nahe an der Realität, wie die Ortsbewohner in den Jahrzehnten danach mit ihrer Geschichte umgehen. Sie tut das mit tiefen Einblicken in die österreichische Seele, aber gleichzeitig verfremdet sie die Geschichte durch sprachliche Symbolik anstelle von burgenländischem Lokalkolorit. Während die Personen ortsübliche deutsche, jüdische und ungarische Namen tragen und damit kein Zweifel an ihrem Status innerhalb der Gemeinschaft bleibt, sind die Ortsnamen Dunkelblum für die österreichische Kleinstadt und Himmelstoß für die „drübige“ Nachbargemeinde nur zwei Beispiele für die Bilder, die Eva Menasse zur Beschreibung dessen entwirft, was sich in dieser Gemeinschaft abspielt. Besonders beeindruckt hat mich die Darstellung der Suche nach der Wahrheit, die auch jenen nur unvollständig gelingt, die sich ehrlich darum bemühen. Dafür formuliert die Autorin zwei Erklärungen, die Hand in Hand gehen: 


„Dem Gedächtnis Einzelner ist nur in begrenztem Ausmaß zu trauen. Die meisten erinnern sich lediglich an das, was ihnen selbst in den Kram passt, ihre eigene Rolle in ein besseres Licht rückt oder ihre Gefühle schont. Die groben Fakten stehen ungefähr fest, obwohl es auch da Abweichungen gibt.“

„Und das ist eben das Problem mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst, deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen, den von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot, oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis.“


Die Geschichte von Dunkelblum sei als ein Beispiel für viele ähnliche Geschehnisse zu verstehen, und sie habe versucht, alles zu fiktionalisieren, erzählt die seit 20 Jahren in Berlin lebende Autorin in einem Interview für den Deutschlandfunk. An anderer Stelle sagt sie, sie versuche, die Menschen so komplett wie möglich zu zeigen, und auf diese Weise gelingt es ihr, die nachvollziehbaren Motive für das von außen oft verstockt und ewig-gestrig wirkende Tun und Denken ihrer Charaktere aufzuzeigen, ohne dabei die kritische Perspektive zu verlieren. Manchmal ist das nur mit einer Portion Sarkasmus möglich, den die Autorin in der von ihr selbst gelesenen Hörbuchfassung auch verbal gut dosiert.

Cover des Buches Mein Lieblingstier heißt Winter (ISBN: 9783103974003)

Bewertung zu "Mein Lieblingstier heißt Winter" von Ferdinand Schmalz

Mein Lieblingstier heißt Winter
NiamhOConnorvor 3 Jahren
Mit Rehragout durch ein Labyrinth

Norbert und Harald stehen auf dem Bauch eines Stegosaurus, um diesem den Dreck vieler Jahre abzuschrubben, denn der Dinopark, in dem sie am Werk sind, soll nach dem Willen eines großzügigen Sponsors wiedereröffnet werden. Die beiden Männer arbeiten für die Firma Schimmelteufel. Diese hat ihre Existenz der Tatsache zu verdanken, dass es der Putzfrau Sabine Teufel einige Jahre zuvor gelungen ist, an die zur Firmengründung notwendige Geldsumme heranzukommen. Währenddessen liefert Franz Schlicht Tiefkühlwaren aus, um eine alte Schuld abzutragen. In der brütenden Sommerhitze ist das eine Ochsentour, und es bleibt nicht die einzige. Sein Stammkunde Doktor Schauer kauft immer Rehragout, doch diesmal hat er noch einen anderen Wunsch, und Schlicht fühlt sich verpflichtet, den einmal übernommenen und im voraus bezahlten Auftrag zu erfüllen. Das bringt ihn mit seltsamen Menschen in Berührung und in große Gefahr. Schnell merkt Schlicht, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, und er gibt nicht auf, bevor er alle Rückschläge überwunden hat und der Sache auf den Grund gegangen ist. 

Meine Meinung: 2017 gewann Ferdinand Schmalz mit einem Auszug aus Mein Lieblingstier heißt Winter den Ingeborg-Bachmann-Preis, und daher ist es wenig verwunderlich, dass es der nun erschienene Roman heuer auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat und auch für den Österreichischen Buchpreis nominiert wurde.  Schmalz erzählt die Geschichte von Franz Schlichts Suche als eine Abfolge von Begegnungen mit skurrilen Menschen in surrealen Situationen. Die Art, wie Schmalz mit der deutschen Sprache spielt, erfordert beim Lesen volle Aufmerksamkeit, aber die Mühe lohnt sich. Er liefert kunstvoll verdrehte Sätze, manchmal kurz, manchmal endlos lang, immer mit elegantem, nie plumpem Wortwitz.


Und sollte er, der Doktor Schauer, nicht mehr unter uns Lebenden verweilen, sollte er auf unnatürliche Weise seinen Tod gefunden haben, so wäre er, der Tulp, wär wohl der Erste, der davon etwas mitbekommen hätte, weil er doch all die ungeklärten Toten, die Namenlosen und die, die man schon ihren Namen wieder zugeordnet, alle llanden sie dann da bei ihm, in diesem Keller, wo in den Kühlfächern die Toten auf ihre Obduktionen warten, warten drauf, dass man ihnen die Todesursache ergründet, um sie dann erst in ihre Totenruhe wieder zu entlassen. (S. 50)


In seiner Danksagung hebt der Autor jene hervor, die während der Entstehung des Romans das „Mitlesen und Mitdenken“ übernommen haben. Diese haben tatsächlich großartige Arbeit geleistet, denn obwohl die Geschichte komplex ist und die Querverbindungen zwischen den einzelnen Personen so vielschichtig sind, dass sich Schmalz beim Schreiben leicht in seinem eigenen Labyrinth hätte verirren können, hatte ich nach der letzten Seite das Gefühl, dass, soweit sich das von einer derart schrägen Geschichte behaupten lässt, das Knäuel an Verwirrungen aufgelöst ist und keine losen Enden bleiben.

Ich danke dem Verlag S. Fischer für das bereitgestellte Rezensionsexemplar!

Cover des Buches Kristin Lavranstochter (ISBN: 9783520621016)

Bewertung zu "Kristin Lavranstochter" von Sigrid Undset

Kristin Lavranstochter
NiamhOConnorvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Eine wunderschöne Geschichte aus dem mittelalterlichen Norwegen
Norwegen im Mittelalter

Norwegen zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Kristin, die Tochter von Lavrans Bjørgulfssohn und seiner Frau Ragnfrid, lebt mit ihren Eltern auf dem Jjørundhof in der Nähe des heutigen Lillehammer. Ihr Vater ist ein wohlhabender, tüchtiger und von vielen bewunderter Adeliger, ihre Mutter eine sehr schwermütige Frau, was alle auf den Verlust ihrer drei kleinen Söhne zurückführen. Für die sehr hübsche und eher stille Kristin ist es selbstverständlich, die strengen religiösen Gesetze und sozialen Spielregeln einzuhalten, die das Leben aller bestimmen und die ihre Eltern noch strenger auslegen, sie bewahrt sich dabei aber ihre Individualität und ihren Freiheitssinn. Sie erlebt eine idyllische Kindheit, wenn auch nicht ganz frei von traumatischen Erfahrungen, freundet sich, als sie ihren Vater auf eine Reise in die Stadt begleiten darf, mit Bruder Edwin an, einem Wandermönch, der ihr zusätzlich spirituelle Führung gibt, und akzeptiert die Verlobung mit Simon Darre, dem Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers. 

Als jedoch Arne, Gefährte ihrer Kindheit und Sohn eines Knechts am Gutshof, ums Leben kommt, leiden dadurch ihre innere Ausgeglichenheit und auch ihr Ruf sosehr, dass sie darum bittet, vor der Verheiratung für ein Jahr ins Kloster gehen zu dürfen. Ihre Klosterzelle teilt sie mit der dem Leben viel mehr zugewandten Ingebjørg, und mit ihr erlebt sie Abenteuer, die ihr Leben in eine vollkommen andere Bahn lenken, als sie Erlend Nikulaussøn kennenlernt, der aus einer hochgestellten Familie kommt, aber durch seine langjährige Beziehung mit einer verheirateten Frau sowohl dem Ansehen seiner Familie als auch seinem Vermögen großen Schaden zugefügt hat.


Meine Meinung: Jede Buchliebhaberin hat sie, die Bücher, die im Bücherschrank stehen, weil man sie unbedingt gelesen haben sollte und ganz bestimmt irgendwann lesen wird. Sehr oft sind es die Klassiker, von denen man schon in der Schulzeit gehört hat, und oft sind es auch Bücher, die einen Preis gewonnen haben – zum Beispiel den Literaturnobelpreis. Dieser wurde in seiner 120-jährigen Geschichte bisher erst sechzehnmal an Frauen verliehen. Die erste Preisträgerin war 1909 die Schwedin Selma Lagerlöf, deren Nils Holgersson den meisten zumindest aus der Zeichentrickserie bekannt ist, und auch die zweite Preisträgerin kam aus Skandinavien: Sigrid Undset erhielt die Auszeichnung 1928 laut Wikipedia „vornehmlich für ihre mächtigen Schilderungen aus dem mittelalterlichen Leben des (skandinavischen) Nordens“. Der Kranz, der erste Band der Romantrilogie Kristin Lavranstochter, die dafür den Ausschlag gab, steht in einer hübschen Ausgabe der Deutschen Buchgemeinschaft, noch in altdeutscher Schrift, in meinem Bücherregal; (von mir) ungelesen. Jetzt hat der Kröner-Verlag diesen ersten Band in einer Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs vorgelegt und mich damit neugierig genug gemacht, um meine Habe-ich-endlich-gelesen-Liste um einen Eintrag zu erweitern. Die Schilderung des Lebens der Kristin Lavranstochter beginnt so, als hätte Astrid Lindgren eine skandinavische Version von Heidi geschrieben, und auch wenn mich Naturschilderungen normalerweise ziemlich langweilen, Sigrid Undset setzt sie so ein, dass sie die Stimmung der rauen Lebensumstände im mittelalterlichen Norwegen harmonisch unterstreichen und umso glaubwürdiger machen. Die Beschreibung dieser Lebensumstände entspringt nicht der Phantasie der Autorin: Als Tochter eines norwegischen Archäologen hatte sie von Kindheit an Gelegenheit, sich mit der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen, und später baute sie dieses Wissen durch das Studium alter Manuskripte und Chroniken soweit aus, dass sie als führende Expertin für das mittelalterliche Leben in Norwegen galt. Die Geschichte der Kristin wird dadurch eine lebendige und spannende Zeitreise. Auch die Glaubwürdigkeit der Charaktere hat wohl einiges mit der Biographie der Autorin zu tun. Wie Kristins Leben war auch das der Autorin begleitet von schwerkranken Kindern, und wie Kristin setzte sie sich eine Liebe in den Kopf, die im Konflikt mit den Gesetzen der katholischen Kirche und den gesellschaftlichen Konventionen stand. Dass dieses Kämpfen um das persönliche Glück nicht nur die Geschichte der jungen Kristin, sondern auch die Geschichte ihrer Eltern ist, verleiht dem Roman mehr psychologische Tiefe als ich zu Beginn erwartet hätte. Ohne das Original zu kennen, finde ich auch die Übersetzung von Gabriele Haefs sehr gelungen: Ihre Sprache ist modern genug, um das Lesen leicht zu machen, aber der Ton trifft oder besser gesagt erzeugt eine Atmosphäre, die die geschilderte Zeit und die Menschen darin zum Leben erweckt. Ein Glossar mit Anmerkungen am Ende des Romans hilft Interessierten bei der zeitlichen und geografischen Einordnung der Geschehnisse.

Cover des Buches Das schwarze Band (ISBN: 9783734110238)

Bewertung zu "Das schwarze Band" von Alex Beer

Das schwarze Band
NiamhOConnorvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Nicht nur ein spannender Krimi, auch ein historischer Roman, der den Alltag und die politischen Entwicklungen im Jahr 1921 beschreibt
Krimi und Zeitgeschichtelektion

Alex Beer lässt ihre beiden Hauptfiguren zum vierten Mal im Wien der Zwischenkriegszeit ermitteln, und aus dem ungleichen Paar aus völlig unterschiedlichen Welten ist mittlerweile ein Team geworden, das die Gedanken des jeweils anderen lesen kann und für einander durchs Feuer geht. Ferdinand Winter weiß genau, welche Strategie ihn weiterbringen wird: Er muss einfach das tun, was Emmerich tun würde, mit anderen Worten, das genaue Gegenteil von dem, was er selbst normalerweise machen würde. Dabei mitzulesen ist sehr unterhaltsam – und sehr spannend. Was der Autorin in Der zweite Reiter, dem ersten Band der Serie, noch etwas Mühe bereitet hatte, gelingt ihr nun leichtfüßig und elegant: Sie verbindet exzellente Recherche über die politische und gesellschaftliche Situation im Wien der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit einem glaubhaften Kriminalfall, und dessen Lösung hängt bis zum Schluss gemeinsam mit dem Leben der Ermittler an einem seidenen Faden. Sie lässt reale Figuren auftreten und orientiert sich an realen Geschehnissen, so als würde sie einen historischen Roman schreiben, und in gewisser Weise ist Das schwarze Band das auch. Was wahr und was erfunden ist erläutert die Autorin im Nachwort und liefert damit eine Lektion in Zeitgeschichte, die auch für mich neu war. Zum Darüberstreuen würzt sie das Ganze noch mit dezenten Anspielungen an aktuelle Geschehnisse, die Kenner*innen der österreichischen Innenpolitik noch ein zusätzliches Mal schmunzeln lassen.

Cover des Buches Meine geniale Freundin (ISBN: 9783844523522)

Bewertung zu "Meine geniale Freundin" von Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Schicksalsfreundinnen

Vorbemerkung: Die nachstehende Besprechung enthält Hinweise auf den Plot und den Ausgang des Romans. Dieser war auch mir beim Anhören des Hörbuchs bereits bekannt, aber das hat meine Freude an dem Buch in keiner Weise beeinträchtigt. Wer jedoch sicher gehen möchte, sollte lieber nicht weiterlesen.

Obwohl mich der vierte Teil von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga nur mittelmäßig begeistert hatte, war ich trotzdem auf den ersten Band neugierig, und daher besorgte ich mir die von Eva Mattes gelesene Hörbuchfassung von Meine geniale Freundin in der Städtischen Bücherei. Dieser erste Teil beginnt so, wie der letzte endet: Die erfolgreiche Schriftstellerin Elena Greco erhält einen Anruf von Gennaro, dem Sohn von Raffaella (Lila) Cerullo: Seine Mutter ist seit zwei Wochen spurlos verschwunden, so als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Zu dem Zeitpunkt, als dies geschieht, sind beide Frauen 66 Jahre alt und kennen sich schon ihr ganzes Leben. Elena weiß sofort, was es mit dem Verschwinden ihrer Freundin auf sich hat: Lila hat einen schon lange gehegten Plan in die Tat umgesetzt, nämlich den, sich aus der Welt zurückzuziehen, ohne auch nur ein Staubkörnchen von sich zu hinterlassen. Elena wundert sich nur wenig, denn sie kennt Lila besser als sonst jemand, aber sie findet, dass Lila wieder einmal übertreibt, und  sie fasst einen Entschluss:

Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir. Ich schaltete den Computer ein und begann, unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.

 Das Ergebnis sind die vier Bände der Neapolitanischen Saga.

Die Freundschaft der beiden Mädchen beginnt, als sie Anfang der 1950er-Jahre in die Grundschule des Rione, eines Armenviertels bei Neapel, kommen.  Schnell wird der Lehrerin, Maestra Oliviero, klar, dass die Mädchen, vor allem aber Lila, überdurchschnittlich begabt sind, und sie beginnt, die beiden zu fördern. Während Elenas Eltern zähneknirschend und unter finanziellen Opfern den Empfehlungen der Maestra folgen und ihre Tochter später in die Mittelschule und aufs Gymnasium schicken, bleibt Lila dieser Weg versperrt: Sie, die immer die mutigere und starrköpfigere von den beiden war, fügt sich nach einem kurzen Ausflug in eine berufsbildende Schule den Wünschen ihres Vaters und beginnt mit ihrem älteren Bruder Rino gemeinsam in der Schusterwerkstatt der Familie Schuhe zu reparieren. Hatte sie vorher die örtliche Bibliothek leergelesen und davon geträumt, mit Elena gemeinsam ein Buch wie Betty und ihre Schwestern zu schreiben und dadurch reich zu werden, setzt sie jetzt alle ihre Energien daran, durch das Anfertigen von Schuhen nach eigenen Entwürfen aus der bescheidenen Schusterwerkstatt der Familie eine erfolgreiche Schuhmanufaktur zu machen.

Meine Meinung: ‚Meine geniale Freundin‘ nennt Lila Elena, als sie sich im Alter von 16 Jahren gerade dabei ist, sich für ihre Hochzeit zurechtmacht, und sie nimmt Elena das Versprechen ab, zu studieren und das zu erreichen, was sie beide sich vorgenommen haben. Für mich ist das eine der traurigsten Szenen, die ich in einem Buch je gelesen habe, und die Aussage hat mich nicht nur traurig, sondern auch wütend gemacht.  Auf Bildung verzichten zu müssen, weil man aus einer armen Familie kommt oder ein Mädchen ist, etwas Ungerechteres kann ich mir nicht vorstellen! Elena ist klug und begabt, aber sie hat, nicht ganz zu unrecht, das Gefühl, dass sie es ohne Lilas Hilfe nicht schaffen kann. Gleichzeitig sieht sie einen inneren Zusammenhang zwischen ihrem Schicksal und dem ihrer Freundin:

‚Es war, als wäre die Freude oder der Schmerz der Einen wie durch einen bösen Zauber die Voraussetzung für den Schmerz oder die Freude der Anderen. Auch unser Äußeres schien diesem Auf und Ab zu unterliegen.‘

Lila versucht in einer Mischung aus Trotz und Schicksalsergebenheit, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Elena ist dabei eine genaue, schonungslose und ehrliche Beobachterin sowohl ihrer eigenen Entwicklung als auch der Entwicklung ihrer Freundin. Die Erzählerin ergeht sich aber nicht in endlosen psychologischen Analysen, sie beschränkt sich auf die Fakten und die knappe Beschreibung ihrer eigenen Gefühle. Die Interpretation dessen, was die Geschehnisse für die Mädchen bedeuten und was die Gründe für ihre Handlungen und Entscheidungen sind,  bleibt weitgehend den Leser*innen überlassen, und ich glaube, dass mich die Geschichte genau deshalb so berührt hat. Ein weiteres wichtiges Element sind für mich die rätselhaften Geschehnisse: das Verschwinden von Puppen, das am Anfang der Freundschaft steht, und Lilas Verschwinden im Alter von 66 Jahren. Sie bilden ein Gegengewicht zum betonten Realismus  und verleihen der Erzählung Magie, ohne sie ins Esoterische abgleiten zu lassen. Eva Mattes liefert dabei ein tolles Hörerlebnis, das der Geschichte vollkommen gerecht wird. 

Cover des Buches Vier Schwestern (ISBN: 9783866482685)

Bewertung zu "Vier Schwestern" von Joanna King

Vier Schwestern
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Familientreffen in den Cinque Terre

Joanna King, das ist für Hörer*innen des österreichischen Radiosenders FM4 die angenehme Stimme, die die englischsprachigen Nachrichten präsentiert. Vor kurzem hat die aus Neuseeland stammende Journalistin, die auch für den Inhalt dieser Nachrichten verantwortlich zeichnet, ihren ersten Roman veröffentlicht.  Vier Schwestern, so der deutsche Titel ihres Debütromans Absence, treffen sich 18 Jahre nach der Scheidung ihrer Eltern  in Corniglia, einem Ort der Cinque Terre an der italienischen Riviera. Die Idee für das Treffen hatte Rose, die mit ihrem Ehemann Sam, einem erfolgreichen Architekten, in Florenz lebt. Jess, die Älteste, macht für zwei Wochen Urlaub von ihrer Karriere als Anwältin, ihrem Mann und ihrem 9jährigen Sohn in Neuseeland, und Ngaio, die Zweitälteste, ist gemeinsam mit ihrem Mann Haig ebenfalls aus Neuseeland angereist. Erzählt wird die Geschichte aus dem Blickwinkel der Jüngsten, einer in London lebenden Tänzerin, deren Namen wir nicht erfahren. Sie ist Rose immer schon besonders nahe gestanden, und daher weiß sie als Einzige der Schwestern über ein Ereignis aus der Zeit knapp nach der Scheidung der Eltern Bescheid, das Rose noch heute mit sich herumschleppt. Gleichzeitig ist Rose die Einzige, der die Jüngste von ihrem Verhältnis mit Adrian erzählt hat, einem Regisseur mit Frau und Kind in London.

Als Rose nach der ersten gemeinsamen Urlaubswoche plötzlich spurlos verschwindet, sind die anderen zunächst bemüht, sich keine allzu großen Sorgen zu machen, aber nach einigen Stunden schlägt das Rätselraten doch in Panik um, und sie beschließen, mit Sam Kontakt aufzunehmen. Dieser lehnt es ab, die Polizei einzuschalten, und verspricht, von Florenz aus etwas in der Sache zu unternehmen und am nächsten Tag nach Corniglia zu kommen. Die Jüngste hat ihr Handy ständig in Griffweite: Einerseits wartet sie auf Nachricht von Rose, andererseits hofft sie auch, dass Adrian sich meldet.

Meine Meinung: Die Ausgangssituation von Vier Schwestern würde sich ebenso gut für einen unbeschwerten Frauenroman wie für einen Psychothriller eignen, aber der Autorin gelingt etwas anderes: Sie liefert ein Kammerspiel, das auch ein tiefgründiges Theaterstück  à la Tennessee Williams oder einen französischen Film mit Anklängen an Der Swimmingpool abgeben würde. Die Haupthandlung konzentriert sich auf zwei Orte der Cinque Terre und wenige Tage, mit einigen Rückblenden in Form von Erinnerungen der Erzählerin, die letzten Kapitel haben den Charakter eines Epilogs. Die Rivalitäten und kleinen Gehässigkeiten zwischen den Schwestern, die unterschiedlichen Wahrnehmungen der vier Töchter zur Scheidung der Eltern und die widersprüchlichen Beurteilungen der jeweiligen Partner der anderen erzeugen beim Lesen eine Atmosphäre, als würde man bei einer Familienfeier mit am Tisch sitzen, bei der dicke Luft herrscht. Die Runde weckt vielleicht unangenehme Erinnerungen an die eigene Familie, aber man ist fasziniert von der aufgestauten Energie, neugierig auf Geheimnisse aus der Vergangenheit und gespannt, wie es weitergeht. Dann klärt sich das Verschwinden von Rose plötzlich auf. Diese durchaus überraschende Wendung ist ein mit gekonntem literarischem Understatement gelieferter Twist. Dieser mischt die Karten vollkommen neu, sorgt aber nicht für mehr Harmonie, und das Spiel geht munter weiter. 

Ich durfte den Roman im englischen Original lesen, das im deutschen Sprachraum nicht erhältlich ist, und möchte mich bei der Autorin für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar herzlich bedanken. 


Cover des Buches Die Geschichte des verlorenen Kindes (ISBN: 9783844525847)

Bewertung zu "Die Geschichte des verlorenen Kindes" von Elena Ferrante

Die Geschichte des verlorenen Kindes
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Kurzmeinung: Pflichtlektüre für alle, die Band 1-3 gelesen haben, aber als Stand-alone ein wenig enttäuschend.
Zwei Leben in allen Einzelheiten

2011 erschien Meine geniale Freundin, der erste Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga, vor wenigen Wochen kam der vierte Band der Serie in deutscher Übersetzung als Die Geschichte des verlorenen Kindes in die Buchhandlungen. Ich hatte zwar die ersten drei Teile nicht gelesen, wollte mir dieses Buch aber trotzdem nicht entgehen lassen, war es doch von der Kritik hochgelobt und 2016 für den Man Booker International Prize nominiert worden. Die Hörbuchfassung wird von Eva Mattes gelesen, ein weiteres starkes Argument für die Geschichte. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Hörverlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplar herzlichst bedanken.

Die Neapolitanische Saga, das sind die Lebenserinnerungen von Elena Greco, einer linken Intellektuellen und Schriftstellerin. Sie stammt aus  dem Rione, einem Armenviertel bei Neapel, wo sie in den 1950er-Jahren gemeinsam mit ihrer besten Freundin Raffaella Cerullo, genannt Lila, zur Schule gegangen ist. Dem Hörbuch ist eine kleine Broschüre beigelegt, eine Art „Was bisher geschah“ der ersten 3 Teile, es war also nicht schwer, den Einstieg zu schaffen. Die Geschichte des verlorenen Kindes nimmt den Faden in den späten 1970er-Jahren auf, als Lila und Elena Anfang 30 sind.  Die beiden waren in der Schule Klassenbeste gewesen, aber während Elena Neapel verlassen, studiert und Karriere gemacht hatte, ist Lila nie wirklich aus der Stadt hinausgekommen. Sie hatte sehr jung geheiratet und einen Sohn bekommen, und nach dem Scheitern ihrer Ehe und einer Affäre mit Nino Sarratore, für den sowohl sie als auch Elena schon als Mädchen geschwärmt hatten, ist sie dabei, mit ihrem neuen Mann Enzo eine Firma aufzubauen. Elena hatte einen Universitätsprofessor aus Florenz geheiratet und zwei Töchter zur Welt gebracht, aber jetzt hat auch sie sich mit dem verheirateten Nino Sarratore eingelassen und ist nach Neapel zurückgekehrt. Innerhalb weniger Monate bekommen beide Freundinnen nochmals jeweils eine Tochter, und ab diesem Zeitpunkt wird die Verbindung zwischen den beiden Frauen wieder sehr eng.  Die Erzählung spannt den Bogen bis ins Jahr 2010, wo die Geschichte so endet, wie es im Prolog des ersten Bandes vorweggenommen worden war.

Meine Meinung: Im letzten Teil einer Serie einzusteigen ist natürlich ein Risiko, gleichzeitig hat es den Vorteil, dass man die Geschichte unvoreingenommen lesen und beurteilen kann. Gleich vorweg: Ich würde niemandem empfehlen, meinem Beispiel zu folgen, nicht deswegen, weil der Einstieg zu schwierig wäre oder man die anderen Teile spoilern würde, sondern deswegen, weil ich vermute, dass die Beschreibung der Geschehnisse in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht zum Besten gehört, was Elena Ferrante zu Papier gebracht hat. Ich habe nach dem letzten Kapitel von Band 4 auch in den ersten Band, also den Beginn der Geschichte, hineingehört, und dieser hat mich sofort gefangen genommen. Im Prolog von Band 1 lässt die Autorin die fiktive Schriftstellerin die Erzählung mit folgenden Worten beginnen: 

Ich schaltete den Computer ein und begann, unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist. (Aus: Elena Ferrante, Meine geniale Freundin)

Das tut sie nun, und es ist ihr trotz der nüchternen, unsentimentalen Erzählweise sofort gelungen, mich in das Neapel der 1950er-Jahre mitzunehmen und mich das Schicksal der beiden Mädchen gespannt und mit Empathie verfolgen zu lassen. Bei der Geschichte des verlorenen Kindes dauerte es lange, bis sich dieses Interesse an den Charakteren und ihren Schicksalen einstellte. Bei dem hier beschriebenen Lebensabschnitt hat  ‚in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist‘ für mich nicht funktioniert. Über viele Seiten erzählt Elena von ihrer Beziehung zu Nino, dem mühsamen Hin und Her einer Affäre mit einem verheirateten Mann, der sich nicht zwischen alter und neuer Familie entscheiden kann und, wie auch Elenas Freundin Lila immer wieder anmerkt, schlicht und einfach ein Arschloch ist. Elena, die gebildete linke Feministin, tut genau das, was unzählige Frauen vor und nach ihr getan haben, sie lässt sich emotional manipulieren und hofft, dass Nino sich für sie und die gemeinsame Tochter entscheidet. Und sie berichtet davon, schonungslos und mit der Genauigkeit einer soziologischen Fallstudie. Elena Ferrantes Romane werden genau dafür gelobt, dass sie nämlich das Seelenleben von Frauen offen, ehrlich und ohne Scham darlegen, und dem kann ich auch zustimmen.  Allerdings fand ich die Schilderungen streckenweise so lapidar, wenn auch in allen Details ausgeführt, dass ich kein echtes Interesse für das Schicksal der Protagonistinnen aufbringen konnte.  Auch die Schilderung von Mordanschlägen der Camorra oder von realen Ereignissen wie dem Erdbeben von 1980 und sogar die Geschichte des verlorenen Kindes machten auf mich emotional nicht mehr Eindruck  als entsprechende Berichte in Tageszeitungen. Hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt, das Hörbuch einfach nebenbei weiterlaufen zu lassen, ich denke, ich wäre über die Hälfte des Buches nicht hinausgekommen. Das wäre schade gewesen, denn das Ende hat mich sehr berührt. Es nimmt die Motive des ersten Bandes der Saga wieder auf und sorgt dafür, dass sich der Kreis schließt, während die Geschichte gleichzeitig ein wenig geheimnisvoll bleibt. Wären die vier Bände als ein Buch erschienen, wäre mein Fazit wohl: Die Geschichte der Freundschaft zwischen zwei Frauen als Spiegel der sozialen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Süditalien, auf beeindruckende und berührende Weise dargelegt, allerdings mit einigen Längen.  

Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob Eva Mattes den Roman anders lesen und ihm auf diese Weise eine größere Emotionalität verleihen hätte können, aber ich denke, dass das den Intentionen der Autorin widersprochen hätte. Auf dem Cover des Hörbuchs wird dazu ein Kommentar aus der Süddeutschen Zeitung zitiert: Wenn die Erzählerin ihre Geschichte ursprünglich auf Deutsch vor sich hin gesprochen hätte, dann hätte dies sich wohl angehört wie diese Lesung von Eva Mattes.



Cover des Buches Liebe geht immer (ISBN: 9783746633930)

Bewertung zu "Liebe geht immer" von Myriam Klatt

Liebe geht immer
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Kurzmeinung: Ein witziger Wohlfühlroman mit Mehrwert!
Frau Mai & Frau Mai

Charlotte Mai hat einen netten Job bei einem kleinen TV-Sender, eine nette Wohnung in Berlin Kreuzberg und eine nette alte Nachbarin, die zufällig ebenfalls Mai heißt. Sie träumt von einer Karriere als Moderatorin und würde auch nicht nein sagen, wenn sie von ihrem Freund Oliver, der auch ihr Chef bei Kiez TV ist, einen Heiratsantrag bekäme. Aber eines Tages platzt der Traum.  Sie sei für einen Moderatorinnenjob zu dick, lässt Oliver sie wissen, und, um seiner Meinung Nachdruck zu verleihen, folgt gleich auch noch die Kündigung. Der Sender müsse sparen und schließlich könne sie ja zu ihm ziehen. Danke nein, denkt sich Charlotte, und sagt: ‚F… dich!‘ 

So locker-flockig beginnt Myriam Klatts soeben erschienener Romanerstling Liebe geht immer, und in flottem Erzähltempo geht es weiter.Charlottes esoterische Freundin Matilda hat nicht nur die Kündigung in den Sternen gesehen, sie kann Charlotte auch einen neuen Job vermitteln. Beim Internet-TV-Channel Friendz bekommt sie  den Auftrag, Restaurants zu testen, und gleich auch einen neuen Namen: aus Lotte wird Charlie. Jetzt wird sie’s allen zeigen, und sie weiß, was dafür zu tun ist: ‚Wenn ich Karriere machen will, dann muss ich meinen Arsch hochkriegen, und zwar besser jetzt als gleich‘, sagt sie sich und beginnt ein Selbstoptimierungsprogramm ‚mit der Strenge eines Fräulein Rottenmeiers auf Koks‘. Sie beginnt, Chinesisch zu lernen, schließt sich einer Laufgruppe an, in der sie schnell neue Freunde findet, und rascher, als der Kursleiterin lieb ist, lernt sie bei einem Motivationsseminar ‚Nein‘ sagen. Außerdem trifft sie Lars, der im Gegensatz zu ihr ein ausgezeichneter Koch ist. Hier gibt’s den Trailer zur Geschichte.

Meine Meinung: Myriam Klatts Debütroman ist ChickLit mit Mehrwert. Die Geschichte liest sich ein bisschen wie eine Mischung aus Helen Fieldings Bridget Jones, Hera LindsSuperweib und Susanne Fröhlichs Moppel Ich. Zwischen den einzelnen Kapiteln der Ich-Erzählung gibt es ‚Dr. Hagenbecks Selbsthilfe-Tipps‚, und die lassen sich nicht von der Hand weisen. Sie werfen aber auch die Frage auf: Wer ist dieser Dr. Hagenbeck eigentlich, und woher kommen die Ratschläge?

Dr. Hagenbecks Identität wird erst ganz zum Schluss verraten, und auf dem Weg dort hin hat die Autorin einige Einfälle, die für Abwechslung sorgen: Charlies Begleiter auf der Reise zum besseren Ich ist ein Kater, der ständig einen anderen Namen verpasst bekommt, und ihr neuer Chef Adrian ist nicht nur ein herzensguter Idealist, er spricht auch gerne in Bildern, allerdings nicht in den üblichen: ‚Das kommt gar nicht in die Vase‘, sagt er zum Beispiel, oder ‚auch wenn Paris vielleicht nicht an einem Tag gebaut worden ist, muss man trotzdem gucken, dass man in die Höschen kommt.‘  Die Zunft der Motivationstrainer und Lebensberater kommt in der Geschichte nicht besonders gut weg, aber auch das erhöht den Unterhaltungswert. Bezaubernd fand ich die Figur der alten Nachbarin, die unabhängig von Tageszeit und Anlass immer elegant gekleidet auftaucht und positive Energien versprüht. Sie trägt ganz wesentlich dazu bei, den Roman zu einem vergnüglichen Wohlfühlbuch zu machen, zur perfekten Lektüre für ein gemütliches Wochenende, die auch den einen oder anderen Denkanstoß enthält. Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar und freue mich auf viele weitere Romane der Autorin!

Cover des Buches Was alles war (ISBN: 9783328102571)

Bewertung zu "Was alles war" von Annette Mingels

Was alles war
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Was alles war und wie es so gekommen ist


Susa wurde gleich nach ihrer Geburt von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben und gemeinsam mit einer ebenfalls adoptierten Schwester Maike von liebevollen Adoptiveltern großgezogen. Jetzt arbeitet sie als Meeresbiologin und hat gerade Henryk kennengelernt, einen verwitweten Universitätsprofessor mit zwei Töchtern, als sich ihre biologische Mutter Viola bei ihr meldet. Susa trifft sich zwar mit ihr, kann mit der selbstverliebten Weltenbummlerin aber wenig anfangen. Ihre Kindheit war glücklich und sie hat ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihren Eltern, daher hat sie ihre Herkunftsfamilie nie vermisst, sie freut sich aber, ihre zwei Halbbrüder kennenzulernen, die ebenfalls nicht bei Viola aufgewachsen sind.


Wenige Jahre später ist Susa mit Henryk verheiratet und versorgt neben den beiden Mädchen Rena und Paula auch das gemeinsame Baby Leve. Zu Viola hält sie losen Kontakt und ihrem Bruder Cosmo fühlt sie sich verbunden. Als Susas Vater an Krebs stirbt, fällt es ihr sehr schwer, mit dem Verlust fertig zu werden, und der Wunsch, ihren biologischen Vater zu suchen, einen Amerikaner, der von ihrer Existenz keine Ahnung hat, wird immer stärker. Im Autorentrailer auf  YouTube erzählt Annette Mingels, was die Geschichte mit ihrem eigenen Leben zu tun hat und was für sie eine Familie ausmacht.


Meine Meinung: Auf den ersten Seiten war es nicht einfach für mich, in den Roman hineinzufinden. Die Sprache kam mir etwas holprig vor, keine geschliffen formulierten Sätze, stattdessen ein eher notizhafter Stil. Aber schon nach kurzem war die anfängliche Skepsis verschwunden. Annette Mingels erzählt eine Geschichte, die sich auch in der Realität genau so abspielen könnte,  in Szenen, die sich jeden Tag dutzende Male genau so wiederholen, und sie findet dafür die richtigen Worte und den richtigen Rhythmus. Es gibt keine großen Dramen und überraschenden Wendungen,  nur  alltägliche Gespräche, Konflikte, Freuden und Probleme, dazwischen die eine oder andere E-Mail, in der sich Susa mit Viola oder Cosmo austauscht, ohne dass sie einander schockieren oder absichtlich verletzen wollen. Diese Unaufgeregtheit in der Erzählweise hat die Geschichte für mich umso glaubwürdiger und berührender gemacht, und manchmal musste ich das Buch weglegen und tief durchatmen. Trotzdem oder gerade deswegen wünsche ich dem Roman noch viele begeisterte Leserinnen.

Cover des Buches Sweet Tooth (ISBN: 9780099582038)

Bewertung zu "Sweet Tooth" von Ian McEwan

Sweet Tooth
NiamhOConnorvor 6 Jahren
Ian McEwan goes MI5

Serena Frome, Tochter eines anglikanischen Bischofs, ist noch keine 25, bildhübsch und belesen und hat einen Abschluss in Mathematik von der Universität Cambridge. Ihren neuen Job beim britischen Geheimdienst MI5 verdankt sie aber nicht ihren akademischen Leistungen, sondern ihrem um drei Jahrzehnte älteren Geliebten Tony Canning. Hätte Ian McEwan den Beginn seines Romans Sweet Tooth (auf Deutsch: Honig)  im 21. Jahrhundert angesiedelt, würden Serena zu Beginn ihrer Tätigkeit ein anspruchsvolles Trainingsprogramm für Geheimagentinnen und im Anschluss daran eine Karriere im Kampf gegen rechten oder linken Terror oder gegen Islamismus erwarten. Serena tritt ihren Dienst aber im Jahr 1972 an, und daher verbringt sie ihre Tage mit dem Tippen und Ablegen von Akten, und ihr erster Auftrag außerhalb der Büromauern besteht darin, gemeinsam mit ihrer Kollegin Shirley Shilling eine vom Geheimdienst gemietete Wohnung zu reinigen, um die Spuren des letzten Einsatzes zu beseitigen. Dort findet sie einen Zettel mit einem Hinweis auf Tony, der sich in der Zwischenzeit sowohl von ihr als auch von seiner Ehefrau getrennt hat.

Auch der nächste Auftrag ist nicht besonders spektakulär, kommt aber zumindest Serenas Interesse für Literatur entgegen: Im Rahmen des Projekts Sweet Tooth (in der deutschen Übersetzung Operation Honig) besucht sie getarnt als Mitarbeiterin einer Stiftung den noch unbekannten Schriftsteller Thomas Haley und bietet ihm finanzielle  Unterstützung an, die es ihm ermöglichen soll, sich ganz aufs Schreiben zu konzentrieren.  Die Kandidaten für ein derartiges Stipendium sind sorgfältig ausgewählt: Es werden nur Autoren ins Programm aufgenommen, von denen der MI5 annehmen kann, dass ihre zukünftigen Bücher eine pro-westliche, antikommunistische Ideologie transportieren werden. Wer sie wirklich finanziert, erfahren die Stipendiaten nicht. Wie nicht anders zu erwarten, verliebt sich Serena in Tom, kann sich aber trotzdem oder gerade deswegen nicht dazu durchringen, ihm die Wahrheit zu erzählen.

Meine Meinung: Die Geschichte, an die sich Serena viele Jahrzehnte später erinnert, ist zwar im Geheimdienstmilieu angesiedelt, aber eher eine Beziehungs- als eine Spionagegeschichte. Sie lässt das London der frühen 1970er-Jahre wiederauferstehen: Die Tochter aus gutem Hause wohnt in einem möblierten Zimmer,  kann dank der Pille gefahrlos Liebschaften eingehen, spaziert durch die Carnaby Street und raucht mit dem Hippyfreund ihrer Schwester auch schon mal einen Joint.  Beim MI5 ist man mit dem Kalten Krieg und den Anschlägen in Nordirland beschäftigt und friert in wegen der Ölkrise ungeheizten Büros. Man macht sich Gedanken über den EU-Beitritt Großbritanniens, zweifelt an den Vorteilen des Zukunftsprojekts Channel Tunnel und freut sich, wenn die linken Gewerkschaften Rückenwind verlieren. 

Die Sprache, in der Serena all das erzählt, ist ebenso elegant und kultiviert wie sie selbst, und Ian McEwan nimmt für die Geschichte doch auch Anleihen bei seinen Kollegen aus dem Geheimdienstgenre. Ian Flemming wird ausdrücklich erwähnt, und eine Anspielung auf Graham Greene ist wohl der „vierte Mann“, von dem wiederholt die Rede ist. Auch die Atmosphäre der Geschichte hat mich teilweise an Graham Greene erinnert, aber während Greenes Charaktere häufig von Gewissenskonflikten geplagt werden, bleiben bei dieser Geschichte alle, einschließlich Serena, emotional ein wenig unbeteiligt. Wenn eine Liebe scheitert, wendet sie sich nach kurzer Trauerphase der nächsten zu, und die Gefühle aller Beteiligten sind gerade stark genug, um die Geschichte glaubhaft voranzutreiben. Das gibt dem Roman eine augenzwinkernde Leichtigkeit, die den Twist am Ende nur logisch erscheinen lässt. Dieser ist zwar keine ganz neue schriftstellerische Erfindung, aber gekonnt umgesetzt. 



Über mich

Leserin, Bloggerin - Nur gute Bücher sind eine Besprechung wert!

Lieblingsgenres

Krimis und Thriller, Liebesromane, Historische Romane, Biografien, Literatur, Unterhaltung

Freund*innen

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks