Es ist zu begrüssen, dass Zitelmann die Wirkung verschiedener Wirtschaftssysteme an realen historischen Beispielen zeigen will. Damit hebt er sich wohltuend von anderen Autoren ab, die lediglich theoretische Behauptungen aufstellen. Wenn am Ende aber doch eine Schlussfolgerung gezogen werden soll, welches Wirtschaftssystem nun das geeignetste ist, müssten eben doch zumindest die Begriffe differenziert genug verwendet werden. Daran mangelt es leider.
Gleich zu Beginn stellt Zitelmann klar, dass er die Begriffe ‚Marktwirtschaft’ und ‚Kapitalismus’ synonym verwendet. Er unterscheidet rudimentär zwei Möglichkeiten, eine Wirtschaft zu organisieren: Im ersten Fall gibt es kein Privateigentum. Planungsbehörden legen fest, was in welcher Menge produziert wird. Im zweiten Fall wird das Privateigentum garantiert. Aufgrund der geschilderten Beispiele soll der Leser zwischen diesen zwei Möglichkeiten auswählen. Wer nach weiteren, differenzierteren Modellen fragt, muss selbst recherchieren.
In den folgenden Kapiteln zeigt er an einer Reihe von weitgehend überzeugenden Beispielen rund um den Globus, dass eine möglichst freie Marktwirtschaft zu mehr Wohlstand für alle führt, insbesondere auch für die einfachen Arbeiter. Wenn z. B. in England vor Thatcher fast während einem Drittel des Jahres wegen oft absurden Forderungen gestreikt wurde und wenn die Arbeiter sogar von Arbeitern anderer Firmen zum Streik gezwungen werden konnten, dann leuchtet sogleich ein, dass der Wohlstand sinken musste. Es tut gut, sich wieder einmal vor Augen zu halten, mit welch grotesken staatlichen Eingriffen das Unternehmertum gebremst wurde und z. T. heute noch gebremst wird. So stimme ich Zitelmann über weite Strecken zu, wenn er für freien Markt plädiert. Wer für die Allgemeinheit etwas leistet, soll dafür belohnt werden. Er soll Eigentum anhäufen dürfen und dieses Eigentum soll geschützt sein.
Nun kann man durchaus zustimmen, dass Planwirtschaft zu verheerenden Auswüchsen führen kann. Daraus zu folgern, jegliche soziale Abfederung des freien Marktes sei schädlich, ist etwas ganz anderes. Die Frage ist: Wie viele verhungernde Kinder soll der Staat akzeptieren, bevor er in den Markt eingreift? Und: Wie brutal soll der Staat Massenproteste unterbinden, wenn die Familien der verhungerten Kinder auf die Strasse gehen? –Immerhin findet Zitelmann auch für die Militärdiktatur unter Pinochet einige positive Worte. Zitelmann grenzt sich zwar gegen Pinochets Folterungen ab. Nicht schlüssig zeigen kann er aber, ob Pinochets kapitalistischer Weg tatsächlich völlig von der massiven Gewalt getrennt werden kann. Denn nach dem neoliberalen Modell sinken die Löhne so lange, bis ein Land wieder konkurrenzfähig ist. Dass Menschen einem zu tiefen Lohn verhungern und deshalb gar nicht mehr arbeiten oder dass es bei zu tiefen Löhnen zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, ignoriert das Modell.
Es wäre also spannend gewesen, wenn Zitelmann nicht nur die krassen Verfehlungen des Sozialismus geschildert hätte, sondern auch z. B. den „New Deal“ unter Franklin D. Roosevelt. Immerhin sind die USA nach Roosevelts radikalem Sozialprogramm nicht zusammen gebrochen, sondern von einem hungernden Land zur Weltmacht Nr. 1 aufgestiegen. Auch wenn Zitelmann eigentlich zeigen wollte, wie verheerend jede Form von staatlichen Eingriffen ist, so zeigen solche Beispiele vor allem, wie wichtig es ist, zwischen freiem Markt und sozialer Abfederung ein gutes Gleichgewicht zu finden.
Leider vermeidet Zitelmann eine Stellungnahme, wie dieses Gleichgewicht angesichts der globalen Konzerne mit Quasi-Monopolstellung und angesichts der jüngsten der ‚too big to fail’ Problematik aussehen könnte. Etwas wirr scheint hier sein Bericht über die Immobilienkrise von 2008. Zu Recht kritisiert er die US-Regierungen unter Carter und Clinton, die von den Banken absurderweise verlangten, Hypothekendarlehen auch an kreditunwürdige Haushalte zu vergeben. Dass die US-Regierung damit eine Mitschuld an der Krise trägt ist nicht zu bestreiten. Die ganze Schuld dem Staat zuzuweisen, ist aber nicht haltbar. Denn richtig Schwung bekam die Immobilienblase erst auf dem freien Markt. Und als schliesslich auch europäische Banken und Investoren bei dieser Aktion mitmachten, taten sie dies auch nicht im Auftrag des Staates.
Auch im Totalversagen der Ratingagenturen sieht Zitelmann kein Marktversagen: „Von einem Markt und freiem Wettbewerb kann man hier nicht sprechen, denn es gab und gibt ein Oligopol weniger Ratingagenturen...“, schreibt er dazu nur und bleibt die Antwort schuldig, durch welche Eingriffe die Staaten dieses Oligopol verursacht haben sollen. Für mich gehört dies zum Unverständlichsten an der Finanzkrise: Weshalb sich heute noch irgendjemand für die Ratings von S&P, Moody’s und Fitch interessiert, nachdem sie sich derart blamiert haben.
Von diesen Vorbehalten abgesehen, sind die Betrachtungen über die Vorteile des freien Marktes und die Problematik staatlicher Eingriffe durchaus wertvoll und empfehlenswert.
‚Kapitalismus’ bedeutet aber viel mehr als freier Markt. ‚Kapitalismus’ bedeutet nicht nur, dass das Eigentum geschützt wird, sondern dass sich das Eigentum von selbst vermehrt . Wer Vermögen, also Kapital, besitzt, soll Zinsen kriegen. Wer reich genug ist, soll noch reicher werden, auch wenn er gar nicht mehr arbeitet. Ein Milliardär z. B., der sein Vermögen ungeschickt anlegt, verdient auch bei den heutigen tiefen Zinsen problemlos 10-100 Millionen pro Jahr. Ohne zu arbeiten. Wenn er diese 10-100 Millionen nicht ausgibt, wird er reicher: Das bedeutet Kapitalismus.
Zitelmann ist der Ansicht, der Staat sei verpflichtet, nicht nur das Eigentum, sondern auch den Zuwachs des Eigentums sicher zu stellen. So erklärt er beispielsweise, die Zentralbanken hätten die Finanzkrise 2008 verursacht. Denn durch die niedrigen Zinssätze seien die Investoren „in immer riskantere Aktien und Anleihen getrieben“ worden. Denn institutionelle Investoren hätten „ihren Kapitalgebern eine bestimmte Verzinsung in Aussicht gestellt.“ Nachdem Zitelmann während 170 Seiten jeden staatlichen Eingriff ablehnt, soll also der Staat dafür sorgen, dass die Vermögenden den von ihren Investoren versprochenen Zins erhalten. Kapitalismus bedeutet genau das: Dass sich die Geldvermögen ohne Risiko und ohne Arbeit von selbst vermehren. Das ist etwas völlig anderes als freier Markt. Deshalb ist es verheerend, wenn Zitelmann die Begriffe ‚freie Marktwirtschaft’ und ‚Kapitalismus’ synonym benützt.
Tatsächlich hat er zwar die Marktwirtschaft sehr gut verstanden, den Kapitalismus aber, also die Selbstvermehrung der Vermögen, umso weniger.
Die Selbstvermehrung der Vermögen ist ein künstliches Konstrukt. Reale Vermögenswerte wie Lebensmittel, Maschinen oder Immobilien zerfallen, wenn sie nicht gepflegt werden. Mit dem Geld haben wir aber einen Vermögenswert geschaffen, der nicht nur nicht zerfällt, sondern sich sogar durch Zins und Zinseszins vermehrt . Bezahlt wird diese Vermögensvermehrung von der Allgemeinheit. Denn in allen Dingen, die wir kaufen, und in allen Dienstleistungen, die wir beziehen, steckt ein Kapitalanteil. Dieser beträgt heute je nach Ware 30-50% des Kaufpreises und deckt die Zinsen, welche die Produzenten für ihre Kredite, Hypotheken und Shareholder abgeben müssen. Kapitalismus ist also vor allem ein sehr teures Wirtschaftssystem: 30-50% unserer Ausgaben zahlen wir allein dafür, dass unser Geldsystem funktioniert. Angesichts dieser ungeheuren Kosten, wird erstaunlich wenig darüber diskutiert, ob der Kapitalismus wirklich das beste System ist.
Wenn Zitelmann nun für den Kapitalismus plädiert, dabei aber nur Argumente für den freien Markt präsentiert und die Selbstvermehrung der Vermögen völlig ausblendet, behindert dies eine sachliche Diskussion. Tatsächlich hat er diesen Punkt aber gar nicht verstanden. Er schliesst sein Buch nämlich mit einem Lamento, wie stark die Schulden weltweit steigen: „Rechnet man die Verschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten in den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern zusammen, dann belaufen sie sich laut IWF-Bericht von Oktober 2017 auf 135 Billionen Dollar bzw. 235 Prozent (!) der jährlichen Wirtschaftleisung Damit sind die Schulden so hoch wie niemals zuvor.“
Das ist lustig. Denn die kumulierten Schulden sind immer gleich hoch wie die kumulierten Geldvermögen. So wird nämlich auf der ganzen Welt das Geld geschaffen. Wenn Zitelmann von den Staaten verlangt, dass sie den Vermögenszuwachs garantieren, dann verlangt er gleichzeitig, dass die Staaten sicherstellen, dass die Verschuldung wächst. Die Schulden sind das Spiegelbild der Geldvermögen. Von den Regierungen zu fordern, dass sie das Wachstum der Geldvermögen garantieren, aber gleichzeitig das Wachstum der Schulden stoppen, ist Unsinn.
Zitelmann liefert einige bemerkenswerte Argumente für die freie Marktwirtschaft. Zur Schuldenproblematik , zur grundsätzlichen Instabilität des Finanzsystems, zur ‚too big to fail’ Problematik und zur Problematik globaler Konzerne mit Quasi-Monopolstellung trägt sein Werk leider nichts bei. Siehe dazu: https://fragen-raetsel-mysterien.ch/sample-page/das-zinsproblem-die-tieferen-ursachen-der-schuldenkrise/