Ravic
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Bewertung zu "Round Up the Usual Suspects" von Aljean Harmetz
So kann man reinfallen, wenn man einen historischen Roman wegen der zugrundeliegenden (interessanten) historischen Fakten kauft.
"Als Hofrat Wolfgang von Kempelen 1770 am Habsburgischen Hof seinen Schach spielenden Automaten präsentiert, gilt der Maschinenmensch als großartigste Errungenschaft des Jahrhunderts. Doch tatsächlich verbirgt sich im Innern der Maschine ein Zwerg - und dieses menschliche Gehirn erweist sich als tödlich und sterblich zugleich. Von den Bleikammern Venedigs zum kaiserlichen Hof in Wien, von den Palästen des Preßburger Adels in die Gassen des Judenviertels - ein spannender historischer Roman um ein legendäres Täuschungsmanöver." [Produktbeschreibung]
Die Geschichte des Schachtürken war mir fast gänzlich unbekannt, so daß ich zumindest in dieser Hinsicht einiges gelernt habe. Sprachlich ist das Buch angenehm und gut zu lesen. Allerdings bleiben die Figuren der Handlung etwas blaß, leblos und im wesentlichen unattraktiv; man entwickelt gegen das Ende hin nicht einmal großes Interesse dafür, wie es denn mit den Hauptpersonen weiterging. Die angekündigte Spannung hält sich leider in Grenzen, obwohl die Geschichte, wie ich meine, sehr viel mehr hergegeben hätte. Obwohl der Roman vom historischen Vorbild etwas abweicht – Löhr geht sogar so weit, Kempelen einen Mord begehen zu lassen – gelingt es ihm nicht, den Leser wirklich zu fesseln. Zahlreiche Längen lassen Langeweile aufkommen und bei den technischen Details macht sich das Fehlen von Abbildungen unangenehm bemerkbar. Die Art und Weise, wie der Schachzwerg im Türken versteckt war, wie er sein Versteck wechselte, wenn die Türen des Schachtisches vor Beginn des Spiels zur Demonstration geöffnet wurden, wie er von innen die Züge des Gegenspielers beobachtete [Die Schachfiguren waren mit Magnetkernen versehen, die auf der Unterseite des Bretts an Nadeln angebrachte Metallringe hoben oder senkten], wie er seine eigenen Züge mit Hilfe einer Storchschnabelmechanik ausführte, die die Hand des Schachtürken bewegte, sind so unzulänglich beschrieben, daß mir die ganze Konstruktion unklar blieb, bis ich Bilder davon im Internet aufgetrieben hatte. Hier fehlen Abbildungen, die man in einem Roman zwar im allgemeinen nicht erwarten kann, die aber angesichts der komplizierten Apparatur notwendig gewesen wären.
Gänzlich verschenkt wurde die Chance, die Wirkung des Türken (wie auch anderer mechanischer Apparaturen) in der fortschrittsgläubigen Gesellschaft des ausgehenden Barock ein wenig zu durchleuchten. Obwohl der ganze Schwindel schon zu Kempelens Lebzeiten von mehreren Beobachtern durchschaut wurde, die auch entsprechende Interpretationen des Apparats publizierten, blieb das Publikum davon weitgehend unberührt und stattdessen weiterhin von der Maschine fasziniert. Selbst im 19. Jahrhundert noch reiste Johann Mälzel, der nach Kempelens Tod den Schachtürken gekauft hatte, damit durch die Welt und regte u.a. Edgar Allan Poes kritischen Essay zu diesem Thema (mit der richtigen Auflösung) an. Nicht zuletzt wäre die Geschichte höchst interessant als Parallele zur aktuellen Diskussion über künstliche Intelligenz, deren Anfänge – zumindest deren technische wie philosophische Rezeption – in der damaligen Zeit zu finden sind.
Löhrs Roman ist eins der typischen Bücher, das man nur deshalb zu Ende liest, weil der Anfang ganz ordentlich war und man die ganze Zeit hofft, daß es doch irgendwann interessant oder spannend (oder beides) werden könnte. Immerhin habe ich gelernt, daß die Verben "türken" und "einen Türken bauen" auf Kempelens Schachautomaten zurückgehen. So war die Lektüre nicht ganz umsonst.
Bei Amazon wird das Buch übrigens viel enthusiastischer besprochen, es kann also sein, daß ich einen etwas sonderlichen Geschmack habe (oder daß des Autors Freunde viele Rezensionen eingestellt haben).
3 von 10 in einem finsteren Apparat schwitzenden zwergwüchsigen Schachgenies