Textravaganzens avatar

Textravaganzen

  • Mitglied seit 04.04.2011
  • 2 Freund*innen
  • 52 Bücher
  • 33 Rezensionen
  • 41 Bewertungen (Ø 3,83)

Rezensionen und Bewertungen

Filtern:
  • 5 Sterne10
  • 4 Sterne18
  • 3 Sterne9
  • 2 Sterne4
  • 1 Stern0
Sortieren:
Cover des Buches Die Shakespeare-Schwestern (ISBN: 9783458358350)

Bewertung zu "Die Shakespeare-Schwestern" von Eleanor Brown

Die Shakespeare-Schwestern
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Die Shakespeare-Schwestern" von Eleanor Brown

„Was, wenn der Name, den man Ihnen gegeben hat, bereits von jemandem getragen wurde, der in derart intensiv ausgefüllt hat, dass allein seine Erwähnung den ursprünglichen Träger ins Gedächtnis ruft und Ihr Dasein zu wenig mehr als einem Echo verblassen lässt?“ (72)
So ähnlich ergeht es den drei Töchtern der Andreas Familie, die allesamt von ihrem literatur-verrückten Vater nach Shakespeare-Figuren benannt wurden. Da wären die bodenständige und loyale Rosalind, benannt nach der weiblichen Hauptfigur in der Komödie Wie es euch gefällt, Bianca, deren Name von Cassios Liebhaberin in Othello stammt, und das Nesthäkchen Cordelia, die sich den Namen mit der jüngsten Tochter King Lears teilt. Doch nicht nur haben die drei jungen Frauen Probleme, sich gegen ihre fiktiven Pendants zu behaupten und dem ihnen somit vorgeschriebenen Schicksal zu entfliehen, sie haben auch miteinander so ihre Schwierigkeiten. Und diese kommen unausweichlich zum Vorschein, als es alle drei Schwestern wieder in ihr elterliches Heim in den Mittleren Westen treibt. Dort kämpft ihre Mutter gegen den Brustkrebs und die Schwestern kämpfen mit sich selber. „Denn die Geheimnisse von Schwestern sind Schwerter.“ (200) Es versteht sich von selber, dass die Schwestern ihre Sorgen nicht ewig für sich behalten können…
Eleanor Brown schrieb mit Die Shakespeare Schwestern einen Roman, der die Dynamiken hinter schwesterlichen Beziehungen beleuchtet und den wahren Auslöser, der die Schwestern in ihre misslichen Situationen brachte, ausfindig macht. Denn so verschieden Rose, Bean und Cordy (die ihre Spitznamen benutzen, um sich vom literarischen Vorbild abzugrenzen und neu zu erfinden) auch sind, so sind sie letztendlich doch alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Das ist es auch, womit der Roman den Leser fesselt: Ein bisschen von jeder Schwester steckt in jedem von uns. Darüber hinaus wird das Debüt Browns aus einer interessanten Perspektive geschildert - über weite Strecken wird mit der ersten Person Plural, dem wir, erzählt. Da fällt es manchmal schwer zu entscheiden, welche der drei Schwestern sich gerade mit ihrer Version der Geschichte durchsetzt. Außerdem sind die vielen Shakespeare-Zitate, die die Schwestern und ihre Eltern in ihre Rede einflechten, sehr erfrischend. Eher frustrierend ist leider, dass es zu wenige Hintergrundinformationen über die Shakespeare-Charaktere gibt. Dies mag jedoch an der deutschen Leserschaft liegen, die auch mit einer Eins-zu-Eins-Übersetzung des englischen Originaltitels, The Weird Sisters, größtenteils nicht auf Anhieb hätte etwas anfangen können. Viel störender ist für mich deswegen auch das Ende des Romans, welcher zumindest für mein Empfinden ein bisschen zu aalglatt und kitschig verebbt.

________
Die Seitenangaben beziehen sich auf die erste Ausgabe, die im Mai 2012 bei Insel Taschenbuch erschien. Vielen Dank an den Verlag und an Lovelybooks für das Exemplar! Die Rezension findet ihr auch auf meinem Blog: http://textravaganzen.blogspot.de/2012/06/normal-0-21-false-false-false.html

Cover des Buches Agnes (ISBN: 9783716024034)

Bewertung zu "Agnes" von Peter Stamm

Agnes
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Agnes" von Peter Stamm

„Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.“ (9) Mit diesen Worten beginnt Stamms Debütroman. Das schürt natürlich die Neugierde der Leser. Und in der Tat erwartet uns in dem nur knapp 150 Seiten dünnen Roman ein bewegendes Portrait einer Beziehung, die zum scheitern Verurteilt ist. Dass der Leser dies von Anfang an weiß, nimmt dabei nichts von der Spannung, denn zu sehr wird man einfach in den Bann gezogen, den dieses Spiel des Pärchens entwickelt.
Erzählt wird die Liebesgeschichte aus seiner Sicht. Der namenlose Schweizer Sachbuchautor und gescheiterter Literat lernt während eines Rechercheaufenthalts in Chicago die jüngere Physikstudentin Agnes kennen. Für ihn ist es Liebe auf den ersten Blick. Und tatsächlich kommen die beiden sich bald näher. Trotz dieser Distanz, diesem Fremden, das ihn Agnes einfach nicht richtig einschätzen lässt. Als Agnes von seinen literarischen Gehversuchen erfährt, bittet sie ihn, ein Portrait von ihr zu schreiben. Dieses dehnt sich aus zu einer Geschichte, die die gesamte Beziehung der beiden resümiert. Schließlich kommt der Autor in der Gegenwart an. Nun widmet er sich in seinem Geschriebenen der Zukunft des Paares, entwirft fast wie ein Drehbuchautor Szenen des Beisammenseins, welche die beiden dann nachstellen. Doch irgendwann wird das dem Pärchen zu langweilig: „,Es muß etwas passieren, damit die Geschichte interessanter wird’, sagte ich endlich zu Agnes. ,Bist du nicht glücklich, so wie wir es haben?’ ,Doch’, sagte ich, ,aber Glück macht keine guten Geschichten. Glück läßt sich nicht beschreiben. Es ist wie Nebel, wie Rauch, durchsichtig und flüchtig. Hast du jemals einen Maler gesehen, der Rauch malen konnte?’“ (68) Wie soll es aber mit den beiden weitergehen, wenn die Geschichte ein Ende gefunden hat? Und wie soll sie überhaupt enden? Es beginnt allmählich, in der Beziehung zu krieseln. Was die beiden einst zusammenschweißte, entfremdet sie nun voneinander. Und als dann etwas passiert, das so nicht in der Geschichte vorgesehen war, eskaliert die Situation…
Stamms Roman schafft es, auf wenig Raum viel Platz für die Entwicklung seiner beiden Charaktere zu schaffen. Für eine Liebesgeschichte ist der Roman nicht kitschig genug, für einen Psychothriller schlägt er dennoch eher zu kleine Wellen. Und doch ist er genau richtig. Außerdem versteckt sich hinter der Handlung nicht nur eine Studie über zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch über die Schärfe der geschriebenen Worte und wie Fiktionen unser Bild vom Sein beeinflussen. Letztendlich kreiert doch jeder Mensch in seinem Kopf dutzende Geschichten, Lebensentwürfe, nimmt Ereignisse vorweg und spielt Situationen im Voraus durch. Dabei weiß doch jeder, dass es am Ende doch ganz anders kommt. Mit seiner Fiktion über die Macht der Fiktion bringt Stamm den Leser mit ruhigen Worten laut polternd auf den Boden der Tatsachen zurück. Agnes ist ein Buch, das über die Geschichte, die in ihm erzählt wird, hinaus ragt und auch über die Natur des Schreibens an sich erzählt.
____________________
Die Seitenangaben beziehen sich auf die 4. Auflage, die im Januar 2011 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien. Erstveröffentlicht wurde der Roman 1998. MeinBlog: textravaganzen.blogspot.com

Cover des Buches Karte und Gebiet (ISBN: 9783832196394)

Bewertung zu "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq

Karte und Gebiet
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq

Jed Martin ist Künstler. Seinen Durchbruch hatte er, der ursprünglich mit akribischer Genauigkeit Schrauben ablichtete, mit fotografischen Arbeiten, die sich mit Straßenkarten auseinandersetzen. Dieser Geniestreich geht auf einen Zufall zurück:

„Auf die Bitte seines Vaters hin […] kaufte Jed eine Straßenkarte von Creuse und Haute-Vienne aus der Reihe >>Departemental-karten<< von Michelin. Und als er dort, ein paar Schritte von den in Zellophan gehüllten Sandwiches entfernt, seine Karte auseinanderfaltete, wurde ihm seine zweite große ästhetische Offenbarung zuteil. […] Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. […] in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen […].“ (50)

Jed wird geliebt vom Michelin-Konzert, von den Kritikern und von der Russin Olga. Ob diese in seinen Arbeiten dasselbe sehen wie er? Doch Liebe ist sowieso vergänglich… Als Jed sich von seiner Kunst entfremdet, orientiert er sich um. Fortan steckt er all seine Energie in Portraitmalerei, genauer gesagt in Berufsportraits. Je mehr die Romanhandlung sich vertieft, desto deutlicher kommt der doppelte Boden des Romans hervor: Denn Houellebecq höchstpersönlich, der bereits zu Beginn des Romans am Rande der Handlung auftauchte, entwickelt sich nun zu einer Art Gegenstück, fast sogar zu einer Art Spiegel für Jed. Während letzterer an seinem Meisterwerk „Houellebecq, Schriftsteller“ arbeitet, soll der Schriftsteller eine Einleitung zu Jeds Werk schreiben. So bekommt Jed ungeahnte Einblicke in das eher traurige und einsame Leben des Schriftstellers. Doch dann geschieht ein brutaler Mord und der Roman verfällt über lange Strecken fast in einen Krimi-Modus. Nach der Klärung des Mordfalls steht Jed allerdings wieder im Fokus. Erneut muss dieser, der sowohl einen Freund als auch seinen Vater verloren hat, sein Leben und Schaffen überdenken. Und er zieht drastische Schlüsse. Doch anstatt alles dafür zu tun, um nicht so isoliert zu sterben wie der Schriftsteller und sein Vater, den er bis zu seinem Tod nicht wirklich zu kennen schien, sucht Jed gezielt die Konfrontation mit der Einsamkeit.
Houellebecqs Roman ist nicht nur im Künstlermilieu angesiedelt, er kommentiert den gesellschaftlichen Status von Kunst auf indirekte Art und Weise. Der Titel gepaart mit Jeds Haltung und Ausstellungstitel >>DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET<< (78) bieten da einen interessanten Interpretationsansatz. Denn wenn dem so ist, dass die Karte, das menschlich geschaffene Konstrukt, tatsächlich interessanter ist als das Gebiet, welches für das reale Leben stünde, dann besagt das viel über den Stellenwert von Kunst. Hochpreisung und Kritik, Ruhm und Misserfolg, Leben und Tod - Houellebecq beleuchtet in seinem Roman stets beide Seiten der Medaille. Der Mordfall, der nahezu künstlerisch inszeniert wurde, deutet allerdings ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Karte und Gebiet in der heutigen Zeit an. Jeds Reaktion darauf, der sinnbildliche Rückzug aus dem Gebiet und das Verlorengehen mit der Karte, ist sicherlich nur eine Möglichkeit, mit dieser Entwicklung umzugehen. Doch muss es wirklich zu solch radikalen Maßnahmen kommen? Mit dieser Frage entlässt Houellebecq den Leser. Darin zeigt sich, dass Karte und Gebiet eben nicht nur ein Künster-, sondern auch ein Gesellschaftsroman von gegenwärtiger Brisanz ist.

_______________

Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe, die 2011 bei Dumont erschien.

Cover des Buches Alle Rache will Ewigkeit (ISBN: 9783426509937)

Bewertung zu "Alle Rache will Ewigkeit" von Val McDermid

Alle Rache will Ewigkeit
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Alle Rache will Ewigkeit" von Val McDermid

Die Kriminalpsychologin Charlie Flint wurde vom Dienst suspendiert, nachdem ein Mann, dessen Unschuld sie beteuerte, auf freien Fuß kam und anschließend vier Frauen tötete. Dann erreicht sie ein Päckchen ohne Absender, in dem sich Zeitungsartikel zu einem anderen Mordfall, in dessen Prozess bald eine Verurteilung erwartet wird, befinden. Ein Bräutigam wurde während seiner Hochzeitsfeier angeblich von seinen zwei Geschäftspartnern ermordet, weil diese befürchteten wegen schmutziger Geschäfte verpfiffen zu werden. Doch wer hat diese Artikel geschickt? Und warum? Soll Charlie etwa eine falsche Verurteilung verhindern und sich so rehabilitieren? Oder sollte sie besser die Finger davon lassen? Während Charlies Lebensgefährtin Maria sich zunächst eher rational und unbeeindruckt gibt, macht Lisa, Charlies heimlicher Flirt, ihr Mut. Und so begibt sich Charlie auf eine Spurensuche, die sie auch zurück in ihre eigene Vergangenheit, ans College in Oxford, führt… Die Mutter der jungen Witwe ist nämlich eine ehemalige Dozentin von Charlie und die Frau namens Jay, mit der die Witwe Magda sich scheinbar über den Tod ihres Mannes hinwegtröstet, hielt sich bereits zu Studienzeiten im Umfeld eines ziemlich ähnlichen tödlichen Unfalls auf. Oder war das alles gar kein Unfall? Charlies Gespür und ihre Menschenkenntnis scheinen ihr den richtigen Weg zu Weisen, die Beweisführung aber gestaltet sich problematisch. Oder gibt es vielleicht gar keine Beweise und gar keine falsche Verdächtigung? Ist Charlies Intuition vielleicht verwirrt, genauso wie ihre Gefühle für Lisa sie verwirren? Denn diese gefährdet nicht nur Charlies Beziehung zu Maria, sondern auch ihr Leben.
McDermids Krimi wirft leider nicht so viele Fragen auf, wie es hier zunächst den Anschein erwecken mag. Von Anfang an weiß der Leser, dass die eigentlichen Verdächtigen unschuldig sind und Jay Dreck am Stecken hat. Lediglich für die Auflösung der Einzelheiten muss man sich gut 500 Seiten lang gedulden. Die große Kehrtwende bleibt aus, denn man muss kein Krimi-Fan sein um zu ahnen, dass die Figur der Lisa eine weitere Funktion haben muss außer die der Außenstehenden, die Charlies Liebe zu Maria auf die Probe stellt. Obwohl der Roman in einem lesbischen Milieu angesiedelt ist, sind die darin geschilderten Beziehungen und ihre Probleme konventionell. Dies soll vielleicht zeigen, dass homosexuelle Beziehungen nicht anders sind als heterosexuelle, aber es bereichert weder die Handlung noch die Charakterkonstellationen. Haben die Figuren mit Vorurteilen zu kämpfen, so sind die Darstellungen davon mindestens so abgedroschen wie die Vorurteile an sich. Was dieser Roman allerdings zeigt, ist, dass Gesetzesverfechter sowie Gesetzesverletzer auch nur Menschen sind.
Kann dieser Kriminalroman mich inhaltlich nicht überzeugen, so punktet auch das Äußere nicht: Verzweifelt habe ich versucht, den Titel und das auf dem Cover abgebildete brennende Streichholz in eine stimmige Verbindung zu bringen und bin letzten Endes doch kläglich gescheitert. Als ich jedoch einen Blick auf den englischen Originaltitel warf, wurde mir vieles klar: Trick of the Dark, so lautet der nämlich.

Cover des Buches The Sense of an Ending (ISBN: 9780224094153)

Bewertung zu "The Sense of an Ending" von Julian Barnes

The Sense of an Ending
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "The Sense of an Ending" von Julian Barnes

In Tonys Clique war Adrian immer der Exot. Der Neue. Der Ernste. Der, um dessen Gunst jeder buhlte. Doch nach dem Schulabschluss gehen die vier Jungs getrennte Wege. Tony geht dann eine Weile mit Veronica aus, aber irgendwann verläuft auch das im Sande. Bis Tony einen Brief von Adrian erhält mir der Bitte, mit Veronica ausgehen zu dürfen. Das setzt dann der Freundschaft zwischen den beiden ein endgültiges Ende. Etwa ein halbes Jahr später begeht Adrian Suizid - und keiner seiner Freunde kann nachvollziehen, warum.
An all das erinnert sich Tony nun, knapp ein halbes Jahrhundert später, nachdem er einen rätselhaften Brief erhalten hat: Der Nachlassverwalter von Veronicas Mutter informiert ihn darüber, dass Tony aus ihrem Nachlass das Tagebuch von Adrian erhalten soll. Wieso ist ausgerechnet Veronicas Mutter im Besitz dieses Buches? Und warum vermacht sie es Tony und nicht ihrer Tochter? Ist das Tagebuch der Schlüssel zu Adrians Selbstmord? All das beschäftigt Tony, aber Veronica enthält ihm das Tagebuch vor. Deswegen kommt es nach so langer Zeit wieder zu Treffen zwischen dem ehemaligen Liebespaar. Wer nun Romantik erwartet, ist auf der falschen Fährte, denn die Treffen mit Veronica lassen Vieles nur noch rätselhafter erscheinen. Und selbst als Tony sich alle Fakten erschließen kann, so kann er die Bedeutung dieser letzten Endes nur erahnen.
Julian Barnes’ The Sense of an Ending, das vergangenes Jahr den Booker Prize gewann und kürzlich in Deutsch mit dem Tital Vom Ende einer Geschichte erschien, ist ein Roman über die Macht und Ohnmacht der Erinnerung. Er erkundet die Grenzen der Subjektivität sowie den Grad an Realität oder Fiktion der eigenen Lebensgeschichte. Ganz versteckt findet man in ihm vielleicht auch die Mahnung oder den Appell, nicht erst so spät wie Tony über solche Grundzüge des menschlichen Bewusstseins zu reflektieren. Denn, das musste Tony schmerzlich feststellen, ändern kann man die Dinge im Nachhinein nicht mehr, sondern nur die Erinnerung an sie.

Cover des Buches Vollkommen leblos, bestenfalls tot (ISBN: 9783455402964)

Bewertung zu "Vollkommen leblos, bestenfalls tot" von Antonia Baum

Vollkommen leblos, bestenfalls tot
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Vollkommen leblos, bestenfalls tot" von Antonia Baum

Die junge Ich-Erzählerin will aus dem kleinbürgerlichen Idyll, welches überschattet wird von der Scheidung ihrer Eltern, ausbrechen und zieht ohne Plan, aber mit vielen Plänen nach dem Abitur in die große Stadt. „Man kann alles machen. Ich will was werden. Ich weiß noch nicht genau, was, aber ich will. Ich schaue in den Himmel, ich habe ein eigenes Glück, denke ich, worauf ich aufpassen werde, und ich wünsche, bitte, bitte, bitte, dass es gut wird.“ (16) Doch anscheinend passt sie nicht gut genug darauf auf, denn anstatt ein Studium oder eine Ausbildung zu beginnen und sich Stück für Stück ein bisschen Eigenständigkeit aufzubauen, geht die junge Frau eine Beziehung ein, zu Patrick, der sie, wie sie selbst so schön sagt, als „Besitztum“ (30) behandelt. Lief die Erzählerin vorher vor ihren sich immer wieder streitenden (Stief-)Eltern weg, ist sie nun ständig auf der Flucht vor Patrick. Dieser findet sie jedoch jedes Mal, oder lässt sie sich, ohne das zugeben zu können, gar finden? Gegen wen sollte die Erzählerin sonst ihre unglaubliche Wut und Abscheu, die sie immer wieder in lange, detaillierte Mordgedanken fasst, wenden? Gegen sich selber etwa? Schließlich muss die Antiheldin in Baums Roman sich selber eingestehen: „Du, denke ich, hast anderen immer ihr Ferngesteuertsein vorgeworfen, […] und nun, denke ich, bist du selber zu der ferngesteuertsten aller Ameisen unter der Sonne avanciert“ (109). Letzten Endes kann sie Patrick entkommen, oder vergrault ihn, das kann man nicht so genau sagen, aber anstatt aus ihren Fehlern zu lernen begibt sie sich in die nächste ungesunde Beziehung, zu Jo, einen mittelalten und mittelmäßigem Theaterschauspieler. In diesen ist die ach-so-erwachsene Erzählerin verknallt wie eine 13-jährige Pubertierende. Nun ist sie diejenige, die dem Partner hinterher rennt und die Luft zum Atmen nimmt. Natürlich kann auch das nicht gut gehen. Und wieder gibt es seitenlange Folter- und Mordgelüste.
Antonia Baums Debütroman soll als Charakterstudie der heutigen Generation von jungen Menschen Anfang zwanzig funktionieren. Die namenlose Erzählerin, mit der sich jeder identifizieren können soll, soll für die jungen Menschen stehen, die nichts mehr zu befürchten haben außer sich selbst. Und den Druck, sich selbst zu verwirklichen. Frauen kommen dabei irgendwie schlechter weg als die Männer, die als dominante Alphamännchen dargestellt werden. Die seitenlangen Gedankengänge spiegeln einen Menschen wieder, der auch im übertragenen Sinne nichts mit einem Punkt abschließen kann. Leider gibt sich die Erzählerin vorrangig als aggressiver Naseweis, der am Ende glücklicherweise doch ein bisschen was versteht und endlich einmal innehalten kann. Baums Roman passt auf die Aussage des betrunkenen und gescheiterten Schriftstellers, die sie in einer Art Prolog der Geschichte der Erzählerin voranstellt: „Keine Geschichten, nichts Ganzes, nur Bedeutungsloses. Aber ich kann nichts dafür. Wäre ich arm, wäre ich ein Ali, würde irgendjemand eine Bombe auf mich werfen, mich wenigstens diskriminieren oder meine Menschenrechte verletzten, glaub mir, es wäre ganz anders.“ (5) Ist es aber nicht.

Cover des Buches The Fortress of Solitude (ISBN: 9780571219353)

Bewertung zu "The Fortress of Solitude" von Jonathan Lethem

The Fortress of Solitude
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "The Fortress of Solitude" von Jonathan Lethem

Dylan ist ein weißer Junge unter vielen schwarzen Kindern im Brooklyn der 70er Jahre. Von den meisten anderen Nachbarskindern ausgegrenzt, freundet er sich ausgerechnet mit dem berühmt-berüchtigten Mingus an, Sohn des noch berühmteren und berüchtigteren Barrett Rude Jr., einer Funk und Rap Legende. Wie Dylan, dessen Vater Maler ist und experimentelle Filmaufnahmen macht, kommt auch Mingus aus einem eher ungeregelten Haushalt. Außerdem sind die Mütter beider Jungen abwesend. Obwohl diese Abwesenheit allgegenwärtig ist, wird sie jedoch nie explizit thematisiert. Vielmehr flüchten die beiden sich in die Musik, die Kunst des Graffitis, in den Drogenrausch und in die Welt ihrer Comic-Superhelden. Ein Ring, den Dylan von einem sterbenden Obdachlosen geschenkt bekommt, verleiht den Jungs magische Kräfte; so können die beiden, denen bereits in jungen Jahren so viel Schlechtes widerfuhr, zumindest versuchen, mit der gemeinsamen Kreation des Helden ‚Aeroman’ etwas Gutes zu tun.
Doch als die beiden aus dem Kinderalter herauswachsen, trennen sich ihre Wege nach einem tragischen Vorfall, der Mingus ins Gefägnis bringt und über den sein bester Freund sein Leben lang Stillschweigen bewahren wird. Dylan, der zuvor oftmals schon hin und her gerissen war zwischen der Funk- und Rapmusik seiner schwarzen Nachbarskinder und dem Punk und Rock seiner weißen Mitschüler, hat auch auf dem College Anpassungsprobleme. War Dylan in Brooklyn nicht schwarz genug, ist er in Camden nicht weiß genug. Und obwohl es ihm gelingt nach einem weiteren Ortswechsel ein Studium abzuschließen, kann er seine Vergangenheit nicht vergangen sein lassen. Um endlich Frieden mit sich selbst zu schließen, zieht es nach zwanzig Jahren nicht nur Dylan, sondern auch ‚Aeroman’, nach Brooklyn, in die ‚Fortress of Solitude’, zurück…
Jonathan Lethems ,coming-of-age novel’ versieht den Realismus des Ghettos mit ein bisschen Magie, ohne dabei an Authentizität einzubüßen. Außerdem ist die Perspektive eines weißen Jungen als Außenseiter inmitten des afro-amerikanisch geprägten Brooklyns sehr interessant. Dabei ist die Art und Weise, wie (pop-)kulturelle Güter wie Musik und Graffiti Identitäten produzieren, allgemeingültig und macht so diese einzigartige Geschichte universell.

Cover des Buches Schoßgebete (ISBN: 9783492054201)

Bewertung zu "Schoßgebete" von Charlotte Roche

Schoßgebete
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Schoßgebete" von Charlotte Roche

Wessen Erstlingswerk sich über 1,3 Millionen Mal verkauft, dessen zweiter Roman muss sich unweigerlich mit dem Debüt messen. Das weiß auch Charlotte Roche und entgegnet den Spekulationen darum, ob ihr neuer Roman Schoßgebete noch tabuloser mit dem Thema Sexualität umgeht, indem sie ihn mit einer seitenlangen und peinlichst detaillierten „Blase-Szene“ eröffnet. Schoßgebete ist jedoch nicht nur in dieser Hinsicht noch radikaler als sein Vorgänger: Im Gegensatz zu Feuchtgebiete geht es in diesem Roman nicht um eine Teenagerin, die gegen die Hygiene- und Rollenvorstellungen ihrer Mutter rebelliert, nachdem jene sich hat scheiden lassen und versuchte, sich und ihren Sohn umzubringen. In Roches zweitem Werk haben wir es mit Elizabeth Kiel zu tun, einer erwachsenen Frau mit Mann und Kind. Und während Elizabeth selbst aus einer Familie stammt, die sich eigentlich gar nicht mehr als solche bezeichnen kann, mit den geschiedenen Eltern und den ständig wechselnden Lebensgefährten der dominanten Mutter, versucht Elizabeth verzweifelt, ihren Familienalltag so normal wie möglich zu gestalten. Doch was bedeutet Normalität im Leben einer Frau, die mit dem tragischen Unfalltod von drei Geschwistern, die ausgerechnet auf dem Weg zu ihrer Hochzeit starben, umgehen muss?
Diesen Kampf um ein geregeltes Leben, der sich gleichwohl als Überlebenskampf bezeichnen lässt, schildert Roche gewohnt offen und neurotisch detailbesessen. Der Roman umfasst insgesamt einen Zeitraum von drei Tagen, die scheinbar willkürlich aus dem Leben der Elizabeth Kiel gegriffen sind. Doch Elizabeths tägliche Routine schließt eben auch das Extreme mit ein: Zum einen wären da die Therapiestunden, die ihr helfen sollen, die Allgegenwärtigkeit des Todes zu akzeptieren, damit Roche die Rolle der Überlebenden ablegen und wieder zur Lebenden werden kann. Und zum anderen wäre da der Sex, der, immer dann wenn ihre Tochter gerade nicht ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge in Anspruch nimmt, ihre ganze Energie beansprucht. Sich ihrem Mann zu widmen und sich völlig hinzugeben bedeutet für Elizabeth jedoch viel mehr als bloße Lust. Denn nur dann kann sie, die quasi aus nichts mehr besteht als aus dem Trauma ihrer Vergangenheit, diese und somit sich selber vergessen. Anders als in Feuchtgebiete ist Sex hier nicht nur Rebellion, sondern auch Selbstaufgabe. Und anders als in Feuchtgebiete kann die Protagonistin ihre Vergangenheit nicht hinter sich lassen und neu anfangen. Denn in Schoßgebete ist das Happy End nicht nur schwach, sondern gänzlich Tarnung. Elizabeth kriegt zwar, was sie will, aber dennoch nicht, was sie eigentlich bräuchte.
So hinterlässt der Roman den Leser innerlich genauso zerrissen wie seine Hauptfigur - unerschrocken, da man sich bereits zum zweiten Mal den Neurosen von Roches Charakteren gestellt hat, und verunsichert, was das halboffene Ende des Romans betrifft. Außerdem sind Parallelen zu Roches eigener Biografie (man bedenke, dass ihr Zweitname Elizabeth ist) nicht von der Hand zu weisen, was teilweise die Lese-Erfahrung stark beeinflusst. Beispielsweise traut man sich nicht wirklich, bei den aufgebauschten Hasstiraden gegen die „Druck-Zeitung“ mit den Augen zu rollen, wenn man immerzu denken muss ‚Nach so einem Schicksalsschlag hätte ich nicht die Kraft, das ganze auch noch in einem Roman zu verarbeiten und öffentlich mein Innerstes nach Außen zu kehren!’. Wenn man trotzdem diese Extremsituation einmal ausblenden kann, ist Schoßgebete auch ein Beziehungsroman, in dem sich jeder irgendwo wieder finden kann. Wieder einmal schreibt Roche das nieder, was viele nicht aussprechen können. Und während man sich nach der Lektüre von Feuchtgebiete fragte, wie Roche diesen Erfolg an Offenheit und Radikalität übertrumpfen will, fragt man sich nach dem Lesen von Schoßgebete erst recht, was als Nächstes kommen wird - jetzt, wo sie ihr letztes großes Tabuthema, den Tod ihrer Brüder, auch überwunden hat.

Cover des Buches Wasser für die Elefanten (ISBN: 9783832180263)

Bewertung zu "Wasser für die Elefanten" von Sara Gruen

Wasser für die Elefanten
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "Wasser für die Elefanten" von Sara Gruen

Gruens Roman eröffnet mit einem starken Prolog: Die Tiere sind los! Und inmitten des Chaos beobachtet der Protagonist eine grausame Gewalttat über die er sein Leben lang schweigen wird… zumindest bis er uns seine Lebensgeschichte erzählt.
Der Prolog wird anschließend kontrastiert mit dem 1. Kapitel, dessen Handlung in einem Altenpflegeheim angesiedelt ist. Unser Protagonist und Erzähler ist nun 90 Jahre alt, oder 93 (so genau weiß er das selbst nicht mehr), und sein derzeitiges Dahinvegetieren könnte nicht unterschiedlicher sein von seinem einstigen Zirkusleben. Die Erinnerungen daran bekommen wir in den folgenden Kapiteln geschildert, immer mal wieder unterbrochen durch den Pflegeheimalltag. So erfahren wir dass Jacob Jankowski, so heißt unsere Hauptfigur, im Alter von 23 Jahren sein Tiermedizinstudium an einer Eliteuniversität schmeißen musste, weil seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und ihm nicht einen Dollar hinterlassen haben. Jacob kehrt seinem alten Leben den Rücken und gerät, wie ihr es euch sicher schon denken könnt, durch Zufall an einen Wanderzirkus namens „Benzini Brothers Most Spectacular Show on Earth“.
Water for Elephants ist thematisch in erster Linie ein Roman über das (Über-)Leben während der Großen Depression. Das Zirkusleben wird dabei nicht romantisiert; die miteinbezogenen authentischen Fotografien mögen das zwar zunächst vermuten lassen, doch Gewalt gegen Tiere und Menschen wird nicht ausgespart. Treibende Kraft hinter der Handlung ist Jacobs Liebe für Rosie, eine Elefantendame, und Marlena, eine Pferdeakrobatin. Letztere ist jedoch mit ihrem Trainer verheiratet… Diese Dreieckskonstellation bietet selbstverständlich jede Menge Konfliktpotential. In dieser Hinsicht reiht sich Gruens Roman in ein recht traditionelles und konventionelles Schema ein - die Handlung ist leider vorausschaubar und glänzt bestenfalls durch seinen Schauplatz. Im Englischen würde ich Water for Elephants salopp als ‚easy read book’ abtun. Too easy.

Cover des Buches The Imperfectionists: A Novel (ISBN: B0036S49GE)

Bewertung zu "The Imperfectionists: A Novel" von Tom Rachman

The Imperfectionists: A Novel
Textravaganzenvor 12 Jahren
Rezension zu "The Imperfectionists: A Novel" von Tom Rachman

Rachmans Debüt dreht sich inhaltlich rund um die Redaktion einer englischsprachigen Tageszeitung in Rom und zeichnet sich in erster Linie durch seinen formalen Ansatz aus: Jedes Kapitel liest sich wie eine individuelle Kurzgeschichte aus der Perspektive eines Mitarbeiters; als roten Faden, der sich durch den gesamten Roman zieht und die einzelnen Geschichten zu einem kohärenten Ganzen vereint, gibt es am Ende jedes Kapitels ein paar wenige Seiten, die dem Leser fragmentarisch Einsicht in die Entstehungsgeschichte der Zeitung gewähren.
Den einzelnen Geschichten unterliegt ein gemeinsames (Kontrast-)programm: Während innerhalb der Zeitungsredaktion Oberflächlichkeit bis hin zur Anonymität herrscht, gibt es in den Geschichten intime Einblicke ins Privatleben der Beteiligten. So erlebt der Leser mit, wie beispielsweise Abbey Pinnola, auch schlicht „Accounts Payable“ genannt, bei einem Liebesabenteuer eingeholt wird von einer Personalentscheidung. Oder er erfährt, warum Ornella De Monterecchi, die treuste Leserin des Blattes, die jede Ausgabe von vorne bis hinten studiert und deswegen rund 10 Jahre im Rückstand ist, ausgerechnet die Ausgabe vom 24. April 1994 nicht finden kann und warum das ihr Leben für immer verändert. Obwohl die kleinen privaten Dramen der Mitarbeiter so viel unbedeutender scheinen als die Schlagzeilen, die die Zeitung abdruckt und die außerdem jedes Kapitel küren, sind sie doch umso interessanter, da greifbarer, menschlicher.
Nichtsdestotrotz ist der Ton in Rachmans Roman nicht durchweg ernst, denn im Alltag der Mitarbeiter gibt es so einige Kuriositäten zum Schmunzeln. Tragisch-komisch ist da wohl das passende Attribut. Und wenn dieses Buch eine Nachricht in sich birgt, dann ist es der altbekannte Slogan „Nobody is perfect“, gepaart mit „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“ und Robert Frosts Lebensweisheit „Was ich vom Leben gelernt habe, kann ich in drei Worte fassen: Es geht weiter.“
Nichts Neues? Aber dennoch mit viel Mühe verpackt und schön zu lesen.

Über mich

Lieblingsgenres

Biografien, Literatur, Unterhaltung

Freund*innen

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks