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RainerSchneider

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches Das Jahr 1000 (ISBN: 9783406755309)

Bewertung zu "Das Jahr 1000" von Valerie Hansen

Das Jahr 1000
RainerSchneidervor 3 Jahren
Kurzmeinung: Spannende Zeitreise
Lesen. Lernen. Weitersagen.

Die wichtigsten Sätze schreibt Valerie Hansen in ihrem Buch „Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann“ ganz am Schluss: „Gewiss kam nicht jedem die Globalisierung zugute, doch wer offen war für das Fremde, schnitt besser ab als derjenige, der alles Neue ablehnte. Das galt ihm Jahr 1000 und gilt heute noch.“

Ein paar Seiten zuvor stellt sie nüchtern fest, dass es müßig sei, darüber zu streiten, wann die europäische Vorherrschaft endete – heute sei sie jedenfalls zu Ende.

Vielleicht hätte man diese Sätze und Erkenntnisse an den Anfang des Buches stellen sollen, um der Leserschaft die Aktualität und die Brisanz dieses auf den ersten Blick so unscheinbaren Geschichtsbuches deutlich zu machen. Jede Dynastie, jedes wohlhabende Reich, jede Familie, wie auch immer man einen gesellschaftlichen Verband bezeichnen möchte, kann für eine gewisse Zeit Vorteile aus den eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten ziehen – bis jemand kommt, der mit neuem Wissen und neuen Techniken die bis dahin Mächtigen zu Fall bringt.

Faktenreich zieht Valerie Hansen um den Globus der Zeit um das Jahr 1000, beschreibt Lebensweisen und Handelsrouten, wie  z.B. die erstaunlichen Navigationskenntnisse, die die Seefahrer schon vor Erfindung des Kompasses besaßen. Anhand der Sterne,  der Wellen, des Schlammes auf dem Meeresboden fanden sie Routen von Asien nach Afrika, entdeckten Neuseeland und Australien, legten größere Entfernungen zurück als Jahrhunderte später Christopher Kolumbus.

Ebenso gab es lange vor der Ankunft der Europäer in Nordamerika ein ausgeklügeltes Wegenetz, mittels dessen die indigenen Völker Handel miteinander trieben.

Überhaupt waren die globalen Vorfahren der heutigen Welt sehr ähnlich: es ging schon damals um Bodenschätze, Waren und Arbeitskräfte, die man in jener Zeit allerdings noch Sklaven nannte. Die beste Qualität zum günstigsten Preis entschied auch im Jahr 1000 über den Markterfolg – und zu diesem kam man durch technische Weiterentwicklung und Schutz des Wissens. Marco Polo glaubte noch, dass die Qualität des chinesischen Porzellans daher komme, dass man es dreißig – vierzig Jahre in der Erde vergrub. Er hatte keine Ahnung, wie die Brennöfen funktionierten.

Wer eine überaus spannende und lehrreiche Zeitreise unternehmen möchte, sollte zu Valerie Hansens Buch greifen.

Cover des Buches Kurze Geschichte des Antisemitismus (ISBN: 9783406755781)

Bewertung zu "Kurze Geschichte des Antisemitismus" von Peter Schäfer

Kurze Geschichte des Antisemitismus
RainerSchneidervor 4 Jahren
Kurzmeinung: kurz, kürzer, kürzest
kurz und knapp

Peter Schäfer, renommierter Wissenschaftler und zuletzt Direktor des Jüdischen Museums Berlin, legt mit dem schmalen Band nun ebenfalls (wie z.B. Heinrich August Winkler) eine Kurzfassung seines Gesamtwerkes vor. In acht knappen Kapiteln skizziert er die Ursachen des Antisemitismus, dessen Entwicklung über die Jahrtausende und kann – naheliegender Weise – auch einen Ausblick auf dessen wahrscheinlichen Fortgang geben.

Wenn man sich vor Augen hält, dass allein Schäfers Werk über die Entstehung des Antisemitismus in der Antike knapp 450 Seiten umfasst – übriggeblieben sind für den aktuellen Titel etwa zwanzig – muss jedem Interessierten klar sein, wie stark hier gekürzt wurde.

Selbstredend gibt es an Schäfers Ausführung kaum etwas zu deuteln, jedoch hinterlässt diese extreme Zusammenfassung einen unbefriedigenden Eindruck. Was als Übersichtswerk für das breite Publikum gedacht ist, muss an manchen Stellen willkürlich wirken, eben weil für die Gesamtschau stark ausgedünnt wurde.

Und so kann man sich des Gefühls nicht ganz erwehren, es ginge dem Autor vor allem darum, einen kurzen geschichtlichen Anlauf zu nehmen, um die eigene Position im Streit um die BDS (Boycott, Disvestment and Sanctions)-Bewegung darzulegen. Dieser Streit führte 2019 zu seinem Rücktritt als Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Darauf an dieser Stelle einzugehen ist müßig. Ob es dazu dieser „kurzen Geschichte des Antisemitismus“ bedurfte, kann zumindest hinterfragt werden.

Cover des Buches Karl Lagerfeld (ISBN: 9783406756306)

Bewertung zu "Karl Lagerfeld" von Alfons Kaiser

Karl Lagerfeld
RainerSchneidervor 4 Jahren
Kurzmeinung: Passt.
Eine unprätentiöse Beschreibung

Gewiss hätte Karl Lagerfeld diese Biografie gefallen, die Alfons Kaiser über ihn verfasst hat. Klare Linienführung, keine Schnörkel und nur manchmal der Versuch einer beziehungsreichen Spielerei.

Kaiser, seines Zeichens Verantwortlicher für das Ressort „Deutschland und die Welt“ mit dem Spezialgebiet Mode bei der FAZ (diese Stellenbeschreibung muss man auch erst einmal finden), hielt einst  für das Frankfurter Allgemeine Magazin den Kopf hin für die Karikaturen, zu denen sich Lagerfeld im hohen Alter berufen fühlte, mithin also ein Kenner des Metiers und des Menschen, dessen Lebensweg und -werk er hier schildert.

Und so erfährt man einiges über Lagerfeld und seine Familie. Manches (die Eltern waren Nazis) mochte man geahnt haben, anderes (er war ein vehementer Gegner des Antisemitismus) ist wohlbekannt, vieles aber kommt erst durch die akribische Arbeit Kaisers ans Tageslicht, wie z.B. die Umstände, unter denen die durchaus mögliche Freundschaft zu Wolfgang Joop auf immer unmöglich wurde.

Detailreich schildert Kaiser den – trotz aller Privilegien – durchaus mühevollen Aufstieg des jungen Lagerfeld, sowie dessen intensive Freundschaft zu Yves Saint Laurent (und die anschließende ebenso intensive Feindschaft), die Beziehung zu seiner Lebensliebe Jaques de Bascher und das durchaus skurrile Verhältnis zur Birmakatze Choupette.

Neben den eher privaten Themen beschreibt Kaiser aber vor allem den unermüdlichen Arbeiter, der pro Jahr hunderte Entwürfe für immer mehr Auftraggeber zeichnete, den Erneuerer,  der wie ein Getriebener nie mit dem Erreichten zufrieden war (das Erreichte langweilte ihn) und so bis über seinen Tod hinaus die Mode und ihre Präsentation in immer wieder neue Dimensionen vorantrieb.

Alfons Kaiser gebührt das Verdienst, Lagerfeld kein Denkmal gesetzt zu haben (das hätte KL gehasst), sondern dessen Biografie mit jener fast preußischen Strenge zu Papier gebracht zu haben, die auch dem Porträtierten eigen war. Dafür fünf Sterne. 

Cover des Buches Wie wir wurden, was wir sind (ISBN: 9783406756511)

Bewertung zu "Wie wir wurden, was wir sind" von Heinrich August Winkler

Wie wir wurden, was wir sind
RainerSchneidervor 4 Jahren
Kurzmeinung: Kurz und bündig
Ein schneller Flug durch die deutsche Geschichte

Winkler, wohl der Dojen der Historiker des Landes, gönnt sich und den Lesern das Vergnügen eines in der Tat kurzen Abrisses der deutschen Geschichte. Wer seine vierbändige „Geschichte des Westens“ kennt oder auch nur den speziell auf die deutsche Historie zugeschnittenen Band „Der lange Weg nach Westen“, kann sich den Kauf dieses Buches getrost sparen, denn für diejenigen dürften nur seine Gedanken zur Corona-Krise wirklich neu sein.

Wer aber – und auf diese Leserschaft zielt das Buch ab – ein kurzes, prägnant und hervorragend geschriebenes Geschichtswerk sucht, das die wesentlichen Geschehnisse der letzten Jahrhunderte für dieses Land umreißt, der wird mit „Wie wir wurden, was wir sind“ einen angenehmen Nachmittag verbringen.

Es ist müßig, die Inhalte an dieser Stelle nachzuerzählen (man geriete ob der Kürze dann leicht in Konkurrenz zum eigentlichen Buch). Hervorgehoben sei daher nur, dass Winklers Sorge vor allem darin liegt, dass die Deutschen sich – in durchaus guter Absicht vielleicht – erneut zum Zuchtmeister der Welt aufschwingen, weil sie meinen, sie hätten aus der eigenen mörderischen Geschichte gelernt und wüssten daher, was gut und richtig ist.   Er führt einige Beispiele deutscher Politik aus der Nachwendezeit an, die aufgrund ihrer moralischen Selbstüberhöhung geeignet waren, den europäischen Zusammenhalt zu zerstören.

Das betrifft auch die Lehren, die Deutschland glaubt aus der Naziherrschaft ziehen zu können. Wer in Europa ein Ersatzvaterland und in der Nation etwas Überkommenes, endgültig zu Überwindendes sehen will, sollte aufpassen, sich nicht erneut zum Hegemon aufzuschwingen. Dass Deutschland Nation stets mit Nationalismus gleichsetzt, darf nicht dazu führen, dass es abermals versucht, andere Nationen auszulöschen – nur diesmal eben mit den Mitteln einer anmaßenden Politik.

Cover des Buches Fürsten im Fadenkreuz (ISBN: 9783406750380)

Bewertung zu "Fürsten im Fadenkreuz" von Yuval Noah Harari

Fürsten im Fadenkreuz
RainerSchneidervor 4 Jahren
Kurzmeinung: Tricksen, Tarnen, Täuschen
James Bond im Mittelalter

Ein Frühwerk Hararis hat es nun auch zu einer deutschsprachigen Ausgabe gebracht, sein 2007 erschienenes „Special Operations in the Age of Chivalry, 1100-1550“. Und, anders als es der deutsche Titel glauben machen will, geht es Harari auch eher um Spezialkommandos und Fragen der„Chivalry“, also der Ritterlichkeit. Oder besser: Das Bild, das wir von der Ritterlichkeit haben.

Im ersten Teil seines Werkes spürt Harari der Frage nach, was Spezialkommandos eigentlich sind und für welche Ziele sie sich eignen. Dies begrenzt er nicht auf das Mittelalter an sich. Der Militärhistoriker Harari schlägt einen Bogen zur Jetztzeit und beleuchtet schlüssig, warum eine erfolgreiche Geheimoperation (denn nichts anderes sind Spezialkommandos) im Verlauf einer militärischen Auseinandersetzung von entscheidender Bedeutung für Gewinn oder Niederlage, noch mehr aber für die Dauer eines Krieges und die Zahl der Opfer sein kann.

Im zweiten Teil nähert er sich dann der Frage, ob das Bild von „Ehre und Männlichkeit“ haltbar ist. Gemeint ist die romantische Legende, dass es für einen Ritter von größerer Bedeutung gewesen sei, sich „ehrbar“ im Kampf präsentiert zu haben, als ihn zu gewinnen.

Soweit die Quellen das hergeben, analysiert er den Ablauf ausgewählter Schlachten und Belagerungen und kommt zu dem Schluss, dass es – anders als die Regeln der Ritterlichkeit das eigentlich zuließen – praktisch kaum einen Feldzug ohne Spitzeldienste, Verrat, List und Tücke gegeben hat. Und dass das Trojanische Pferd zwar das bekannteste, aber beileibe nicht das einzige Beispiel für findige Spezialoperationen ist.

Über fünf Jahrhunderte erstreckt sich Hararis Forschungsbericht, der sich, wie er selbst betont, vor allem an interessierte Laien wendet. Und so schildert er mit offensichtlicher Freude am Detail das Zustandekommen diverser Listen und zweckmäßiger Bündnisse, spart den neuerlichen Verrat nach dem Sieg und auch die Grausamkeit dieses Zeitalters nicht aus. Für Zartbesaitete eignen sich manche Passagen ausdrücklich nicht. Wer jedoch einen Einstieg in das Thema sucht und den populären Ton eher mag als die staubtrockene Wissenschaftlichkeit wird hier bestens bedient.

Cover des Buches Dieses Amerika (ISBN: 9783406749209)

Bewertung zu "Dieses Amerika" von Jill Lepore

Dieses Amerika
RainerSchneidervor 4 Jahren
Kurzmeinung: Gut gemeint, aber ...
wenig überzeugend

Ein kurzer Essay, der sich erstaunlich langwierig liest. Am ehesten kann man sein Zustandekommen verstehen, wenn man ihn als Anhang von Lepores brillantem Werk „Diese Wahrheiten“ sieht. 

„Dieses Amerika“ ist eine sehr US-amerikanische Sicht auf Nationalismus und Liberalismus, die sehr viel Neues leider nicht bringt. Alles ist gut gemeint und wir wissen schnell, worauf Lepore hinauswill, aber wirklich zwingend ist dieser Ansatz nicht. Ja, die Linke hat den Begriff „Nation“ spätestens Anfang der 70er Jahre aufgegeben und ja, die Rechte hat diesen Begriff gekapert. Daraus aber zu folgern, die Linke müsse den Begriff zurückerobern, damit alles gut wird, ist ein Trugschluss.

Vielleicht erinnert sich noch jemand an die DDR der 80er Jahre, als es den SED-Oberen aufging, dass der Staat, für den sie standen, in der Bevölkerung nicht sonderlich beliebt war. Also verfielen sie auf die grandiose Idee, der DDR eine Nationalgeschichte zu geben, ja, die Geschichte so umzuschreiben, dass die historische   Entwicklung zwangsläufig die Entstehung der DDR erklärte und die Bürger nun allen Grund hätten, stolz auf ihre Nation? ihr Land?  ihren Staat? ja, was denn nun? zu sein. Aufzulösen vermochte man diese Konflikte nie und so blieb die DDR ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“, der wenig Identitätsstiftendes hatte. Und schon damals stärkte man mit dieser Aktion lediglich den vorhandenen Nationalismus, der sich nun, da die SED ihn für sich entdeckte, bestätigt fühlte und wieder aus seiner dumpfen Ecke hervorstampfte.

Richtig dagegen liegt Lepore, wenn Sie fordert, die Geschichte um die Kapitel (sagen wir besser: den dickeren Teil des Buches) zu ergänzen, in denen diejenigen vorkommen, die in der Weltsicht der jeweils Herrschenden keine Rolle spielten, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Aber das ist ein anderes Thema.

Auch Lepore vermag es also nicht, den Fesseln des Begriffs „Nation“ zu entkommen, sie zu sprengen. Wir wissen nur, dass sie diesen Begriff den Demagogen entreißen möchte und ihn positiv besetzen will. Wenn man ihre Bemühungen vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte liest und ihren vielen Beispielen folgt, bekommt diese Idee durchaus einen gewissen Charme, mehr aber auch nicht. Die Nation ist für die Entwicklung der Gesellschaft der heutigen und der künftigen Zeit bedeutungslos. Schon gar nicht ist sie, wie der Verlagstext glauben machen will, „der Garant für Recht und Gesetz und das wirkungsvollste Instrument, um die Macht der Vorurteile, Intoleranz und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.“

Um es frei nach Karl Popper zu sagen: Nur das Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Institutionen stiftet Identität und verbessert das Zusammenleben der Menschen.

Cover des Buches Novozän (ISBN: 9783406745683)

Bewertung zu "Novozän" von James Lovelock

Novozän
RainerSchneidervor 4 Jahren
Das Vermächtnis eines Genies …

… oder vielleicht doch noch nicht. Denn der nunmehr hundertjährige Universalgelehrte arbeitet bereits an seinem nächsten Buch. Nichtsdestotrotz liefert der schmale Band die Essenz einer Welt- und Wissenschaftssicht, die unsere Welt schon wenigstens einmal gerettet hat - es war Lovelock, der den Klimakiller FCKW nachgewiesen hat.  

Mit seiner Gaia-Hypothese hat Lovelock vor Jahrzehnten einen Ansatz geliefert, der ein umfassenderes, ganzheitliches Verständnis unseres Planeten möglich macht. Die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht, wächst und gedeiht, besteht nicht aus konkurrierenden Elementen, sondern ist ein komplexer, sich selbst organisierender Organismus. Alles darauf hat seine Funktion – und seine Zeit. Bedurfte es eines unvorstellbar langen Zeitraumes, um den Menschen hervorzubringen, so wird die Erde eines noch fernen Tages ohne ihn weiterexistieren. Dann werden vielleicht Cyborgs die intelligenteste Art sein, die existiert.

Cyborgs? Nun, wer auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest immer noch „42“ antwortet, sollte „Novozän“ lesen. Denn Lovelock stellt genau diese Frage und kommt zu der verblüffenden Antwort: Information. Information nicht im Sinne der Wettervorhersage, sondern als fundamentale Eigenschaft des Kosmos, dessen Grundeinheit das Bit ist.

Technik und Wirtschaft, so schreibt Lovelock denn auch, sollten die Probleme unseres Energiebedarfes behandeln, nicht die Politik: „Fakten durch Glauben zu ersetzen wird die Bedrohung durch Umweltkatastrophen nicht beseitigen.“ Ein lesenswertes, weil angstfreies Plädoyer für die Kraft der Vernunft.

Cover des Buches Die Übernahme (ISBN: 9783406740206)

Bewertung zu "Die Übernahme" von Ilko-Sascha Kowalczuk

Die Übernahme
RainerSchneidervor 5 Jahren
Kurzmeinung: Leseempfehlung!
Spannende Geschichtsstunde

Noch ein Buch über die Wiedervereinigung und die Folgen der Transformation in den 90ern - die "Verbrechen der Treuhand" - braucht eigentlich kein Mensch. Und schon gar nicht von einem Projektleiter der Stasiunterlagenbehörde.
Oder doch? Der Titel "Die Übernahme" will ein solches Buch zwar suggerieren; geschrieben hat Ilko-Sascha Kowalczuk jedoch etwas ganz anderes. Sein Essay entwirft auf knapp 300 Seiten eine historisch fundierte und sehr weit in die Geschichte zurückgreifende Analyse der Entwicklungen in jenem Landstrich, der heute gemeinhin als Ostdeutschland bezeichnet wird.
Ja, auch die Ereignisse rund um das Jahr 1989 werden thematisiert; der Transformationsprozess beleuchtet. Und da beginnen auch schon die Unterschiede zu anderen Publikationen. Die Neunzigerjahre waren eben nicht allein durch das Wirken der Treuhand bestimmt; eine ganze Reihe von Akteuren versuchte in diesen Jahren ihre Interessen durchzusetzen: Politiker aller Parteien, Gewerkschaftler, die im Sinne ihrer Westklientel gegen die Interessen der Ostdeutschen kämpften, Altkader, Seilschaften, Wirtschaft und natürlich auch Glücksritter.
Präzise arbeitet Kowalczuk die Rollen der einzelnen Spieler heraus und beleuchtet die globalen Zusammenhänge und Zwänge, das atemberaubende Tempo der Entwicklungen und die großen, bislang kaum beschriebenen Hemmnisse, die einer zukunftsfesteren Bewältigung dieses wohl besser als "große Disruption" zu bezeichnenden Gesellschaftswandels im Weg standen. Denn die Verwerfungen jener Zeit basierten zu einem guten Teil auf dem Selbstbetrug des Westens, der sich angesichts des zusammenbrechenden Ostblocks auf der Siegerstraße und gefeit vor Systembrüchen im eigenen Lager wähnte. Tatsächlich aber befanden sich auch dort ganze Industrien und Regionen im Niedergang, ohne, dass die Politik darauf mit nachhaltigen Konzepten reagiert hätte. Ganz einfach, weil man meinte, es gebe gar kein Problem, alles könne weiterlaufen wie gehabt.
Generell geht es Kowalczuk vor allem um Fragen, die er auf der Basis seiner nunmehr fast dreißig Jahre währenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Themen überhaupt erst zu stellen vermag: Warum erfüllte sich die Erwartung nicht, dass sich die in der DDR eingeübten Verhaltensweisen einfach "auswachsen" würden? Warum sind auch die nachfolgenden Generationen für populistische Politiker sowohl von links als auch von rechts so empfänglich? Warum gerät die parlamentarische Demokratie weltweit ins Schlingern?
Ein verräterisches Signal für die aktuellen Verhältnisse sieht Kowalczuk sehr zu recht in der Selbstrekrutierung der Eliten, in der mangelnden sozialen Mobilität. Ganz ähnlich war die Situation in der DDR in ihrer Endphase. Bei aller Unvergleichbarkeit verhindern diese Entwicklungen, die Welt als das wahrzunehmen was sie ist: vielgliedrig und vielfarbig.
Spannend wird es überdies dann, wenn er auf die tiefe Verwurzelung demagogischer Phrasen in der deutschen und europäischen Geistesgeschichte verweist - und wie schnell der romantische Traum von der homogenen, konfliktfreien Welt in einem bisher noch nicht erlebten Autoritarismus enden kann und vielleicht auch wird.
Eine nur scheinbar lustige Beobachtung zum Schluss: Sowohl Kowalczuk als auch Steffen Mau in "Lütten Klein" präsentieren eine tiefenpsychologisch interessante Abfolge der Ereignisse: Auf Kali-Kumpel folgt Warnowwerft folgt Rammstein. Vor dem Hintergrund von Kowalczuks Analyse ist der weltweite Erfolg der Band, der auch auf dem Spielen mit der nationalsozialistischen Ästhetik beruht, möglicherweise doch nicht so harmlos, wie es die Feuilleton-Redakteure derzeit glauben machen wollen.
Alles in allem hat Kowalczuk ein dringend notwendiges Buch geschrieben – ein leidenschaftliches Plädoyer für die Demokratie, eben weil sie vielfältig, frei und veränderbar ist.

Cover des Buches Paul. Das dritte Leben. (ISBN: 9781503232112)

Bewertung zu "Paul. Das dritte Leben." von Rainer Schneider

Paul. Das dritte Leben.
RainerSchneidervor 7 Jahren
Cover des Buches Anna.Sehnsucht. (ISBN: B00AC4DPKQ)

Bewertung zu "Anna.Sehnsucht." von Rainer Schneider

Anna.Sehnsucht.
RainerSchneidervor 9 Jahren

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