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TomL

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Cover des Buches Blue Skies (ISBN: 9783446276895)

Bewertung zu "Blue Skies" von T. C. Boyle

Blue Skies
TomLvor 5 Monaten
Kurzmeinung: Banale Grande
Banale Grande

Mensch, was war das alles früher besser! Früher gab es zum Beispiel noch keinen Klimawandel, und die ganzen Tierarten sind nur ausgestorben, weil wir so viele ihrer Angehörigen abgeschlachtet haben, dass die Erhaltung für die Art aus eigener Kraft unmöglich wurde. Und früher hat der New Yorker Schriftsteller Tom Coraghessan Boyle auch noch so richtig coole Romane geschrieben, Sachen wie „Willkommen in Wellville“, „Grün ist die Hoffnung“, „Wassermusik“, „Der Samurai von Savannah“ und einige andere. Inzwischen verklappt T. C., der eigentlich T. J. (Tom John) getauft wurde, nur noch Ökoromane in die Literaturlandschaft und lässt sich dafür feiern, was ja okay wäre, wären es diese Romane auch. Aber sie werden mit jeder weiteren Geschichte banaler, langweiliger und ununterscheidbarer.

In dieser x-ten tendenzdystopischen Betrachtung des Umgangs der Menschen mit ihrer Umwelt (der zweifelsohne deutlich mehr Luft nach oben als nach unten hat) geht es um eine Familie, deren weibliches Oberhaupt Ottilie mit ihrem Mann Frank in Kalifornien lebt, wo es, wie Albert Hammond schon im Jahr 1972 singend verkündet hat, quasi niemals regnet (mit Ausnahme des Anfangs der Siebziger, weshalb die Veröffentlichung des Songs seinerzeit verschoben werden musste). Aber es ist außerdem heiß und es windet stark, woran niemand Spaß hat, von Parasiten und Brandstiftern abgesehen. Ottilies Sohn Cooper ist Biologe und mit einer Insektenforscherin liiert, die im Hinterland die Bestände inventarisiert. Bei einem solchen Inventur-Ausflug wird Cooper von einer Zecke gebissen, was nicht folgenlos bleibt. Ach, und Ottilie versucht, ihre Ernährung und die ihres Mannes auf Gliederfüßler umzustellen, was aber nicht ganz so gut gelingt, wie sie das geplant hatte.

Außerdem hat Ottilie noch eine Tochter namens Catherine, genannt Cat, die in Florida lebt und mit dem professionellen Partygastgeber Todd liiert ist, der im Auftrag der Firma Bacardi um die Erde jettet und weltweit zu Events einlädt, bei denen große Mengen Rum inhaliert werden, nicht zuletzt von Todd. Eher aus Langeweile legt sich Cat deshalb eine Schlange zu, eine hübsche, kleine Tigerpython, die zwar als invasive Art gilt und im ausgewachsenen Zustand – sie wird über fünf Meter lang – die halben Everglades leerfrisst (einschließlich der Alligatoren), aber auch ziemlich dekorativ aussieht, und da Cat die Idee hat, Influencerin zu werden, ist das neue Branding schnell ausgedacht. Aber Cat wird außerdem schwanger.

Die persönlichen Schicksale dieser Kohorte ziemlich uninteressanter Flachpfeifen sind an die Amplituden der klimatischen Ereignisse geknüpft. Während der Wasserspiegel an Floridas Küsten unaufhörlich steigt und Cat ihr Haus oft nur noch per Boot erreichen kann, bläst der Wind in Kalifornien oder es brennt oder beides geschieht gleichzeitig, weshalb beispielsweise eine Hochzeit ins windige Wasser fällt und andere Ereignisse nicht ganz so munter gefeiert werden können, wie sie geplant waren. Dass Wetter, Klima, Umwelt und so weiter menschengemacht verrücktspielen, während die Menschen weiterhin so tun, als wäre das irgendwie in den Griff zu kriegen, wiederholt Boyle unaufhörlich, mindestens einmal pro Absatz. Das kaschiert anfangs ein wenig, dass die Dramaturgie des Romans eher unspektakulär ausfällt, um es noch nett zu formulieren. Und, klar, Boyle kann auch immer noch exzellent erzählen, schafft es also sogar, sein banales Personal und den sehr flachen Handlungsbogen irgendwie zu verkaufen. Aber unterm Strich hat dieser Roman das ganz große Garnichts, belohnt die Lektüre mit nachhaltiger Ermüdung, verbunden mit dem Wunsch, Boyle würde das Missionieren jetzt wieder ins Privatleben verlegen und wenigstens gelegentlich Romane mit etwas mehr Handlung und thematischer Abwechslung erzählen. Und mit intelligenterem Personal.

Cover des Buches Unter ihren Augen (ISBN: 9783896562852)

Bewertung zu "Unter ihren Augen" von Dorit David

Unter ihren Augen
TomLvor 3 Jahren
Großartig!

Hannover, Anfang der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts: Die Elevin Lieselotte absolviert erfolgreich die Abschlussprüfung an der berühmten Gymnastikschule von Berta Habenicht. Was Lieselotte nicht weiß: Die Schulleiterin hat die begabte und willensstarke junge Frau längst als Nachfolgerin im Auge. Was Berta Habenicht nicht weiß: Die talentierte Schülerin ist schon seit einiger Zeit in die kühle, etwas narzisstische und heimlich in einer lesbischen Beziehung lebende Schulinhaberin verliebt. Als sie dies - einige Zeit nach der erfolgten Prüfung - schüchtern zu gestehen versucht, wird sie brüsk zurückgewiesen. Diese Zurückweisung und eine Reihe nachfolgender Missverständnisse legen das Fundament für einen Konflikt, der zwischen den beiden beeindruckenden Frauen jahrelang schwelen wird - und jede von ihnen mehrfach an die Grenzen der eigenen Existenz führt. Außerdem ist es dieses Ereignis, das Lieselotte für eine sehr lange Zeit davon abhält, sich die eigene sexuelle Präferenz einzugestehen und sie stattdessen zwingt, ein bürgerlich-normales (Ehe-)Leben zu führen, zumindest nach außen.

Dorit David erzählt in diesem wissensreichen, einfühlsamen, elegischen, liebenswürdigen und sehr authentisch anmutenden Roman - ihrem sechsten - aber nicht nur die Geschichte der beiden Frauen und ihrer Hassliebe. Sie erzählt von der Gymnastik und vom Tanz, vom Körperkult und der Körperschule, aber auch von der Bedeutung der "Ertüchtigung" aus Sicht der Nazis, die zuerst im Hintergrund stehen und im Verlauf der Handlung mehr und mehr Einfluss auf sie nehmen. Die anwachsende Bedrohung, die von nicht wenigen als Instrument verwendet wurde, um sich leidiger Widersacher zu entledigen - eine Versuchung, der auch die Heldinnen nicht widerstehen können -, baut sich wie eine braune Wand auf, die am Ende alles umschließt und erdrückt. "Unter ihren Augen" ist insofern ein historischer Roman, der sich nicht in Effekthascherei versteigert, um die Bedrohung zu vermitteln, weil er sich ganz und gar auf seine sehr plastischen Figuren, sein bis in jede Nebenrolle perfektes Personal verlassen kann. Er ist auch eine Liebesgeschichte, ein Entwicklungsroman, eine Milieustudie und ein Zeitbild.

Es klingt immer ein bisschen ungut, von "Mühe" zu sprechen, wenn es um Kunst geht, aber es ist an dieser Stelle, finde ich, nicht falsch, die Mühe zu erwähnen, die sich die Autorin ohne Zweifel gemacht hat, um diese Geschichte so zu erzählen, dass man beim Lesen jederzeit das Gefühl hat, in der Zeit und Welt von Lieselotte, Berta Habenicht und all den anderen Figuren zu stecken, die vor hundert Jahren mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert waren wie wir jetzt, und zugleich mit völlig anderen. Diese Zeit, die am Anfang der Schilderung so beschaulich, possierlich und nostalgisch wirkt, entpuppt sich als mindestens ebenso problematisch wie jede andere, und sie ist letztlich der Nährboden für ein Grauen, das rasch in alle Ritzen der Gesellschaft drang. An dieser Stelle ist "Unter ihren Augen" auch eine Warnung.

Wenn es etwas zu kritisieren gäbe, dann vielleicht, dass der Roman am Anfang der zweiten Hälfte ein bisschen durchhängt und sich allzu viel Zeit mit der Geschichte lässt, bis er dann aber wieder an Fahrt aufnimmt, um umso fulminanter auf sein Ende zuzurauschen, das nicht wenige Überraschungen bereithält. Ich habe ihn ungeheuer gerne gelesen, und war trotz der Länge ziemlich wehmütig, als die letzte Seite erreicht war.

Cover des Buches Für die Ewigkeit (ISBN: 9783827012043)

Bewertung zu "Für die Ewigkeit" von Helmut Krausser

Für die Ewigkeit
TomLvor 3 Jahren
Furios!

"Für die Ewigkeit" ist der vierte Roman von Helmut Krausser, den ich bislang gelesen habe (wodurch ich in der exzellenten Position bin, noch einiges an Auswahl zur Verfügung zu haben), aber es fühlt sich in gewisser Weise an, als hätten vier unterschiedliche, jedoch gleichermaßen begabte - nein: beseelte - Autoren diese Bücher verfasst. Die Hauptfigur von "Für die Ewigkeit", Jörg Jäger alias Jorge Jega, ist ein talentierter Pianist. Krausser selbst erinnert mich an einen Jazzpianisten, an einen Musiker, der sowohl das Standardrepertoire aus dem Eff-Eff beherrscht, als auch mit jedem hingeworfenen Motiv eine beeindruckende Improvisation präsentieren kann. Seine Bücher haben eine große stilistische Konsistenz, lesen sich, als hätte der Mann nie Texte anderer Art geschrieben, dabei sind beispielsweise "Einsamkeit und Sex und Mitleid", "Geschehnisse während der Weltmeisterschaft", "Alles ist gut" und jetzt dieser Roman, der im Südamerika des Jahres 1902 spielt, so unterschiedlich wie die Novellen von Lernet-Holenia und die Romane von Philip Roth. Gemeinsam haben sie den enormen, meistens unterschwelligen Witz, jene Lässigkeit im Erzählen, die so mühelos daherzukommen scheint, und damit einhergehend eine stilistische Kunstfertigkeit, die bei zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren nur sehr eingeschränkte Vergleichsmöglichkeiten bietet. Und, ja, es geht bei Krausser fast immer um Liebe, Sex und zum Scheitern verurteilte Lebensträume.

So auch in "Für die Ewigkeit", einer eher kurzen - das Buch hat leider nur 190 Seiten -, sehr dichten und viel zu rasch, aber in jeder Hinsicht stimmig endenden Geschichte, die damit beginnt, dass ein dürrer, abgerissener, hungriger junger Mann, blondhaarig und blauäugig, bei einem reichen Unternehmer in Buenos Aires vorstellig wird, weil dieser einen Klavierlehrer für seine Tochter Francisca - genannt "Cis" - sucht. Der junge Mann kommt eigentlich aus Deutschland, wo er Jörg Jäger hieß, und ist sozusagen nach Südamerika geflüchtet, wo er zuerst in Uruguay gelebt hat, was aber schiefging, weil ihm eine Botschaftergattin, der er ebenfalls Unterricht erteilte, Avancen gemacht hat und Jäger den Botschafter beim anschließenden Duell versehentlich verletzt hat. Deshalb nennt er sich jetzt Jorge Jega, und natürlich wird es auch mit der siebzehnjährigen Unternehmertochter Schwierigkeiten geben, zumal die junge Frau abenteuerlustig, intelligent und bildschön ist. Jäger alias Jega verliebt sich umgehend, und auch wenn ihm klar ist, dass eine Affäre mit der Schülerin kein gutes Ende nehmen kann, fällt seine Verteidigung gegen ihre irren Ideen schon nach kurzer Zeit. Verfolgt von einem Cousin der schönen Francisca, flüchtet das Paar über den halben Kontinent. Wieder gerät Jega in Schwierigkeiten, weil ihn die Leidenschaft gepackt hat, aber andererseits ist er, wie er glaubt, eigentlich Komponist, und auf der Suche nach einem Stoff für eine Oper. Musik spielt eine große Rolle in diesem Buch.

Helmut Krausser hat kein Mitleid mit seinen Figuren - was geschehen muss, muss geschehen, schließlich bezeichnet man es deshalb ja auch als das Unausweichliche. Aber der Weg dorthin ist für die Leser und für das Personal gleichermaßen ein furioses, leidenschaftsvolles, abenteuerliches und originelles Vergnügen. Okay, für das Personal mindestens bis zu dem Zeitpunkt, als die Schwierigkeiten überhand nehmen.

Keine Ahnung, ob der Berlin Verlag "Für die Ewigkeit" beim Deutschen Buchpreis 2020 eingereicht hatte, dessen Longlist von Geschlechterproporz, Mittelmaß und Langeweile beherrscht wurde, aber nach meiner Überzeugung gehört dieser Roman, der viel von einer Novelle hat, zu den zwei, höchstens drei besten deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Jahres.

Cover des Buches Der Präsident (ISBN: 9783701717330)

Bewertung zu "Der Präsident" von Berger Clemens

Der Präsident
TomLvor 3 Jahren
Zurück in die Achtziger

Ich habe gerade die DVD mit „Zurück in die Zukunft II“ herausgekramt, einem Film, den ich damals sehr gemocht habe – er war übrigens auch mein Favorit aus der Trilogie. Ich erinnere mich noch gut an die Szene, als Marty McFly im „Café der Achtziger Jahre“ bei einem Ronald Reagan seine Cola bestellte. Dieser Ronald Reagan war ein Fernsehbild, der Fernseher hing über dem Tresen des Cafés. Aber ich habe mir eben nicht diese Szene angeschaut, sondern den Abspann, denn ich wollte herausfinden, wie der Schauspieler hieß, der den amerikanischen Präsidenten gespielt hat.

Jay Immer ist Polizist, steht kurz vor der Pensionierung, lebt mit seiner geliebten Frau Lucy in einem hübschen Häuschen, und gelegentlich kommt die Tochter Barbara zu Besuch. Wir schreiben das Jahr 1981. Der ehemalige Hollywoodschauspieler Ronald Reagan ist seit kurzer Zeit der 40. Präsident der U.S. of A., der Kalte Krieg eilt einem weiteren Höhepunkt entgegen, in Europa werden atomar bewaffnete Mittelstreckenraketen aufgestellt, um die Sowjetunion in Schach zu halten. Die britische Rockgruppe „Fischer-Z“ hat im März das inzwischen legendäre Album „Red Skies Over Paradise“ veröffentlicht, auf dem es den Song „Cruise Missiles“ gibt: Die Menschheit hat nukleare Waffensysteme geboren, die auf Wanderschaft gehen und ihre Ziele alleine finden. Später, im Golfkrieg, werden wir diese Systeme, allerdings mit „herkömmlichen“ Sprengköpfen bestückt, live erleben können, wie sie auf gespenstische Weise hinter verblüfften Reporter durch Ruinenstädte surren, auf der Suche nach der eigenen Bestimmung: Vernichtung.

Jay Immer interessiert sich für all das wenig. Er ist ein guter Polizist, aber kein Polizist aus Leidenschaft. Er würde seine Ehefrau gerne ein bisschen mehr verwöhnen. Und er sieht dem amtierenden Präsidenten zum Verwechseln ähnlich. Jay Immer ist zwar jünger als Ronald Reagan, seine Zähne sind ein wenig schlechter und seine Aussprache ist aufgrund seiner österreichischen Herkunft etwas anders, aber hiervon abgesehen könnten die beiden eineiige Zwillinge sein. Wenn sich Jay Immer gründlich rasiert, etwas Brillantine ins Haar macht und einen Anzug anzieht, wird er für das amerikanische Staatsoberhaupt gehalten. Und deshalb kontaktiert Ehefrau Lucy heimlich eine Agentur, die auf der Suche nach Doppelgängern ist. So beginnt Jays zweite Karriere als Präsident. Er wird Supermärkte eröffnen, Autogrammstunden geben, kleine Rollen in Filmen spielen, er wird hofiert und oft für das Original gehalten werden, manchmal forciert er das sogar, etwa, um mit der Gattin in einem beliebten Restaurant essen zu können. Er verdient genug Geld, um Lucy etwas Luxus anbieten zu können. Aber es ist nicht nur die Zeit der atomaren Wettrüstung, sondern auch die der beginnenden Klimawandel-Diskussionen, Reagan agiert mit harter Hand gegen soziale Reformen, bereitet dem Turbokapitalismus den Boden, gemeinsam mit Margaret Thatcher – man wird diese Politik später „Reaganomics“ nennen. Reagan ist der Überzeugung, Wohlstand würde „von oben nach unten durchsickern“. Er macht den Einwanderern aus dem Süden das Leben schwer.

Mit der Zeit bedrängen immer mehr Leute, die man heute „Aktivisten“ nennen würde, Jay Immer, den „anderen Reagan“, seine Wirkung für sie einzusetzen, und er ist nicht abgeneigt, denn er spürt Verantwortung, er will helfen, ändern, ein Gegengewicht setzen. Das ist nicht ohne Risiken, aber es hat auch Wirkung.

Als Freund und Verehrer der Romane von Clemens Berger hat mich die augenzwinkernd und schnörkellos erzählte Lebensgeschichte überrascht. „Der Präsident“ hat mit meinem Favoriten, „Das Streichelinstitut“ (2010), wenig gemein, aber auch das fulminante, mächtige und vielschichte „Im Jahr des Panda“ (2016) war ganz anders als diese Biografie, die natürlich keine ist. Strikt und sehr glaubwürdig aus der Sicht seines Helden plaudert Berger vom Leben im Vorort, als Doppelgänger, von den Achtzigern, vom aufkommenden Widerstand gegen den patriotischen Konservatismus. Aber „Der Präsident“ ist, wie immer bei Berger, kein rein politisches Buch (obwohl es das oft ist). Es ist eine Liebesgeschichte, eine Träumerei, eine Hommage (u.a. ans Burgenland), eine Schelmerei, es ist vor allem irre unterhaltsam und voller amüsanter Überraschungen.

Nein, der Name im Abspann von „Zurück in die Zukunft II“ lautet nicht „Jay Immer“, da steht „Jay Koch“. „Der Präsident“ ist eben keine Biografie, auch wenn Jay Koch, genau wie Bergers Hauptfigur, aus dem Burgenland stammte, nicht ganz so perfekte Zähne hatte und eben als Reagan-Doppelgänger auftrat. Ich werde mir den Film aber trotzdem jetzt mal wieder anschauen. Und Ihr solltet dieses Buch lesen, denn das ist wirklich großartig.

Cover des Buches Ein Versprechen von Gegenwart (ISBN: 9783630874104)

Bewertung zu "Ein Versprechen von Gegenwart" von Clemens Berger

Ein Versprechen von Gegenwart
TomLvor 11 Jahren
Die zweite Welt

Valentin, von dem man annehmen kann, er wäre zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig, führt als angestellter Kellner eine elegante Bar in Wien, und außerdem mit einer Julia eine Beziehung ohne viel Engagement, die er also als gegenwärtig hinnimmt: zeitlich und örtlich vorübergehend präsent. Diese Julia spielt in Clemens Bergers Roman allerdings keine aktive Rolle, wie auch der ich-erzählende Kellner, dessen Name ein einziges Mal genannt wird, in der Hauptsache Beobachter ist; Beobachter vor allem jenes faszinierenden Paars, das eines Abends in der Bar auftaucht, nach Mitternacht, und fortan häufiger kommt, ein-, zweimal pro Woche. Sie ist offenbar wohlhabend und so unfassbar schön, dass "neun von zehn Männern alles Hab und Gut für sie aufgeben würden", er verströmt unprätentiöse Lässigkeit, was Valentin vermuten lässt, es mit einem Schauspieler zu tun zu haben. Sicher ist er sich, dass sie immer nach dem Sex kommen, höchstwahrscheinlich nach betrügerischem Sex, wofür ein Indiz ist, dass er die Frau - sie heißt Irina - eines Tages in der Stadt trifft, mit Ehering am Finger und zehnjährigem Kind an der Hand. Alles andere errät und vermutet der Kellner, der mehr und mehr in den Bann der beiden gerät, über Gesprächsfetzen, die er hört, über Gesten, Kleidung, Attitüde - alles notiert er akribisch auf den hinteren Seiten eines alten Kassabuchs. Die über alle Maßen begehrenswerte Frau und ihr cooler Begleiter, die ein eigentlich nicht zusammenpassendes Paar bilden, verkörpern für Valentin die "zweite Welt", jenes Dasein hinter den Kulissen, die die erste, "richtige" Welt bildet, die ohne jene verruchte, direkte, emotionale, gefährliche zweite nicht existieren könnte und kann.

Das recht kurze, wunderbar dichte und im positiven Sinn eigenartige neue Buch des Österreichers, von dem u.a. der hinreißende Roman "Das Streichelinstitut" (2010) stammt, erzählt von Projektion und Wunschdenken, vom Begehren nicht nur sexueller Art, in gewisser Weise sogar von Ständen und Klassen, die längst überwunden sein sollten. Einziger Makel ist der Klappentext, der eine überwiegend erotische Geschichte vorgaukeln will: "Ein Versprechen von Gegenwart" hat seine erotischen Momente und thematisiert Sex, handelt aber nicht überwiegend hiervon. Leseempfehlung!

Cover des Buches Das Streichelinstitut (ISBN: 9783835306196)

Bewertung zu "Das Streichelinstitut" von Clemens Berger

Das Streichelinstitut
TomLvor 13 Jahren
Rezension zu "Das Streichelinstitut" von Clemens Berger

Der glückliche Mensch

Was für ein seltsames, im Wortsinn bemerkenswertes Buch.

Sebastian ist Mittdreißiger, Wiener, eigentlich kurz vor der Promotion (die Fakultät wird allerdings nicht genannt, vermutlich Politologie oder ähnliches), gutaussehend und Kommunist, wenn sich denn in ein Wort pressen lässt, was im Kopf des nicht mehr ganz jungen Mannes vor sich geht. In gewisser Weise hadert er mit allem - mit der Stadt (eigentlich: der Welt), in der er lebt, mit der Frau, die er liebt (der schlauen Dozentin Anna), mit ehemaligen Beziehungen, gar mit seinen wenigen Freunden, vor allem aber mit der Tatsache, dass Entscheidungen anstehen, obwohl Sebastian keine zu fällen bereit ist. Letztlich auch, um sich aus dieser Situation ein wenig herauszumogeln, gründet er, einer Idee Annas folgend, das "Streichelinstitut", eine Serviceeinrichtung, in der sich die Wiener seinen sanften, fast magischen Händen hingeben, um den Alltag vergessen oder angenehmer bewältigen zu können. Das Institut, mitten in Neubau, der Eso-Gegend Wiens, wird schnell erfolgreich. Ob es Ministerialbeamte sind, die sich im Zwei-Wochen-Turnus die verkorksten Beziehungen zu ihren Vätern wegstreicheln lassen, oder elegante, reiche Mittvierzigerinnen, die bei dieser Gelegenheit mit ihrer verblühenden sexuellen Attraktivität kokettieren - Sebastian, der sich den Künstlernamen Severin Horvath gibt, streichelt sie alle. Fünfundvierzig Minuten für fünfundsiebzig Euro. Doch es ist weder einfach, die Seiten zu wechseln, also linkes Denken und rechtes Leben unter einen Hut zu bringen, noch lässt sich der im Wortsinn sehr nahe gehende Beruf vom privaten Dasein trennen. Überhaupt wird erst einmal offenbar, dass Leben nicht immer dasselbe ist.

Es ist nicht leicht, dieses besondere Buch in wenigen Worten zu würdigen. Zuweilen liest es sich wie eine Autobiographie, wie eine Bestandsaufnahme - Rückbesinnung und Ausblick zugleich. Andererseits gibt es Elemente des klassischen Entwicklungsromans, ein Füllhorn voller Konflikte, und viele erhellende Informationen über das Wien des einundzwanzigsten Jahrhunderts - von dem sich der Held übrigens an einer wunderbaren Stelle im Buch wünscht, es gäbe eine gespiegelte, zweite Version der Stadt, aber eine, in der nicht alles schiefgelaufen ist.

Die Katharsis des Protagonisten wird durch Frau Dr. Irene Fischer verkörpert, die schöne, wohlhabende und selbstbewusste Frau, die zuerst die Grundregel Nummer des Streichelinstituts - kein Sex - torpediert, dann in Sebastians fragile Beziehung zu Anna eindringt, um schließlich den allmählich ermüdenden, aber nach wie vor extrem erfolgreichen Berufsstreichler mit den Reizen des Kapitalismus' zu konfrontieren.

"Das Streichelinstitut" ist aber kein politisches Buch, jedenfalls nicht nur oder in der Hauptsache, sondern auch eine Liebesgeschichte, eine Milieustudie - und ein sehr persönlicher (nicht im Sinne von "autobiografisch"!) Roman über einen jungen Mann, dessen Optionen und Wünsche nicht in Deckung zu bringen sind. Über jemanden, der sich Gedanken macht, hin und wieder auch zu viele, und der damit zeigt, wie ungut es ist, sich nur mit den verfügbaren Alternativen abzufinden. Denn es ist so, wie es das Bild zeigt, das im Streichelinstitut hängt: Der glückliche Mensch kann glücklich vermutlich nur ganz alleine sein, und das will letztlich auch niemand, und Sebastian/Severin schon gar nicht.

Mein Lieblingssatz ist ein sehr kurzer: "Während ich." Besser kann man einen tiefgehenden Konflikt nicht in Worte fassen.

Über mich

Schriftsteller
  • 04.12.1962

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Fantasy, Literatur, Unterhaltung

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