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Thomas_Lawall

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Cover des Buches Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann (ISBN: 9783839206645)

Bewertung zu "Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann" von Franziska Steinhauer

Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann
Thomas_Lawallvor 4 Tagen
Kurzmeinung: Geschichte eines deutschen Massenmörders, der 24-fach zum Tode verurteilt wurde.
Misslungener Lebensentwurf

Fritz Haarmann (geb. 1879) vergöttert seine Mutter. Sie hätte stets recht gehabt, insbesondere mit dem einen oder anderen guten Ratschlag, den sie ihm mit auf seinen Weg gab.

"Der Mensch soll nicht allein sein, der braucht einen, der aufpasst."

So sieht er auch seinen misslungenen Lebensentwurf im Scheitern einer Verlobung als begründet. Es wäre ganz sicher nicht zu dem gekommen, was sich später zutragen sollte. Seine Erna suchte und fand einen neuen Partner, was für sie vielleicht eine Rettung bedeutete.

Für Fritz Haarmann jedoch nicht. In völlig zerrütteten Verhältnissen aufgewachsen, brach für ihn eine Welt zusammen und es entstand eine, wohl aus Enttäuschung, zusammengesetzte Motivation für seinen weiteren Werdegang, sozusagen als diabolisches Fundament.

Mit den "Weibern" wollte er fortan nicht mehr, was sich bereits vorher, auch in Verbindung mit sexuellem Missbrauch in seiner Familie als Kind, angekündigt hatte. Zudem wäre im allgemeinen davon abzuraten, sich mit einer Frau einzulassen,

"wegen der bösen Krankheit, die sie einem Mann anhexen."

In 68 Kapiteln, verteilt auf nur gut 300 Seiten, versucht Franziska Steinhauer die Rekonstruktion einer Serie von Verbrechen, die ihresgleichen suchen. Die Zusammenstellung realer Ereignisse und Fiktion ist schwierig und somit nicht immer gelungen. Die ständigen Wechsel der Erzählebenen und -perspektiven ermüden und sind nicht selten schlicht überflüssig.

Die damalige (sparsame) Medienberichterstattung sowie erste zaghafte und später ausführlichere polizeiliche Ermittlungen werden beispielsweise durch eine Art Pressestammtisch ("Presseclub Falkennest") kommentiert, die langweiliger nicht sein können. Diese Kapitel werden nur noch durch die begleitende Story der beiden Ausflügler Ludwig und Theo "getoppt", die sich gegen Ende dann noch in eine waschechte Seifenoper verwandelt.

Merkwürdigerweise ändert sich der preiswerte Erzählstil, der nicht selten nach Heftroman klingt, in den Passagen, die Haarmann "selbst" erzählt, in eine völlig andere Dimension. Hier kommt der 24fach verurteilte Massenmörder "persönlich" zu Wort. Die Autorin zieht hier alle Register und zeichnet damit ein erschütternd-düsteres Sprachbild nach dem anderen.

Scheinheilig-naiv, ohne geringste Skrupel oder Spurenelemente des Mitleids, erschafft hier eine eiskalte Seele ein Szenario des Schreckens. Mit dem Gefühl für Leserinnen und Leser, einen Blick in das (mögliche) Seelenleben des "Werwolfs von Hannover" geworfen zu haben, ist Franziska Steinhauer die perfekte Illusion gelungen, denn wie er wirklich gedacht und/oder (sogar) gefühlt hat, ist nicht wirklich belegt.

Auch die eigentlichen Todesursachen der Opfer geben noch heute Rätsel auf, so wie es der Gesamtzusammenhang und die Motive ebenfalls tun. Auch dieses Buch kann letztendlich keine Antworten geben, was allerdings auch nicht die Aufgabe eines True-Crime-Romans ist.

Nach einem entsprechenden Nachtrag sowie dem Urteil gegen Hans Grans, der in einer engen Beziehung zu Haarmann stand, wird das Buch durch einen umfangreichen tabellarischen Lebenslauf, einer Liste der 24 Opfer und einem Literaturverzeichnis komplettiert.

Cover des Buches Wir sehn uns vorm Gericht! (ISBN: 9783956145872)

Bewertung zu "Wir sehn uns vorm Gericht!" von Willy Astor

Wir sehn uns vorm Gericht!
Thomas_Lawallvor 19 Tagen
Kurzmeinung: Wer gerne in geselliger Runde kocht, ist hier genau richtig!
Geselliges Kochen

Habe ich das schon irgendwo erwähnt? Kochbücher mag ich weniger bis gar nicht. Meistens schaue ich mir nur die Fotos an. Die sind Inspiration genug. Wenn ich überhaupt etwas nachkoche, dann wie ICH es will. So wie Willy Astors Opa zum Beispiel, doch davon später.

Manchmal kommt man einfach schnell an seine Grenzen. Zumindest teilweise, denn die Rezepte der anspruchsvollen Art überlasse ich dann lieber denjenigen, die das wirklich können. Beispielsweise Sternekoch Eckart Witzigmann, der mit "Sechskorn-Pflanzerl" und "Blumenkohl in Curry-Kokosnuss-Sauce" sowie einem fulminanten Nachtisch beeindrucken kann.

Kriegt man eh nicht hin und optisch schon gar nicht. Auf den Fotos sieht es stets ebenso aufgeräumt wie kunstvoll aus, aber wenn man es selbst versucht, sieht es meistens aus wie gewollt, aber nicht gekonnt. Was man bei den großen Vorbildern und Lehrmeistern in mühevoller Kleinarbeit gelernt hat, ist eben für Laien nicht unbedingt leicht umzusetzen.

Ganz anders mit Martina Schwarzmanns "Aufdrahten Wixpfeiferl mit Apfelmus". Klar, die heißen normalerweise ganz anders. Die Kabarettistin (die eine Bandsäge besitzt) erklärt aber einleuchtend warum. Jedenfalls ist das Rezept sehr einfach und sogar für den Rezensenten nachvollziehbar und -kochbar.

Auf Astors beliebte Wortverdreher muss man in diesem Werk (fast) verzichten. Für Menschen, die aber fast automatisch danach suchen, hat er allerdings einige wenige Perlen bereitgestellt. So zum Beispiel Wissenswertes zur Geschichte der Nudeln, was "Veganier" nach der Landung essen, und natürlich, passend zum Thema, eine Bemerkung zum "Jüngsten Gericht". Und wer es bis zum Ende schafft, kommt dann voll auf seine/ihre Kosten ...

Die jeweils jüngsten Gerichte bereitet er gerne in geselliger Runde mit Freunden, was dieses Buch eindrucksvoll dokumentiert. Es gibt nicht nur Fotos von mehr oder weniger gut gefüllten Tellern, sondern auch jede Menge Bilder von den netten Menschen, welche die Speisen jeweils gekocht haben.

Dies unterstreicht den sehr persönlichen Charakter dieses Kochbuchs, was es zu etwas Besonderem macht. Die breite Auswahl vom einfachsten Pfannkuchen bis zum fulminanten Sauerbraten setzt dem Ganzen dann die Krone auf. Zum Thema Pfannkuchen passt dann die Überleitung zum schon zitierten Großvater. Jener stellt klar, dass er seine Eierkuchen stets nach Gefühl herstellt. Somit bietet er kein Rezept an, sondern eine "Anleitung". Schließlich werden auch andere Rezepte von ihm "nur in groben Zügen beachtet".

So wird es wahrscheinlich auch diesem Buch ergehen. Wer es ganz genau wissen will, wird sich genau am Rezept orientieren und wer nicht, wird, die grobe Richtung einhaltend, seinen eigenen Senf dazu geben. Wenn Willy Astors Buch einen Beitrag dazu leisten kann, die eine oder andere gesellige Kochrunde mit Freunden zu gestalten, ist doch schon viel getan.

Cover des Buches Bob Dylan: Mixing Up the Medicine (ISBN: 9783426279151)

Bewertung zu "Bob Dylan: Mixing Up the Medicine" von Mark Davidson

Bob Dylan: Mixing Up the Medicine
Thomas_Lawallvor einem Monat
Kurzmeinung: Eine Biografie, die alles in den Schatten stellt! Ein Eldorado für Fans.
Entdeckungsreise...


Die Lesegewohnheiten des Rezensenten stellt dieses Buch auf den Kopf. Vielen Leserinnen und Lesern wird es ähnlich gehen, denn nicht nur das ungewohnte Format, sondern auch das für ein Buch enorme Gewicht machen den gemütlichen Leseabend im Bett zunichte. Auch Omas uralte Lesecouch bleibt für eine ganze Weile ungenutzt, ebenso wie alle anderen Leseecken der etwas gemütlicheren Art.

Da muss eine stabile Unterlage her, und so bekommt der Esstisch eine ebenso ungewohnte wie ganz neue Zusatzfunktion. Das Lesen am Tisch ist neu, ja fast (für mich) etwas verstörend, was dem Buch aber umgehend die volle Aufmerksamkeit verleiht. Und schließlich geht es ja um niemand geringeren als Robert Allen Zimmerman ...

...der sich, im Alter von 22 Jahren, ab dem 2. August 1962 Bob Dylan nannte. Die Zeit davor, insbesondere die frühere Schulzeit, unterschied sich nicht wesentlich von der seiner Mitschüler/innen, wenn man von den recht früh einsetzenden musikalischen Tätigkeiten und Entwicklungen einmal absieht.
"The Golden Chords" beeindruckten wohl gleichaltrige, waren ansonsten aber unbedeutend, ebenso wie die Gesangsgruppe "The Jokers", der er Mitte der 50er Jahre angehörte.

Das änderte sich grundlegend nach dem Besuch von Buddy Hollys letztem Konzert am 31.01.1959, welches für Bob Dylan maßgebend von Bedeutung war, und spätestens ab hier wird das Buch richtig spannend. Ebenfalls von ungeheurer Bedeutung für ihn waren Woody Guthries Songs und die persönliche Begegnung mit ihm:

"Er hatte einen Ton ... Und er hatte etwas zu sagen, das gesagt werden musste."

Der Einfluss des Rock'n'Roll wurde durch Folk entscheidend verändert bzw. abgelöst, und bald kannte Bob Dylan seine Songs in und auswendig. Sich selbst bezeichnete er rückwirkend als "eine Art Woody-Guthrie-Jukebox".

Als wäre dies alles noch nicht spannend genug, folgen die Hintergrundgeschichten zu den ersten LP-Veröffentlichungen "Bob Dylan" (1962), "The Freewheelin' Bob Dylan" (1963) und "The Times They Are A-Changin'" (1964), und da ist sie wieder, die Gänsehaut!

Es mag ein Unterschied sein, alle bisherigen Veröffentlichungen über den Ausnahmemusiker zu kennen, oder vielleicht nur wenige oder gar keine. Kenner/innen mögen eine gewisse Überladung des Buches feststellen, während die andere Seite jubelt. Beide Sichtweisen mögen auf ihre Art ihre Berechtigung haben, wobei sich der Rezensent eher der uneingeschränkten Begeisterung anschließen möchte...

... denn dieses Werk enthält genau das, was vielen anderen Biografien fehlt.
Hier gibt es Bild- und Textmaterial in Hülle und Fülle, Fotos von aktuellen wie ersten Auftritten, Zeitzeugen, rare Plattencover, sowie Zeitungsausschnitte, Tourplakate, Eintrittskarten, Notizbücher und vieles mehr, insgesamt 1100 Abbildungen, und überhaupt den ganzen "Kram", den Sammler/innen gerne besitzen würden, sich aber niemals leisten könnten. Zum Glück gibt es aber das Archiv des Bob-Dylan-Centers in Tulsa/Oklahoma.

Dieses Buch ist somit (mindestens) eine Entdeckungsreise der anderen Art, insbesondere für jene, die wenig oder gar keine Literatur über Dylan gelesen haben und auch nur eine Handvoll der Songs kennen. Um so mehr dürfte es dann erstaunen, wie groß die Songauswahl tatsächlich ist, wie zahlreich die Tourneen waren (und weitergehen werden) und dass Bob Dylan auch noch die Zeit zum Malen sowie zu einer handfesten Kunstform, dem Schweißen großer Eisentore aus Metall, fand.

Die dreißig Essays bekannter Autoren und Autorinnen führen chronologisch durch die Jahrzehnte der, teilweise recht unterschiedlichen, Schaffensperioden Dylans und zeichnen somit ein sehr persönliches Gesamtbild, das es, zumindest in dieser Form, noch nie gegeben hat. Höhepunkte sind die Entstehungsgeschichten verschiedener Songs, sowie deren weitere Bearbeitung, Entwicklung und Veränderung, die mitunter erst auf der Bühne während eines Konzerts entstanden. Überhaupt motiviert dieses Buch zum ständigen Reinhören in Songs, die man entweder noch gar nicht kennt, oder gerne wieder einmal hören würde.

Faszinierend sind (für Laien) Beobachtungen, die sich mit der Songstruktur beschäftigen. So ist es z.B. möglich, dass es Autoren wie Alan Licht auffällt, wenn in einem Song statt in E-Dur plötzlich in Fis-Dur gespielt wird, während das betreffende Stück auf einem Album in A-Dur, oder bei einer Akustikversion in G-Dur gespielt wird. Wer es also ganz genau wissen will, ist hier ebenfalls gut aufgehoben. Ob Bob Dylan selbst so genau analysiert, kann allenfalls vermutet werden, denn die Entstehung seiner sich immer weiter verändernden Songs, sowohl was die Musik als auch Verse und Bilder betrifft, ist eher spontan und entspringen "einer unbewussten Gemütsverfassung", wie er selbst formuliert.

Sehr bewusst hingegen können sich jetzt die Fans mit ihm und seinem Gesamtwerk beschäftigen, was in "Bob Dylan - Mixing Up the Medicine" mit seinem Geburtsjahr 1941 beginnt und nach dem Epilog mit einem Foto aus dem Jahr 2023 endet.

Übrigens, das Mammutwerk, ein Mittelding zwischen Biografie, Sammelalbum und literarischer Wundertüte, wurde mir von einer Mitarbeiterin des Droemer Verlags im Vorfeld mit folgenden Worten angekündigt: "Das Buch ist der Hammer!"

Das war mit Sicherheit die bisher charmanteste Untertreibung des Jahres.

Cover des Buches Rilke. Der ferne Magier (ISBN: 9783827501035)

Bewertung zu "Rilke. Der ferne Magier" von Gunnar Decker

Rilke. Der ferne Magier
Thomas_Lawallvor 2 Monaten
Kurzmeinung: Gunnar Deckers Hommage an den "Welteröffner".
Opulentes Wortgemälde



1886 kommt René auf eine Kadettenschule in St. Pölten, gemäß dem Willen seines Vaters. Vielleicht könnte ja sein Sohn den Rang eines Offiziers erreichen, was ihm selbst, wegen einer chronischen Erkrankung, verwehrt war. Schließlich quittierte er gar, weil die Beförderungen ausblieben, seinen Dienst, wohl aus Enttäuschung, Resignation und vielleicht auch aus stummem Protest. Sein Sohn sollte schon deshalb gleich in jungen Jahren auf jene Schienen gelenkt werden, die ihm das ermöglichen sollten, was ihm verwehrt war.

Mit seiner Mutter und ihrem Traum, eine große Schriftstellerin zu werden, verhielt es sich ähnlich, weshalb sie, wo sie konnte, gegensteuerte. So ist auf der Rückseite eines Fotos aus jener Schule eine Notiz seiner Mutter erhalten geblieben, die den elfjährigen René in einer Uniform zeigt, und sie diesen Aufzug als sein "Gefängnis" bezeichnet.

"René" übrigens deswegen, weil dies sein wirklicher Vorname war. Genauer gesagt "René Karl Wilhelm Johann Josef Maria". Elf Jahre später kam Lou Andreas Salomé, "seine ersatzmütterliche Geliebte", auf die Idee, ihn Rainer zu nennen. Schließlich würde René zu sehr nach "Salon und Parfüm" riechen. Mit der Änderung seines Vornamens solle er auch gleich seinen oft ausufernden, oftmals die Grenzen der schönmalerischen Wallungen überschreitenden Schreibstil radikal ändern ...

Und da sind wir schon bei einem gewissen Problem des Buches angekommen, zumindest aus der bescheidenen Sicht des Rezensenten. Die verschachtelten Strukturen gestalten die Biografie, zumindest in den ersten Kapiteln, etwas unübersichtlich, verwirrend und nicht selten wiederholend. Wird Vaters misslungene militärische Laufbahn erstmals erwähnt, sowie sein Wille, René deshalb die Kadettenschule in St. Pölten besuchen zu lassen, wird dies zwölf Seiten später wieder thematisiert.

Dazwischen gibt es immer wieder Verweise auf künftige oder vergangene Ereignisse, nur um dann wieder auf den jeweiligen Stand der Dinge zurückzukehren. Wer sein späteres Studium und seinen Lebensunterhalt finanziell unterstützt, darf man beispielsweise ebenfalls mehrmals nachlesen, oder die katastrophalen Eindrücke, die er in Paris gewann, sowie die niederschmetternde Charakterisierung seiner Mutter.

Der Wechsel der Zeitebenen ähnelt einem Hürdenlauf in verschiedene Richtungen. Würde man eine Biografie von Anfang an chronologisch gestalten, wären solche Wiederholungen, die wahrlich nicht die einzigen sind, nicht möglich (der Umfang des Buches ebenfalls nicht) was aber andererseits vielleicht zu einseitig wäre. Was also hier und da fast ein wenig ärgerlich stimmt, machen die zahlreichen Zitate Rilkes locker wieder wett.

Hier kommt "der ferne Magier" zum Zug und entschädigt für alles. Auch wenn es an die Substanz geht. Das ebenso komplizierte wie gestörte Verhältnis zu seiner Mutter wird in einem Brief an Lou klar, in welchem er u. a. ihren "eigensinnigen Glauben" beklagt:

"... diesen Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich."

Der nicht erklärbare Zauber, der von ihm und seinen Worten ausgeht, deutet sich bereits in der eingangs erwähnten Schule mit deutlichen Vorzeichen an. Mitglied einer Clique zu werden ist genauso unmöglich wie Hänseleien oder gar ein Auslachen jenes jungen Menschen, den eine "Aura der Distanz" schützt. Die Klasse schweigt, wenn der Deutschlehrer seine ersten Gedichte vorliest.

Leserinnen und Lesern ergeht es nicht anders. Insbesondere wenn es ernst wird. Nicht wenige werden aber an ihre Grenzen stoßen, denn Verse wie

"Über uns hinüber / spielt dann der Engel. Sieh, die Sterbenden, / sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand / das alles ist, was wir hier leisten. Alles / ist nicht es selbst."

faszinieren zwar wie seit eh und je, doch das Verstehen derselben steht auf einem völlig anderen Blatt. Es muss wirken oder zumindest irgendwann ankommen, oder es tut es nie. Aber selbst das Unverständliche kann scheinen und strahlen und scheint zudem gegen jedes Vergessen immun zu sein.

Wie dem auch sei, muss man ohne den geringsten Zweifel dem Autor ein bis zwei Lobeshymnen singen, denn dieses gewaltige Werk verlangte wohl das Studium unzähliger Zeitdokumente, insbesondere Rilkes zahlreiche Briefwechsel mit wichtigen oder auch nicht so wichtigen Zeitgenossinnen und -genossen. Wie sonst könnte man beispielsweise ein derart genaues Licht auf die unglückliche Ehe mit Clara werfen, auf seine Nicht-Vaterrolle für seine Tochter Ruth, Lou Andreas Salomés zentrale Bedeutung oder sein schwer gestörtes Verhältnis zu seiner Mutter, welcher er 25 Jahre Briefe schrieb, die allein 1500 Seiten umfassen.

Das Ergebnis dieser Fleißarbeit, lesbar durchaus auch für literarisch ungeübte Leserinnen und Leser, entführt mit nachhaltigem Eindruck in die Gedankenwelt Rilkes, die (nicht nur) in "Malte Laurids Brigge" und den "Duineser Elegien" ihren Höhepunkt erreichten. Gunnar Decker legt ein opulentes Wortgemälde der rätselhaften Existenz Rilkes vor, welches trotz der ganzen Vielfalt von Nebenstraßen, den vielen Reisen, Eindrücken, Bekanntschaften, Beziehungen und der ewigen Suche nach so etwas wie einer Hauptstraße, den "notorisch Einzelnen", der alle Fäden in der Hand zu haben schien (um sie gleich wieder zu verlieren), nicht übersieht.

Und immerhin, was wäre der Existenzialismus ohne seinen "Metaphernlieferanten"?

Wie auch immer, die Verführung zur "existenziellen Selbstbefragung" ist gelungen. Das Bild des Magiers aber bleibt voller Rätsel. Vielleicht auch ganz gut so, denn wem und wozu könnte eine "Lösung" wohl dienlich sein?

Cover des Buches Sarggeschichten (ISBN: 9783442394036)

Bewertung zu "Sarggeschichten" von Sarah Benz

Sarggeschichten
Thomas_Lawallvor 2 Monaten
Kurzmeinung: Alles was man über das Thema Sterben wissen möchte, bisher aber nicht zu fragen wagte.
Das Unvermeidliche in klaren Worten

Sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen gehört nicht gerade zu den gewohnten Tagesordnungspunkten des Alltags. Warum eigentlich, fragt man sich spätestens nach der Lektüre dieses Buches. Schließlich endet jedes Leben mit dem Tod. Die Wege zu einem Verständnis, das Sterben in seiner ganzen Konsequenz zu "begreifen", werden uns in der Erziehung nur ungenau oder gar nicht beigebracht.

Die beiden Autorinnen ändern diesen Mangel auf eine ebenso unkonventionelle wie nachhaltige Weise. Dass die Lektüre dieses Buches nicht immer erfreulich sein würde, war klar. Nicht selten wird man an die eigenen Verluste erinnert, oder geschilderte "Sarggeschichten" erschüttern zutiefst. Aber dass die gegebene Thematik derart offen, unkompliziert und stets würdevoll behandelt wird, öffnet unerwartet neue Horizonte.

Dies beginnt bereits bei der Wortwahl. Beispielsweise wird der Begriff "Angehörige" durch "Zugehörige" ersetzt. Neben den in gerader Linie Verwandten sollen auch Menschen angesprochen werden, die "ohne rechtlichen Rahmen" mit den Verstorbenen verbunden waren.

Normalerweise wird bei einem Todesfall ein örtliches Bestattungsunternehmen beauftragt, welches meist sämtliche Aufgaben übernimmt. Sarah Benz und Katrin Trommler haben hier nicht wenige Einwände und zeigen ganz genau auf, was Zugehörige an Aufgaben selbst erledigen und gestalten können und dürfen. Hier betreten Leserinnen und Leser mitunter Neuland, denn wem ist schon bekannt, dass man Verstorbene, je nach Gesetzeslage der Länder, ein bis zwei Tage, in Bayern sogar ohne Frist, zu Hause behalten kann.

Nicht jede/r wird in der Lage sein, nahestehende Verwandte nach deren Tod zu waschen und neu einzukleiden, weshalb es sich auch bei der ganzen Vielzahl der vorgestellten Gestaltungsmöglichkeiten für Trauerfeiern oder dem Abschiednehmen ganz allgemein stets um Vorschläge handelt. Auf einen erhobenen Zeigefinger verzichten die Autorinnen völlig. Die freie Entscheidung steht immer im Vordergrund, wobei sich Dinge, nach entsprechender Bedenkzeit und professioneller Begleitung, auch auf wundersame Weise entwickeln und ändern können.

Auf die eine oder andere emotionale Breitseite darf man sich einstellen, insbesondere wenn es um beschriebene Einzelschicksale geht, auch was eigene Verluste der Autorinnen betrifft. Traurig genug, wenn die Eltern sterben, aber wenn Bruder oder Tochter sterben, sind das wieder ganz andere Dimensionen. Wer nach Antworten sucht, wie so etwas zu bewältigen ist, findet hier Antworten.

"Der Tod meiner Tochter gehört zu meinem Leben, und ich würde mir mehr Normalität im Gespräch darüber wünschen."

"Sarggeschichten" ist ein Buch gegen die Verdrängung eines Themas, das jede/n von uns betrifft. Nach der Lektüre freut man sich nicht unbedingt auf das, was da kommen möge, aber der Blick wird klarer und die Angst kleiner. Auslöschen kann man sie nicht, aber alles was wir tun können, ist die freie Gestaltung eines würdevollen und "selbstbestimmten" Abschieds.

Herzerfrischend sachlich, auch wenn es manchmal an die Substanz geht. Sanfte aber glasklare Heranführung an eine Thematik, die alle Menschen betrifft, aber gerne verdrängt wird. Das immerwährende, unangenehme Hintergrundrauschen steht jetzt in vollem Sonnenlicht. Voller Sensibilität, Empathie, Respekt und Wertschätzung.

Alle Achtung.

Cover des Buches Einstein (ISBN: 9783426278772)

Bewertung zu "Einstein" von Samuel Graydon

Einstein
Thomas_Lawallvor 2 Monaten
Kurzmeinung: Leben und Wirken Einsteins in 99 Geschichten.
Gedankenblitz

Es sind eigentlich mehr als "99 Teilchen", in diesem Fall also Geschichten, die Samuel Graydon zu erzählen weiß, denn in seiner elf Seiten starken Einleitung befinden sich bereits einige, teils sehr bemerkenswerte Anekdoten. Es soll sich beispielsweise zugetragen haben, dass sich zwei amerikanische Schüler etwas Besonderes ausgedacht haben. Sie wollten Einsteins Ruhm testen und schlossen eine Wette ab, ob es wohl reichen würde, wenn man auf einem Brief an ihn lediglich die Adresse "Albert Einstein, Europe" angeben würde. Wie das ausgegangen ist und wie Albert Einstein dies kommentierte, ist in jener Einleitung nachzulesen.

Der Autor und Wissenschaftsredakteur des "Times Literary Supplement" betritt in seinem ersten Buch gleich ein großes Parkett. Sein Anliegen war aber offenbar nicht, eine Biografie im herkömmlichen Sinn zu schreiben. Er nennt seine Aufzählung der 99 kurzen Kapitel, und die unterschiedliche Gestaltung derselben, ein "Mosaik".

"Zusammen sollen die Einzelteile ein Portrait zeichnen, das auf seine Weise nicht minder repräsentativ ist als eine herkömmliche Biografie."

Und jene gibt es in Hülle und Fülle. Samuel Graydon konnte also sozusagen aus dem Vollen schöpfen, wobei es bereits eine großartige Leistung ist, alle (bisher erschienenen) Schriften, die sich mit Einsteins Arbeit und Leben beschäftigen, gelesen zu haben, und die er im Verzeichnis seiner Quellen im einzelnen aufzählt. Die Betonung liegt hier auf "bisher", denn der sechzehnte Band der "Collected Papers of Albert Einstein", herausgegeben von der Princeton University Press, vervollständigt Einsteins Schriften (der erste Band erschien vor 36 Jahren) nunmehr erst bis 1929.

Samuel Graydon möchte in seinen "Teilchen" nicht nur dem unzweifelhaften Genie Einsteins huldigen, sondern auch den einen oder anderen Schatten nicht unerwähnt lassen, wobei das eine oder andere Persönlichkeitsmerkmal nicht einseitig "herausgearbeitet" werden soll. Einige Ambivalenzen verschiedenster Art scheint es in seinem Privatleben dennoch gegeben zu haben, auch was "rassistische Ansichten" (Asienreise/Reisetagebuch 1922) oder seinen Umgang mit Frauen betraf.

Bevor der Autor jedoch auf ein falsches Gleis gerät, dreht er ab, indem er Einsteins Gelingen bescheinigt, "liebenswert zu bleiben", was wohl auch die große Mehrzahl seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bestätigt. Diese Charaktereigenschaft belegt nebenbei auch die nicht gerade alltägliche Fähigkeit, die eigenen Fehler gnadenlos aufzudecken und zu akzeptieren. So musste er beispielsweise seine Theorie über die "einheitliche Feldtheorie" aufgeben.

"Das war, wie sich herausstellen sollte, Unsinn."

Der Quantenphysiker Wolfgang Pauli sagte ihm die Aufgabe seiner dahingehenden Denkweise voraus, und er sollte recht behalten. Es sollte jedoch eineinhalb Jahre dauern, bis ihn ein Brief Einsteins erreichte:

"Sie haben also recht gehabt, Sie Spitzbube."

Das schlaglichtartige Eintauchen in Einsteins Privatleben sowie den Streifzug durch seinen Werdegang als Wissenschaftler, seinem Leben VOR und NACH der Relativitätstheorie, fasziniert nachhaltig, lässt einen aber fast vergessen, dass es neben all den Erkenntnissen und Fehlschlägen, den zahlreichen Reisen, Umzügen oder Kontakten zu berühmten Persönlichkeiten auch einen, immer lästiger werdenden, politischen Hintergrund gab, der ihn 1933 schließlich dazu zwang, Deutschland und Europa für immer zu verlassen ...

Die ebenso informative wie unterhaltsame Lektüre wird am Ende des Buches durch ein Register vervollständigt sowie durch ein ausführliches Quellenverzeichnis komplettiert. Hier findet man (auch) Zugang zu wissenschaftlichen Abhandlungen über die spezielle Relativitätstheorie, die zur berühmtesten Gleichung der Wissenschaft führte: E = mc². Sie

"ergab sich einfach aus Einsteins Arbeit, ein nachträglicher Gedankenblitz..."

Nicht wenige werden sich nach der Lektüre dennoch fragen, so wie der Rezensent übrigens auch, ob sie die allgemeine und die spezielle Relativitätstheorie (endlich) wirklich verstanden haben. Vielleicht sollte man dies in diversen Kapiteln, oder an anderer Stelle, noch einmal ganz langsam nachlesen...

Immerhin ist man nach "Einstein - Ein Leben in 99 Teilchen" einem der größten Wissenschaftler der Geschichte ein wenig näher gekommen. Das ist nicht alles und doch (relativ) viel.

Cover des Buches Hurzlmeiermalerei (ISBN: 9783956144004)

Bewertung zu "Hurzlmeiermalerei" von Rudi Hurzlmeier

Hurzlmeiermalerei
Thomas_Lawallvor 3 Monaten
Kurzmeinung: Rudi Hurzlmeier malt Welten, die es nicht gibt. Oder doch? Alpträume und satirische Ansichten reichen sich die Hand. 5 Sterne reichen nicht!
Absurder Hochgenuss

Herrlich, diese Traumfluten, die uns im Schlaf überfallen und uns für kurze Zeit in andere Dimensionen entführen. Wachen wir auf, sind wir oft noch eine Weile dort, bis die Erinnerung, auch wenn sie noch so "echt" erschien, langsam verblasst und schließlich meist ganz in Vergessenheit gerät.

Wo sind all die Träume hin, wo sind sie geblieben? Irgendwie hätte man dies aufzeichnen sollen. Was in ein paar hundert Jahren vielleicht gelingen mag, funktioniert heute zwangsweise noch anders. Kluge Köpfe schreiben ihre Gedanken auf, andere packen sie in Musik und wieder andere greifen zu Pinsel und Farbe.

Rudi Hurzlmeier ist so einer. Er kann Farben in Träume und Phantasien (zurück-)verwandeln. Dass er hierbei mitunter etwas übertreibt, ist sein gutes Recht. Dazu ist Kunst ja (auch) da. Eine schier aussichtslose Flucht zum Beispiel. Kennt jeder. Man befindet sich in einer ausweglosen Situation. Das Ende steht unmittelbar bevor. Da vorne ist ein Wasserfall, dem man nicht mehr entkommen kann. Man liegt im Bett und versucht, verzweifelt rudernd, dem Unvermeidlichen zu entkommen. Selbstverständlich ist Vollmond, keinesfalls aber sicher, wie man denn gleich sterben wird, denn von hinten kommt auch noch ein kapitaler Hai angeschwommen. Die einzige Rettung wäre nun tatsächlich das Aufwachen...

Hurzlmeiers Malerei hat aber wenig mit Wachzuständen zu tun. Beim Abtauchen in seine Welt möchte man alles sein, nur nicht wach. Die großen Meister augenzwinkernd zitierend, feiert Rudi Hurzlmeier den Sieg über den Tunnelblick des Alltäglichen. Normalität wird ersatzlos gestrichen, und zwar mit satt und reichlich Farbe, sowie einem Gespür für phantastische Grenzüberschreitungen. Ein Plädoyer für die Legalisierung des Absurden.

Was ist Kunst? Heerscharen "normaler" Menschen interessiert das wenig bis überhaupt nicht. Hat nicht mal jemand gesagt, dass Kunst das Unsichtbare zeigt, abbildet, darstellt oder wie auch immer? Wie dem auch sei, wer das nicht Sichtbare sucht, wird in Hurzlmeiers ebenso spaßigem wie phantastischem Realismus fündig. Und zwar derart, dass es einem die Sprache verschlägt. Aus dem Staunen kommt man, bevor es mit der Schnappatmung weitergeht, gar nicht mehr heraus.

Nach den einleitenden Pferdebildern möchte man das auch gar nicht mehr, und wenn man nach jenem Höllenritt den willkommenen Abwurf genießt, freut man sich, wie eine angetrunkene Königstochter vielleicht, auf die definitive Rückkehr eines längst totgeglaubten, legendären Tieres.

Trotzdem an dieser Stelle eine Warnung. Das eine oder andere Bild könnte Bewusstseinsstörungen hervorrufen. Man schließt am Ende (sehr ungern) das Buch, aber so schlimm ist das auch wieder nicht, weil es eine sehr seltsame Nachhaltigkeit entwickelt. Man geht beispielsweise in den eigenen Garten, erkennt ihn aber nicht wieder. Es scheint etwas nicht zu stimmen, denn da gibt es plötzlich Dinge, die da eigentlich nicht hingehören.

Plötzlich hängen die frisch gewaschenen Unterhosen eine Etage höher, und man fragt sich, wie man eigentlich hoch an die Stromleitung gekommen ist, wieso im alten Apfelbaum eine Toilette hängt, ein Mädchen herumspringt, das gar keins ist, oder wem der Hund, der Punkte sammelt, gehört. Im Zusammenhang mit jenen Risiken und Nebenwirkungen fragen sie bitte ihren Buchhändler oder Psychotherapeuten.

Der Rezensent empfiehlt jedoch den Genuss ohne jede Vorwarnung oder der Einnahme von bewusstseinserweiternden Substanzen. Selbst wenn der Rotwein alle ist, hält der Kunstgenuss bei Weitem mehr, als er versprochen hat. Also auf dem Cover, meine ich. Da schwebt der Meister bekannt daselbst, mittels einer Art schwebender Nudel, verfolgt durch eine gemeine Stubenfliege, über eine Landschaft, die nicht weiß, was sie will. Ach ja, unten geht noch ein ziemlich bekannter Dampfer unter.

Rudi Hurzlmeier stellt eine Menge Fragen, die wir die Freiheit haben, selbst beantworten zu dürfen. Herzlichen Dank auch! Was aber nicht bedeutet, dass ihm hier und da eine unmissverständliche Bildaussage rausrutscht. Es soll ja Menschen geben, die seine Kunst nicht verstehen oder gar ablehnen. Darauf kann es nur eine Reaktion geben, was er in "Ferkelfutter" unzweifelhaft ausdrückt.

Das Leben, weiter gedacht. Gedanken ohne Mauern. Satire, neu definiert. Absurder Hochgenuss.

Cover des Buches Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß (ISBN: 9783426791813)

Bewertung zu "Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß" von Lea Blumenthal

Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß
Thomas_Lawallvor 3 Monaten
Kurzmeinung: Eine Art Gegenratgeber.
Nicht verpassen...

So kann's gehen. Da vermutet der Rezensent ein Sachbuch der lockeren Art, womit ihm seine Erwartungshaltung mal wieder einen Streich gespielt hat. Ist aber nicht so schlimm, denn immerhin ist das Buch zu einem guten Teil "sachlich", aber auch (vielleicht) autobiografischer Natur und mit Romanfragmenten garniert. Schließlich wäre der sachbezogene Teil schnell geschildert.

Lea Blumenthal ist die Hauptfigur und heißt somit nicht besonders unähnlich wie die "Autorin", deren Name ein Pseudonym ist. Viele Bücher hat sie bereits unter mehr oder weniger originellen Phantasienamen veröffentlicht, und da der Rezensent nicht weiß, ob er ihren wirklichen Namen verraten darf, lässt er es einfach bleiben.

Wie gesagt ist schnell erklärt, um was es hier geht, denn im Prinzip verraten Haupt- und Untertitel beinahe alles. Also müssen ein paar Nebenrollen belegt werden, damit das Boot voll wird. Eine Art Story ebenfalls, die an einem Silvesterabend mit Lebensgefährte und Freunden beginnt. Jede/r nimmt sich für das neue Jahr etwas vor, und bei Nichteinhaltung sind nicht unerhebliche Konsequenzen fällig...

Lea hat sich schweren Herzens entschlossen, acht Kilo Körpergewicht innerhalb eines Jahres abzubauen. Das ist nicht unbedingt viel, aber für sie schon, denn was sie auch versucht, bleibt ohne Erfolg. Hauptgegner ist ihre Bequemlichkeit. Früher ging man vor der Arbeit in die Kirche, heute ist es das Fitnessstudio. Dafür fehlt Lea aber nicht nur Lust und Laune, sondern schlicht die Zeit.

"Ich empfinde Aufstehen als Körperverletzung, und damit meine ich alles vor 9 Uhr."

Zum Glück hat sie eine wahrhaft beste Freundin, die ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Tina ist Psychologin, trainiert für einen Halbmarathon, ist ansonsten aber ganz nett. Tinas verschiedene Ratschläge sind teilweise sogar recht brauchbar. Besonders die Aufklärung, dass erst mit dem Christentum der Müßiggang zur Sünde erklärt worden sei. Damit kann Lea etwas anfangen.

Also von wegen um vier Uhr aufstehen, wie es, laut belegten Studien, besonders erfolgreiche Menschen tun. Klappt eh nicht, denn es gibt ja die Snooze-Taste. Die Dauerbenutzung ist aber problematisch, da der Hormonhaushalt völlig durcheinander gerät, wenn die Schlafphasen andauernd unterbrochen werden. Was soll man auch machen, wenn man unter dem "Sternzeichen Faultier, Aszendent Couch" lebt.

Life-Coaches empfehlen ein "Visionboard", was nach dem Aufwachen das erste sein soll, was man sieht. Lea bastelt sich eins, um sich vorab ein Bild ihres

"neuen, gesunden, erfüllten und selbstbestimmten Lebens"

zu machen. Ob das funktioniert? Und was ist mit mehr Bewegung, gesunder Ernährung, Stressvermeidungsstrategien, Kalorienmathematik, und der ganzen Vielzahl von anglizismenverseuchten "To-dos" auf ellenlangen Selbstoptimierungslisten? Wird die "Vernunft" den Weg für ein "durchgetaktetes, freudloses, glutenfreies Leben" freigeben oder einen Aufnahmeantrag stellen für eine Mitgliedschaft im

"Club der Guten-Vorsätze-Verweigerer"?

"Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß" ist ein lustiger Ratgeber, in Storykulisse eingebettet, ideal für ein paar völlig entspannte Stunden auf dem Sofa, wobei es absolut nicht schlimm ist, das eine oder andere Schläfchen einzufügen. Man kommt ja sonst vor dem Schlafengehen nicht mehr dazu. Außerdem soll die Lektüre so richtig einwirken können und nicht zu schnell vorbei sein.

Das Leben ist zu kurz, um dieses Buch zu verpassen.



Cover des Buches Brennende Fragen (ISBN: 9783827014733)

Bewertung zu "Brennende Fragen" von Margaret Atwood

Brennende Fragen
Thomas_Lawallvor 3 Monaten
Kurzmeinung: Dritter Sammelband mit Margaret Atwoods "Essays und weiteren Gelegenheitsarbeiten" (Mitte 2004 bis Mitte 2021).
Brennende Fragen, knackige Antworten

Die kanadische Schriftstellerin braucht man nicht vorzustellen. Ebenfalls keinen Sinn würde es machen, dieses Buch in seiner Gesamtheit irgendwie zusammenfassend beschreiben zu wollen. Selbst der dritte Sammelband mit ihren "Essays und weiteren Gelegenheitsarbeiten", von Mitte 2004 bis Mitte 2021, beinhaltet einfach zu viel, aber nicht etwa im Sinne von Überdruss, sondern im Sinne von Vielfalt.

Deshalb ist es vielleicht sinnvoller, Bruchstücke einzelner Essays, Rezensionen und Vorträge zu zitieren, um einerseits potentielle Leserinnen und Leser neugierig zu machen, andererseits aber nicht zu viel zu verraten. Die Auswahl fällt aber selbst hier schwer, da jeder einzelne Beitrag eine Erwähnung verdient hätte.

Stellvertretend für alle anderen sollen hier einmal eine Handvoll unbequeme Fragen sein, die des Rezensenten männliche Stammesgenossen gerne ausblenden oder sich gar nicht erst stellen. Allen damit zusammenhängenden Fragen voraus, wie und warum Männer es schafften, "an eine derartige Macht über Frauen" zu gelangen. In "From Eve to Dawn" beschäftigt sich Margaret Atwood mit Marilyn Frenchs gleichnamiger, dreibändiger Geschichte der Frauen. Fast zweitausend Seiten stark, und (unter anderem) "als Warnung vor den erschreckenden Extremen menschlichen Verhaltens und männlicher Absonderlichkeiten", aus ihrer Sicht unverzichtbar.

Ja, und was ist mit der Jugend? Wollen sie unseren Rat oder lieber nicht? Und welchen Rat, so fragen und fragten sich Generationen von Eltern, sollte man ihnen, falls gewünscht, überhaupt geben? Die Antwort ist ebenso erstaunlich wie simpel.

Selbstverständlich ist "Literatur und die Umwelt" ebenfalls ein Thema. Schon der zweite Satz eines Vortrags beim PEN-Kongress in Tokio (2010) hat den Charakter einer Zündschnur:

"Nichts begehren repressive Staaten so sehr wie erzwungenes Schweigen. Die Unmöglichkeit zu sprechen begünstigt Unaussprechliches ..."

Brillant ist der Vortrag einer "Außerirdischen" ("Seid gegrüßt, Erdlinge!"), die von einem fernen Planet angereist ist, dessen Namen wir Menschen nicht auszusprechen in der Lage sind.

Höchst interessant ist (auch) eine Selbstbetrachtung und -bewertung. Einen Essay über Franz Kafkas Werk, den sie 1959, neunzehnjährig, geschrieben hatte ("Kafka - Drei Begegnungen"), nimmt sie 55 Jahre später (2014) genauestens unter die Lupe und bezeichnet sich eingangs als

"eine ziemlich ernste und pedantische Nachwuchsschriftstellerin, die ganz und gar auf ihre eigenen wichtigen künstlerischen Probleme konzentriert war."

Das soll jetzt genügen. Der Rezensent stolpert sowieso permanent über seine Notizen und Verweise auf entsprechende Kapitel, um dann immer wieder gewisse Passagen noch einmal zu lesen und zu vertiefen. Dennoch zieht er sich jetzt lieber vornehm zurück, denn die Zeit bleibt ja nicht stehen. In diesem Zusammenhang stellt sich ihm aber eine Frage, die ihm immer wieder begegnet, und zwar spätestens, wenn er das Literaturverzeichnis erreicht hat. Wie kann es sein, DAS alles gelesen zu haben? Da jene Frage (für ihn) nicht zu beantworten ist, verwandelt er sie in respektvolle Bewunderung.

Wie es scheint, beschäftigt sich Margaret Atwood nicht nur mit "Brennenden Fragen", sondern weiß auf alle eine Antwort (also mindestens eine). Was die großen Entscheider damit anfangen (oder überhaupt) können, bleibt leider fraglich. Dies ist aber dann wieder nicht die Aufgabe der schreibenden Zunft. Im Kapitel "Wie kann man die Welt verändern?" gibt die Autorin dennoch eine ganze Reihe Antworten, nachdem sie eingangs die Frage erst einmal gründlich in ihre Einzelteile zerlegt...

"Brennende Fragen" ist ein faszinierendes Lesebuch der Superlative, das der jeweiligen Thematik Glanz und Würde verleiht, sich zuweilen eine herzhafte Kritik erlaubt, die jedoch ebenso selbstverständlich wie herzerfrischend wirkt, und somit nie in Bereiche einer selbstgerechten Lamentation abstürzt.

"Vielleicht sollten wir uns langsam mal ganz fest wünschen, dass wir überleben. Wenn wir es wirklich wollen, können wir es mit unserer viel gelobten Intelligenz doch bestimmt zustande bringen."

Ein geistreicher Streifzug durch 17 Jahre Schreibarbeit, welcher Klugheit, Schlagfertigkeit, eine gehörige Portion Frechheit (da wo es dringend notwendig ist) und höchsten Anspruch vereint und das Kunststück fertigbringt, dennoch extrem unterhaltsam zu sein.

Cover des Buches Künstliche Intelligenz (ISBN: 9783426448502)

Bewertung zu "Künstliche Intelligenz" von Manfred Spitzer

Künstliche Intelligenz
Thomas_Lawallvor 4 Monaten
Kurzmeinung: KI - Ein Überblick zum Stand der Dinge.
Segen oder Fluch?

Künstliche Intelligenz, ein relativ junges Thema in der allgemeinen Sachliteratur, hat in einer ganzen Vielzahl verschiedenster Themenbereiche längst Einzug gehalten. Die Erkenntnis, dass KI "jeden betrifft", dagegen nicht unbedingt, denn in welchen Bereichen sie bereits Einzug gehalten hat, ist vielerorts noch nicht in das allgemeine Bewusstsein vorgedrungen. Diesen Zustand beendet der umfassende Überblick des Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer.

Rein wissenschaftliche Arbeiten verzeichnen dagegen einen enormen Anstieg, was Laien, wie den Rezensenten, einigermaßen erstaunt. In der Medizin zum Beispiel, erscheint inzwischen jährlich eine fünfstellige Zahl an Arbeiten über KI, was um so bemerkenswerter ist, als Medizin und KI "jahrzehntelang nichts miteinander zu tun" hatten.

Die immense Datenlage verschiedener Bereiche verlangen in Verbindung mit "Mustererkennungs- und Entscheidungsproblemen" mitunter sehr schnelle Entscheidungen. Da KI sehr schnell sehr große Informationsmengen verarbeiten kann, liegen die Vorteile auf der Hand. Eindrucksvolle Beispiele führt der Autor in Sachen Krebsvorsorge, Hautkrebsdiagnose, Entwicklung neuer Medikamente oder den Wert bzw. die Bedeutungen von "Expertenmeinungen" aus.

Stets kommt es darauf an, mit welchen und wie vielen Daten die KI gefüttert wurde, um im gewünschten Zusammenhang reibungslos zu funktionieren. Das gilt für die unterschiedlichsten Bereiche gleichermaßen wie auch die Erkenntnis, dass ein Wissenschaftler durch eine KI niemals zu ersetzen ist.

"Vielmehr gilt, wie überall sonst auch, dass Wissenschaftler mit KI besser und schneller sein werden, als Wissenschaftler ohne KI."

Überaus spannend wird die Lektüre, wenn Leserinnen und Lesern eine Nachhilfestunde in Sachen "Go", dem 3000 Jahre alten chinesischen Brettspiel, angeboten wird. Geschätzt sollen die zulässigen Stellungen der Spielsteine "die Anzahl aller Atome im gesamten Universum" übertreffen. "Trainiert" hat man die KI "AlphaGo" mit "30 Millionen von Menschen ausgeführten Spielzügen", und was sie danach begann, übertrifft unser Vorstellungsvermögen bei weitem.

Ebenso die Tatsache, dass KI in einer Art und Weise funktioniert, die offenbar nicht mehr nachzuvollziehen ist. Nämlich

"dass eine KI Intuitionen hat, deren Genialität wir zwar erkennen, aber die wir nicht begründen können."

Nun drängen sich eine Menge Fragen, auch für den interessierten Laien, zwangsläufig auf. Denn wenn sich die Entstehung der "Ausgangssignale" künstlicher neuronaler Netzwerke nicht nachvollziehen lassen, müsste die Sache doch einen gewaltigen Haken haben. Hat sie auch, was Manfred Spitzer erst nur andeutet, in den letzten Kapiteln aber präzisiert. Insbesondere im militärischen Bereich müssen strengste Regularien eingeführt und beschlossen werden. Am besten weltweit und sofort.

"Künstliche Intelligenz" bietet einen, auch für Laien weitgehend verständlichen, Überblick zum Stand der Dinge. Ausführlich schildert er den Segen, aber auch den Fluch einer Technologie, die uns retten, aber im schlimmsten Fall auch vernichten kann. Eine spannendere Lektüre kann es im Moment nicht geben.

(Hinweis: Diese Rezension wurde nicht von einer KI generiert.)

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