„Babylon Berlin mit Magie“ – so wird „Anarchie Déco“ von J. C. Vogt vom Verlag beworben und das machte mich sofort neugierig. Ich finde die 1920er-Jahre in Berlin unheimlich spannend und liebe auch magische Detektivromane à la „Die Flüsse von London“. Aber mit „Anarchie Déco“ habe ich viel mehr bekommen als einen magischen Krimi.
Die Geschichte dreht sich um die Physikerin Nike und den Bildhauer Sandor, die an der Front der Experimente rund um Magie, Wissenschaft und Kunst stehen. Der wissenschaftliche Nachweis von Magie rüttelt die ganze Gesellschaft auf, doch noch ehe die Regeln ihrer Anwendung ganz durchschaut sind, wird sie schon für Mord und politische Intrigen missbraucht. Nike und Sandor helfen der Berliner Polizei bei den Ermittlungen und bringen sich dabei erwartungsgemäß selbst in große Gefahr. Um gegen ihre magisch sehr viel versierteren Kontrahenten bestehen zu können, müssen die beiden trotz ihrer Unterschiede lernen, zusammenzuarbeiten – und zusammen Magie zu wirken.
So weit, so vorhersehbar. Aber auch wenn die Geschichte stellenweise etwas berechenbar ist, konnte ich das Buch doch nicht aus der Hand legen. Das lag zum einen an den Charakteren. Nike habe ich schnell ins Herz geschlossen – ihre Frustration mit der Männerdomäne Wissenschaft und ihren prekären Lebensverhältnissen, ihre gespaltenen Gefühle gegenüber ihrem Geschlecht und ihrer Sexualität, das Verhältnis zu ihrer Mutter, all das fand ich sehr glaubwürdig und lebendig erzählt. Das Highlight war für mich aber Georgette, eine sehr schillernde Nebenfigur, die mir genauso den Kopf verdreht hat wie Nike. Ich bin sehr gern mit ihnen durch das Berliner Nachtleben gestreunt.
Zum anderen hat mich das Setting sofort gepackt und nicht mehr losgelassen. Man merkt sofort, wie viel Recherche in dieses Buch geflossen ist – von den ganzen historischen Persönlichkeiten über den Berliner Jargon bis hin zu den zeittypischen (und hochaktuellen) politischen und gesellschaftlichen Konflikten. Ich fand es sehr spannend, wie die Magie in diese Welt integriert wurde, und würde liebend gern weitere Bücher darüber lesen.
Was ich leider bis zum Schluss nicht ganz begriffen habe, war die Funktionsweise der Magie. Da Nike so analytisch an alles herangeht und für alles Erklärungen liefern möchte, habe ich erwartet, dass auch für die Magie eindeutige Regeln herausgearbeitet werden. Und es gab auch welche, aber vielleicht bin ich einfach nicht physikaffin genug, um sie so richtig zu verstehen. Das fand ich schade, weil mir das Magiekonzept an sich mit seiner wissenschaftlichen Basis gut gefallen hat.
Womit ich dagegen rundum zufrieden bin, ist die Auflösung am Ende. Der finale Showdown ist absolut filmreif und alles kommt super zusammen. Und ich war sehr glücklich, dass das am Anfang etablierte Schwarz-Weiß-Denken (Wissenschaft/Kunst, Frau/Mann) aufgelöst wurde. Auch da zeigt sich, wie modern so ein historischer Stoff sein kann.
Insgesamt war „Anarchie Déco“ nicht das Buch, das ich erwartet habe, sondern viel besser – originell, gut recherchiert, schön geschrieben und mit einprägsamen Charakteren, mit denen ich gern mal um die Häuser ziehen würde. Ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung!