Bewertung zu "Die Wissenschaft von Mittelerde" von Jean-Sébastien Steyer
Erster Eindruck
Wenn man das Buch in der Hand hält, macht es echt was her, die Haptik ist toll. Es ist groß, schwer und sieht sehr edel aus. Auch ein erster Blick ins Buch ist vielversprechend. Die Gestaltung der einzelnen Unterkapitel ist ganz im Stil von Tolkien, mit einem Initial (schmückender Anfangsbuchstabe) am Anfang eines jeden Kapitels. Viele schöne Zeichnungen bereichern das Buch. Und auch die Kapitelübersicht am Anfang des Buches ist viel versprechend - was ich schon immer über Tolkien und Mittelerde wissen wollte.
Einleitung
Es heißt auf Seite 7 „… möchten wir mit einem gut lesbaren Werk einer breiten Öffentlichkeit Wissensinhalte nahebringen.“. Das hört sich gut an und stimmt mich positiv, dass das gar so wissenschaftliche Buch einer breiten Öffentlichkeit auf leichte Weise dargestellt werden soll. Dieser Eindruck soll sich aber bald ändern. Ich empfinde den Stil und die Schreibweise alles andere als einfach. Viele Wörter werden verwendet, die sich nicht in meinem alltäglichen Wortschatz befinden und die ich nachschlagen muss:
Eskapaistisch, Kohärenz, Paläontologie, Wissenschaftlicher Materialismus, narrativ, evozieren, Faksimile … um nur mal einige zu nennen.
Aber auch die Schreibweise ist nicht unbedingt einfach. Viele Passagen habe ich mehrfach gelesen, in der Bemühung sie zu verstehen.
Nach der Einleitung bin ich erstmal erschlagen, das ist definitiv kein Buch zum mal eben Lesen. Man muss voll bei der Sache sein und sich konzentrieren, aber nicht nur dass, wie sich heraus stellt, verlangt das Buch auch ein gewisses Hintergrundwissen zu Tolkien und seinen Büchern und eine fundierte Allgemeinbildung, wenn man nicht alles nachschlagen und sich ständig verlieren möchte.
Das Buch
Wir erfahren auf jeden Fall viel zu der Person Tolkien.
Tolkien hat der damaligen Zeit entsprechend eine Ausbildung, ein Studium genossen, dass sehr vom Studium und Erlernen von Sprachen geprägt war, was wiederum auch einen großen Einfluss auf ihn und seine Liebe zu Sprachen und deren Erfindung hatte. Er hat sehr viele Sprachen gesprochen und Sprachen so sehr geliebt, dass er selbst etliche Sprachen erfunden hat. Er hat sogar erst die Sprachen erfunden und dann seine Geschichten drum herum, getreu dem Motto, am Anfang stand das Wort.
Wir erfahren auch, wie und wo Tolkien aufgewachsen ist und wer seine Wegbegleiter waren.
Aber noch mal zurück zum Aufbau des Buches.
Das Buch ist in 6 große Teile eingeteilt und jeder dieser Teile hat viele Unterkapiteln (siehe Fotos)
1 Der Aufbau einer eigenen Welt
2 Verankerung in Raum und Zeit
3 Ein komplexes Umfeld
4 Großartige Lebenswelten
5 Erstaunliche Charaktere
6 Ein fantastisches Bestiarium
Insgesamt 36 Autoren waren an diesem Werk beteiligt, wenn ich richtig gezählt habe. Jeder dieser Autoren hat seinen eigenen Schwerpunkt und seinen eigenen Schreibstil. Einen gewissen Anspruch hat das Buch durchgehend, aber während sich mir manche Autoren fast gar nicht erschließen, weil sie zu viele Fremdwörter und Fachausdrücke verwenden und einfach zu kompliziert schreiben, fällt mir dies bei anderen Autoren einfacher. Klar, so ein wissenschaftliches Werk kommt nicht ohne Fachausdrücke aus, aber es fällt auf, dass es einigen Autoren gelingt, diese zu verwenden und ganz beiläufig zu erklären, ohne dass der Lesefluss gestoppt wird.
Nach der Lektüre dieses Buches bin ich restlos davon überzeugt, das Tolkien ein Sprach- und ein Universalgenie war. Er war bewandert in Geschichte, Mythologie, Geologie, Botanik, Chemie etc. etc.
Er hat seine Welt so detailliert und in sich schlüssig aufgebaut, dass es sich viele Wissenschaftler zur Aufgabe gemacht haben, diese seine Welt zu erforschen und zu belegen bzw. zu widerlegen, als wenn es sich dabei um eine real existierende Welt handeln würde. Da wird über die großen, behaarten Hobbitfüße diskutiert und wie diese möglich sind oder wie Zwerge über 400 Jahre alt werden können und wie sie sich evolutionsmäßig entwickeln konnten.
Ja, es ist wunderbar, wenn seine Welt so detailliert, komplex und in sich so schlüssig ist, dass sie keine Widersprüche aufweist, aber es ist eine Fantasiewelt, die hier und da Bezüge zu unsere Welt hat, oder besser gesagt durch unsere Welt inspiriert wurde, aber es ist meiner Meinung nach eine Fantasiewelt, in der nicht alles wissenschaftlich erklärbar sein muss.
Abschließend sei noch zu sagen, ich habe auch etwas zum Buch recherchiert, es ist aus dem Französischen übersetzt. Das Buch ist nicht ganz neu, es ist schon aus dem Jahre 2019. Ja, es ist natürlich nicht „alt“, aber es hat schon einige Zeit gebraucht, diesen Schinken zu übersetzen, was mich nicht wundert. Was mich allerdings wundert, ist der enorme Preisunterschied. In Frankreich bei Amazon kostet das Buch im Original 35 Euro und als Taschenbuch ist es sogar für 11 Euro erhältlich. Ein Blick in die gebundene französische Version zeigt, dass es mit der deutschen Ausgabe identisch ist von der Aufmachung. Ab Juli 2023 soll das Buch in Deutschland 70 Euro kosten, das empfinde ich als eine Menge Geld gegenüber dem französischen Original, zumal es kein Bildband ist.
Fazit
Für wen ist dieses Buch gedacht?
Ich denke für richtige Tolkien-Fans, die auch die Bücher gelesen haben und sich durch die Lektüre seiner Werke hinreichend mit ihm und seiner Welt beschäftigt haben.
Für reine Filmfans ist das Buch meiner Meinung nach nicht so geeignet. Die Filme sind in meinen Augen nicht wirklich Tolkien, sie sind eine Interpretation und eine Sichtweise der Filmindustrie auf den Herrn der Ringe und den Hobbit, ohne dass Tolkien diese Filme absegnen konnte.
Man muss sich bei dem Buch darauf einstellen, dass es keine leichte Kost ist und es kein Buch ist, was man in einem Rutsch durchliest. Hier und da hätte ich mir mehr Skizzen und Bilder gewünscht.
Und was mich auch ein wenig stört, dass es hochwissenschaftlich ist. Tolkien hat aber eine Fantasiewelt erschaffen und da muss man nicht alles wissenschaftlich belegen oder zerlegen.
Es ist aber ein Buch, was uns einen tieferen Einblick zu der Person Tolkien und seinen Werken gibt und von daher sicher eine Bereicherung für den geneigten Leser.