Wenn wir lesen, dass eine Straftat gegen Menschenleben oder gegen die Menschenwürde begangen wurde, wobei ja meist noch andere Straftaten mit begangen werden, dann haben wir eine Vorstellung davon, was dem Täter so alles als Strafe blühen sollte.
Alle Bedienstete von Strafverfolgungsbehörden sehen nur die Spitze des Eisberges: nämlich den Anfang vom Ende eines scheinbar integrierten Menschen. Trotz ihres Studiums (Jura, Psychologie, u.a.) müssen sie mithilfe vieler wissenschaftlicher Beweise der Tat zusammentragen.
Das Täterprofil ist nicht im Ganzen relevant, sondern alles, was zur Tat passt. An der Leiche wurde Speiseeis gefunden? Dann wäre die Eissorte in Verbindung mit dem Täter interessant. Welche Musik er generell hörte, könnte nur bei exzessiver Gewalt ein Indiz sein. Deswegen sind aber nicht alle Heavy-Metal-Freaks gewaltbereit, eher die wenigsten. Zwar hat es in der Vergangenheit wenige Gewalttäter gegeben, die mit Autismus und/oder Legasthenie (Lese- oder Schreibschwäche) geboren waren, deswegen sehen aber noch immer nicht alle Schriftsteller gleich aus. Aber: »Guck mal, wie der schon aussieht...!«
Und wehe dem, die Medien berichten von einer verkorksten Kindheit. Dann fühlen sich viele nämlich selbst lebenserfahren genug, um urteilen zu können oder vielmehr, um sich selbst und die eigenen Erfahrungen über andere zu stellen.
Lasst uns gemeinsam schauen, ob meine Vermutung stimmt. Und lasst uns gemeinsam herausfinden, ob wir mit den Erfahrungen des Täters mithalten könnten. Achtung, TRIGGERWARNUNG!
Der Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort ist 1964 in Düsseldorf geboren. Nach dem Abitur 1984 absolvierte er eine Ausbildung bei der Polizei, danach ein Studium, welches er 1993 mit dem Verwaltungs-Fachwirt an der FH abschloss.
Im Jahr 1994 begann er mit seinen Arbeiten im Bereich Operative Fallanalyse, ab 1997 mit Schwerpunkt Serienmörder. Seine Aufsätze und mehr als 20 Fach- und Sachbücher sind auch international bekannt.
Sein Buch »Zu hundert Prozent tot« beschäftigt sich in einzig mit einem Serienmörder, dem späteren »Phantom von Grunewald« (Berlin),weil dessen Taten schon alleine in der Menge, und natürlich auch in der Art der Begehung, grausam sind.
Mit Anhang insgesamt 320 Seiten, erschienen 2010 im Droste Verlag GmbH in Düsseldorf.
Das spätere »Phantom....« wurde im Jahr 1960 in Altenbochum geboren. Zum Zeitpunkt seiner Geburt arbeitete seine Mutter als Näherin in einer Schneiderei. Nach Geburt jobbte sie gelegentlich als Putzfrau, denn die Kredite des Hauses wollten bedient werden, und sie verwaltete die Finanzen. Sie war übergewichtig und galt als hässlich.
Der Vater war drei Jahre jünger als seine Frau und arbeitete unter der Woche als Berufskraftfahrer. Außerdem war er an den Wochenenden bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv, aus beiden Gründen stand er hinten an, er wurde nur als starke Hand gebraucht. Die eigentliche Erziehung war Aufgabe der Mutter.
Mit im Haus wohnten die Großeltern des Jungen.
Seine ersten Monate verlieben reibungslos, er war der Sonnenschein. Im Alter von 14 Monaten schnitt sein Gescht allerdings Grimassen, lief blau an, und er bekam Fieber, Schütteldrost hatte Schaum vor`m Mund. Der Arzt, der Hausbesuche machte, konnte zwar nichts finden, sagte aber, das würde schon wieder werden, Bettruhe sei nun wichtig.
Zunächst, so war man sich sicher, würden keine Veränderungen zurück bleiben. Im kleinkindalter überkam ihn erneut ein Anfall, diesmal noch schlimmer, mit Atemnot, Schüttelfrost, Fieber und schaumigem Speichel vor dem Mund.
Nach einer Untersuchung in einem Krankenhaus diagnostierte man bei ihm eine Meningitis als Folge einer Hirnhautenzündung.
Bereits als Kleinkind bettelte er bei seinen Eltern auf subtile Art nach Liebe und nach Anerkennung. Zum Beispiel steckte er einmal seinem Vater ein Auto in die Brotdose, die er zur Arbeit mit nahm. Wenn der Bub etwas nicht verstand und aufsässig wuirde, war die führende des Vaters gefragt: dieser prügelte den Jungen bereits als Kleinkind mit einem metallüberzogenen Lederriemen. Anstatt, dass die Mutter dem Jungen half, war ihr Kommentar »Ich will dich nicht mehr sehen!«
In der Schule kam er anfangs recht gut mit, war unter den Besten seiner Klasse. Dies war jedoch der Mutter zu verdanken, die oft stundenlang mit ihm nach der Schule büffelte. Auch sonst verstand er nicht sehr viel und er war sein Leben lang ein Abgestoßener. Er beschränkte sein Wissen bereits früh auf bestimmte Themen. Was ihm nicht lag, ließ er außen vor. Und wer ihn nicht mochte, den konnte er nicht leiden.
Auch mit dem Alter wurde er immer aufsässiger. Er begann zu stehlen und im Alter von 9 Jahren fand er Gefallen an Kindern, die jünger waren als er – sie empfanden ihn als schlau, sie konnte er für eigene Zwecke manipulieren.
Im Alter von 10 Jahren stahl er reihenweise Fahrräder. Außerdem erpresste er einen örtlichen Blumenhändler um 1 Million D-Mark. Der Täter war binnen weniger Tage ausgemacht. Die Beamten brachten einen handschriftlich geschriebenen Erpresserzettel mit, den er vorlesen und anschließend selber schreiben sollte. Seine Antwort: »Warum? Den habe ich doch schon geschrieben.«
Die Idee dazu hatte er aus dem Fernsehen. Die Prügel dazu bezog er vom Vater. Durch die bereits jahrelangen Gewaltexzesse wurde sein Drang, der Täter anstatt das Opfer zu sein, immer stärker. Vor allem wegen der permanent verschmähten Liebe, die er ständig erfuhr.
Im Jahr 1976 landete er wegen seines Verhaltens in der Jugendpsychiatrie und bedrohte dort eine 12-jährige, auch sexuell. Für diese Tat lockte er sie in eine nahe gelegene Hütte. Er nötigte sie, sich auszuziehen, ansonsten werde er sie »zusammenhauen«, wie er später sagte. Anschließend streichelte er ihr Brüste und verbrannte sie mit Zigarettenglut..
Eigentlich sollte er an diesem Tag für ein paar Tage nach Hause in Urlaub fahren dürfen. Als der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei den Eltern anrief, weinte der Täter.
Zwischenfrage: Liest eigentlich noch jemand mit?
Als er 12 Jahre alt war, wurde er vom Auto angefahren und erleidet einen komplizierten Schienbeinbruch, der ihm einen wochenlangen Krankenhausaufenthalt bescherte. Auch dort onanierte er notorisch, bis sein Glied irgendwann wundgescheuert war. Eine Krankenschwester nahm sich seiner an und rieb ihm die wund geriebenen Stellen mit Salbe ein.
Als 18-jähriger, ausgestoßen und gesellschaftlich geächtet, stieg er als Anhalter zu einer Unbekannten ins Auto. Sie trug lange, blonde Haare, er schätzte sie auf etwa Ende 20 Jahre alt. Er stellte sich vor, wie er sie in den Wald zerrt und vergewaltigt.
Zitat aus dem Buch: »Als sie einige hundert Meter gefahren sind, ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Jetzt müsste er die Frau nur noch dazu bringen, den Wagen abzuschalten, sie vergewaltigen und über sie herfallen. Doch er tut nichts dergleichen. Erst einmal abwarten, entscheidet er.
…
Er besitzt noch immer nicht die notwendige Kaltblütigkeit, den unbedingten Willen, diese vorfantasierte Tat auszuüben,
…
Er ist aber auch ein wenig erleichtert, dass es nicht dazu gekommen ist. Allerdings berauscht er sich auch nach Wochen noch daran, es ketztlich doch getan zu haben.«
Ein weiteres Zitat aus dem Buchtext, welches sehr viel über seine Persönlichkeit aussagt:
»Anonymität ist für ihn eine zwingende Vorbedingung, um sich in die Rolle des Täters hineinzufinden und dies auch durchhalten zu können. Sobald er das Opfer nicht verdinglichen kann und er mit vollem Namen in Aktion treten soll, geht nichts mehr.«
Seine größte Angst bei den Taten war schon immer, dass er mal eine nicht komplett »tot gemacht« hatte, wie Harbort ihn im Buch zitiert.
Selbst nachdem er im Alter von 20 Jahren mit bestandenem Gesellenbrief als Maurer wieder im Elternhaus einzieht, wird er bevormundet. Über eine Bekannte seiner Eltern erfuhr er, dass er in Berlin mehr verdiene als im Ruhrgebiet, außerdem könne er dort den Zivildienst verweigern. Er wollte schon immer von daheim weg.
Ende Mai 1981 sein erster nicht erzwungener und nicht bezahlter Sex,. Mit einer Frau, die er im »Tanzpalast«, seinem neuen Arbeitgeber, kennen lernte. Zum ersten Mal kein Verlangen nach Gewalt. Doch am nächsten Morgen bat diese Frau ihn, ihren Sohn zu akzeptieren. Er flüchtete.
Ab dann musste er sich monatelang mit One-Night-Stands begnügen. Und im September 1981 vergewaltigte er eine junge Frau, die sich losreißen konnte. Vier Stunden nach der Tat war er erneut unterwegs und überwältigte auf der Straße eine südkoreanische Studentin.
Die Frauen, die er bei seinem Arbeitgeber traf, waren für ihn Tabu. Doch irgendwann lernte er dort eine bildhübsche Frau kennen, die ihn allerdings von Beginn an ablehnte. Er probierte es wieder und wieder, sie wollte noch nicht mal von ihm nach Hause gebracht werden. Doch irgendwann gab sie nach und sie wurden ein Paar. Sie brachte einen Sohn mit, er glaubte, so etwas wie eine Familie zu haben. Dabei war er für sie nur eine Affäre.
Nach nur drei Monaten veränderte sich ihr Verhältnis zueinander zusehens. Er schmierte dem Jungen morgens die Brote, sie blieb liegen. Er wusch ab, sie nicht. Auch ihre Körperpflege vernachlässigte sie. Man schwieg sich nur noch an, Beziehungsprobleme, geschweige die Bewältigung davon, waren ihm fremd. Nach wenigen Wochen packte er einfach seine Sachen und ging. Sie wurde nicht sein einziges Opfer.
Und? Hatte dieser Mann mehr als zu viel erlebt oder nicht? Er kannte seit frühester Kindheit nichts außer Schläge. Seinem Vater war er zu weiblich. Als er einmal als Kind aus Schuhkartons einen Kaufmannsladen aufbaute und stolz seinem Vater vorführen wollte, bekam er Prügel und gesagt, dies sei Mädchenkram.
Er hatte viel erlebt. Vor allem von früh an und wenig Liebe. Niemand wird als Mörder geboren. Uns, die in Freiheit leben (übrigens unser dritthöchstes Rechtsgut), stehen sowohl Bürgerrechte als auch Menschenrechte zu (siehe Grundgesetz). Menschrechte (wie z.B. Menschenwürde) gelten auch im Gefängnis. Doch dafür möchte ich wieder dem Experten das Feld überlassen.
Zitat aus dem Vorwort :
»Ich muss gestehen, dass mich das Schicksal dieses Mannes und das seiner Opfer tief berührt haben. Er ist ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen in fatale Lebenssituationen geraten können, die sie ohnmächtig erttragen müssen und für deren lebensgeschichtliche Konsequenzen sie nicht verantwortlich gemacht werden dürfen.
Danach gilt dieser Mann auch in juristischem Sinne zu Recht als Straftäter, der unaussprachliches Leid über seine Opfer und deren Familien gebracht hat, vor dem wir geschützt werden müssen. Auch heute noch.
Wir können es uns einfach machen, und ihn genauso behandeln, wie man zeitlebens mit ihm verfahren ist: ignorieren, ausgrenzen, vergessen.Doch damit würden wir auch das Schicksal jener Frauen missachten, die ihm zum falschen Zeit am falschen Ort begegneten und getötet wurden oder sonst seelischen Schaden davontragen. Und wir würden abermals den Fehler begehen, Täter und Tat gleichzusetzen, ihn auf seine Verbrechen zu reduzieren.«
Mit besten Empfehlungen
Ralf Ebersoldt