Bewertung zu "Der Wanderer: Prologband" von Dominique Stalder
Als der Wanderer nackt und erinnerungslos am Strand erwacht, ahnt er noch nichts von der Reise, die vor ihm liegt. Unter der ewigen grauen Wolkendecke streift er durch das Land, welches unter den Fehden der ansässigen Fürsten leidet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schicksal.
Die Schamanin Drakatia nimmt sich seiner an und lehrt ihm die Wege der Magie. Doch die Magd Myrael sieht schreckliche Dinge auf sie zukommen und als schwarze Reiter auftauchen, scheinen sich ihre Visionen zu bestätigen. Was haben die Reiter mit der Ankündigung Drakatias zu tun, in Kürze ein wichtiges Ritual zu vollziehen? Und wer schickt sie?
Da ich die ursprüngliche Version von „Der Wanderer: Die Schamanin“ bereits gelesen hatte, war ich nun sehr gespannt, was aus dem Büchlein geworden ist. Sehr positiv: Die düstere Grundstimmung hat sich nicht verändert, sie ist jederzeit präsent und spürbar. Es gibt zusätzliche Szenen, die den Plot viel „runder“ machen und ihm nun einen Spannungsaufbau verleihen, der mir in der ersten Version gefehlt hat.
Es handelt sich um den Prolog einer Saga, und die Figuren werden daher sicher noch näher beleuchtet. Dennoch hätte mir etwas mehr Hintergrund zu den Hauptprotagonisten ganz gut gefallen.
Es ist natürlich schwer, einer Hauptfigur Profil zu verleihen, die sich an nichts mehr erinnern kann, daher kann der Ausbau seines Charakters nur über seine Handlungsweise erfolgen. Und sie positioniert den Mann ohne Erinnerungen, den die Schamanin „Haric“ nennt, nicht als Sympathieträger. Haric sieht tatenlos zu, wie die beiden Menschen, die ihm die erste Suppe seines neuen Lebens spendiert und ein Quartier für die Nacht geboten haben, ohne Gnade von finsteren Gestalten gemeuchelt werden. Zugegeben, die Mörder waren in der Überzahl, doch ein Held würde hier allen Mut zusammennehmen und einschreiten. Haric ist kein Held. Im späteren Verlauf verweigert er einem Gegner, der um den Tod bittet, den „Gnadenschuss“. Im Prolog ist Haric alles andere als eine Figur, mit der sich der Leser identifizieren könnte. Das Gute daran: Es gibt Potenzial für eine Entwicklung.
Die Vergangenheit der jungen Magd Myrael dürfte gern etwas weiter aus dem Schatten treten, sie kennt immerhin ihr ganzes Leben. Die junge Frau, die anscheinend nichts Gutes von der Schamanin erwartet, aber dennoch sechs Jahre bei ihr bleibt, um schließlich ganz plötzlich aufgrund einer Vision auszubüxen, bleibt sehr rätselhaft.
Dann wäre da noch die zwielichtige Schamanin Drakatia, die sich bis kurz vor dem dramatischen Ende des Prologs partout nicht zu einer Seite zuordnen lässt. Auch sie hat eine Geschichte, die sie zu der Figur werden ließ, die sie nun spielt, doch ihre Vergangenheit bleibt verborgen.
Dominique Stalder erzählt mit viel Energie und in starken Bildern, seine Erzählfreude ist dem Autor deutlich anzumerken. Die gediegene, gewaltige Sprache erinnert sehr an den Erzählstil J.R.R. Tolkiens, nur wollen Formulierungen wie „er war sauer“ oder „gefrustet“ oder Begriffe wie „fokussieren“ und „Tristesse“ nicht so richtig dazu passen. Hier hätte das Lektorat ein wenig genauer hinschauen und etwas mehr Hilfe leisten können.
Insgesamt liest sich die Geschichte jedoch sehr flüssig, ich konnte mir die nasskalte Landschaft, die Personen und jede Szene auch ohne die – sehr gelungenen – Illustrationen von Mariella A. Sprügl am Anfang eines jeden Kapitels sehr gut vorstellen. Wenn es darauf ankommt, sprüht Dominique Stalder Funken.
Als Auftakt einer Reihe wird der Prolog „Die Schamanin“ seiner Rolle durchaus gerecht, er verrät nicht viel, aber doch so viel, dass der Leser neugierig wird auf die Fortsetzungen, und da sollen immerhin fünfzehn am Start sein. Daher vier verdiente Sterne. Mit etwas mehr Identifikationsmöglichkeiten und ohne stilistische Ausreißer hätte ich gern noch einen weiteren vergeben.
Fazit: Zartbesaiteten Gemütern würde ich die Lektüre nicht empfehlen, doch wer düstere Fantasy, ungelöste Rätsel und Gewalttaten, die nicht zimperlich geschildert werden, gerne liest, ist bei „Der Wanderer: Die Schamanin“ bestens aufgehoben.