Ich muss zugeben, dass dieses Buch und ich nicht die "Liebe auf den ersten Blick" waren.
Viel habe ich zunächst von der Serie gehört, doch ganz ehrlich? Ich habe mich nicht für das Thema "Teenie begeht Selbstmord und gibt allen anderen die Schuld, nur sich selbst nicht" interessiert. Zu viele Klischees und noch mehr "Mimimi".
Dachte ich ...
Meine Tochter wollte es unbedingt lesen. Da sie aber erst 13 Jahre alt ist, habe ich mich entschieden, es vorher selbst in voller Länge zu begutachten und dann grünes Licht zu geben oder eben nicht.
Ich nahm das Buch mit in den Urlaub: Ein schwerer Fehler!
Inhalt:
Eine Schülerin einer Highscool nimmt sich das Leben. Bevor sie den Selbstmord begeht, nimmt sie 13 Kassettenseiten auf, auf denen jeweils eine Person angesprochen wird, deren Handlung letztendlich zu der Tat beigetragen haben.
Jede diese Personen erhält nach und nach die sieben Kassetten und muss(!) sie sich anhören. Sollte eine der Personen gegen diese von Hannah aufgestellten Regel verstoßen, wird ein zweiter Satz dieser Tonträger durch eine unbeteiligte Person an die Öffentlichkeit getragen.
Der Leser begleitet Clay, einen ihrer Schulkameraden, der sich die dreizehn Seiten nach und nach anhört. Dieser Umstand zeigt dem Leser unmittelbar, dass auch er eine der Personen ist, welche in der Geschichte eine Rolle spielen. Welche genau, erfährt sowohl er, als auch der Leser erst im Verlauf des Buches.
Cover:
Das Cover ist ein Plakat aus der Netflix-Serie, die anhand dieser Vorgabe produziert wurde. Es stellt Clay dar, der konzentriert den Worten seiner Schulkameradin lauscht. Im Hintergrund ist ein Mädchen zu erkennen, das vermutlich Hannah darstellen soll.
Schon nach dem ersten Teil (eine Art Prolog) fand ich heraus, dass die Serie sich nicht unbedingt an das Buch hält. Alleine die Kopfhörer, welche Clay trägt, sind falsch. Darüberhinaus wird in dem Buch nicht eine einzige Personenbeschreibung abgeliefert (meine Meinung dazu später), wodurch ein Cover mit Personen ausgeschlossen sein müsste. Hier wird ein Bild offeriert, welches unter Umständen nicht stimmt.
Dennoch beschreibt das Cover grundsätzlich den Inhalt des Buches, was es (wenn man die Serie gesehen hat) stimmig zum Inhalt macht.
Charaktere:
Der Leser bekommt in der Geschichte lediglich zwei Charaktere geliefert. Ja, es werden mehrere Personen erwähnt und deren Handlungen werden dargestellt, was einen winzigen Einblick in deren "normales" Verhalten ermöglicht, doch wirklich nahe bringt die Geschichte den Leser nur an Clay und Hannah heran.
Dies ist auch gut so, denn der Leser wird bei diesem Thema nicht unnötig mit Parallelerzählungen aus der eigentlichen Geschichte herausgerissen.
Im Gegensatz zu meinen ersten Befürchtungen handelt es sich bei den Erzählungen durch Hannah eben NICHT(!) um ein Mimimi, das alle anderen als böse und gemein darstellt. Sehr nüchtern beschreibt sie Handlungen, die (zumindest bei den ersten Seiten) nichts ungewöhnliches sind, doch in ihrer Aneinanderreihung ein Großes und Ganzes ergeben, welches zu Hannahs endgültigem Entschluss führt. Dabei betont sie bei einigen Personen deutlich, dass sie im Grunde nichts wirklich Falsches getan haben und die jeweilige Handlung an sich nichts Schlimmes war, was zu einem Selbstmord führen würde. Man kann Hannahs bis zum Schluss sehr sanftmütigen Charakter herauslesen und der Leser frustriert schnell selbst, als ihre Entscheidung langsam in ihr reift und sich Hannah ihrem Schicksal langsam "ergibt".
Clay hingegen erscheint dem Leser zunächst als ein naiver Teenager, der den Ernst des Lebens noch lange nicht gefunden hat. Jedoch hat der Autor es hervorragend verstanden, mich in Clays Verhalten und Gedanken in die Irre zu führen. Die Lösung seines Verhaltens ergibt sich aus dem Kapitel, in welchem er selbst die Hauptrolle spielt. Hier kann ich jedoch nicht allzu viel schreiben, ohne direkt einen der größten Spoiler auszupacken, die man bei diesem Buch begehen kann.
Meine Meinung:
Jay Asher hat mit "Tote Mädchen lügen nicht" ein brisantes Thema angepackt und in grandioser Weise umgesetzt. Er beschreibt nicht einfach ein paar Geschehnisse und schreibt sie einzelnen Personen zu, sondern er versucht, die Gedanken der sich selbst richtenden Person an Licht zu bringen und das "Warum?" zu beleuchten. Die meisten der erwähnten Ereignisse sind für den "normalen Leser" absolute Kleinigkeiten, die man nach vielleicht 1-3 Stunden wieder vergisst, sofern sie überhaupt beachtet und bemerkt werden. Der Autor hat jedoch mit seiner Erzählweise dafür gesorgt, dass durch die Aneinanderkettung mehrerer "Kleinigkeiten" eine Welle ausgelöst werden kann, die irgendwann nicht mehr zu stoppen ist.
Die Idee, den Suizidenten selbst zu den "Tätern" sprechen zu lassen, ist einfach nur genial, denn der Leser bekommt unweigerlich Situationen vor Augen geführt, in denen er selbst mal war und die unter Umständen zu genau einer solchen Kettenreaktion hätten führen können.
Zunächst habe ich den Kopf bei den Erzählungen geschüttelt, denn keine der Personen (auch Hannah und Clay nicht) wurde optisch dargestellt. Selbst der Name der Stadt, in welcher die Geschichte spielt, wird nicht erwähnt. Fakten die mein Kopfkino zunächst nicht anspringen lassen wollten. Im Laufe des Buches erkannte ich jedoch den Hintergedanken dazu: Diese Geschichte, diese Tat kann zu jeder Zeit an jedem Ort geschehen. Jede(r) kann Täter oder Opfer sein, wenn die Umstände unglücklich aufeinander treffen. Der Autor hat bewusst auf alles Optische verzichtet, um dem Leser sein eigenes Bild zu lassen. Und im Laufe der Geschichte manifestiert sich diese Geschichte als Eigenleben innerhalb der Lesergedanken.
Fazit:
Dieses Buch ist keine leichte Kost für zwischendurch. Es birgt viel Potenzial, anfällige, eventuell depressive Menschen zu triggern. Wer in psychisch nicht stabiler Verfassung ist, sollte dieses Buch auf keinen Fall in die Hand nehmen.
Für mich selbst war "Tote Mädchen lügen nicht" von allen Büchern, die ich gelesen habe, eines der Highlights überhaupt. Es hat mich schon beim Lesen nachdenklich gemacht und vor allem nach "Seite 13" der Kassetten zerstört zurückgelassen. Habe ich selbst etwas getan, was zu solch einer endgültigen Reaktion geführt hat? Habe ich etwas mitbekommen und unbeachtet gelassen, was zu sowas führte? Hätte ich vielleicht einen Selbstmord, von dem ich bis heute nichts weiß, verhindern können, wenn ich genau hingeschaut hätte?
All diese Fragen sind müßig, denn es wäre zu spät. Doch Jay Asher (ist schon interessant, dass der Name des "Hörers" dem des Autors extrem ähnelt) hat mich dazu gebracht, genauer zu überlegen, wie meine weiteren Handlungen aussehen sollten.
Eines weiß ich (auch durch Gespräche mit anderen Lesern, bzw. Bloggern) genau: Ich werde mir die Serie zu diesem Buch niemals anschauen. Nicht, weil das Buch so schlecht war, sondern eben weil es das Beste ist, was ich seit langer Zeit gelesen habe. Ich will mir das letztendlich extreme Kopfkino und die Fragen, die sich in mir aufgebaut haben, nicht durch die Verbildlichung nach Gedanken einer anderen Person zerstören lassen. Denn wie ich schon schrieb: Alleine das Cover/Serienplakat zeigt schon Abweichungen von der Geschichte. Und selbst, wenn es nur Kleinigkeiten wären: Ich will mich nicht über eben solche ärgern.
Ob meine Tochter das Buch lesen darf?
Ja!
Sie wird in drei Wochen zwar erst 14, doch charakterlich ist sie bedeutend gefestigter, als viele ihrer Mitschüler. Darüberhinaus könnte dieses Buch auch an sie die Mahnung sein: "Erst nachdenken, dann dummen Spruch lassen"