Tsubame
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Tsubames Bücher
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Jacques Madelin, ein Franzose, der in Neapel lebt, sitzt tagtäglich im Café Nube und beobachtet und zeichnet die dortigen Gäste. Durch ihn lernt man als Leser(in) das Leben verschiedener Leute kennen wie das von Doktor Chen, der 1981 mit dem Schiff in Neapel eintraf oder das des schlaflosen Aldo. Sie alle verschlägt es in das Café Nube, wo sie Kaffee trinken und hin und wieder einen zweiten Caffè sospeso bestellen, für all diejenigen, die sich selbst keinen leisten können. Manch einer ist selbst Empfänger(in) einer solchen Gabe.
Die einzelnen Geschichten sind recht phantasievoll erzählt. Manches erscheint einem nicht wirklich, aber das gerade macht den Reiz der Geschichten aus. Zusammen ergeben sie ein Bild Neapels in einem Zeitraum von 1982 bis 2022. Natürlich wird auch der Erzähler mit den Jahren immer älter und so beschleicht einen Wehmut, als dieser in der Mitte des Buches unvermittelt bemerkt "Ich bin jetzt so alt wie mein Vater, als er starb."
Mich haben die Geschichten ein wenig an "die fabelhafte Welt der Amelie" erinnert, ein Film, der mich bei seinem Erscheinen absolut fasziniert hat. Doch während Amelie in das Schicksal ihrer Mitmenschen eingreift und es verändert, zeichnet Jacques sie nur und erzählt deren Erlebnisse, die allerdings ebenfalls höchst wundersam sind.
Das alles ist sehr vergnüglich zu lesen und so habe ich eine französische Autorin entdeckt, deren Namen ich mir mit Sicherheit merken werde.
Bewertung zu "Mein Name ist Estela" von Alia Trabucco Zerán
Der erste Satz des Romans ist auch gleichzeitig der Buchtitel und man weiß zunächst nicht, an wen sich Estela eigentlich richtet. Sind es die Leser oder ist es jemand auf der anderen, verspiegelten Seite des Verhörraums, in dem sie sich offensichtlich befindet. Ist dort überhaupt jemand oder redet sie bloß gegen eine Wand?
All das ist nicht klar, hindert Estela aber nicht daran, ihre Geschichte zu erzählen - ungefragt und ohne Unterbrechnungen. Die einzige, die sich immer wieder unterbricht, ist sie selbst. Sie schweift ab, korrigiert sich, beginnt von vorne. Desweiteren gibt sie Anweisungen an ihre mutmaßlichen Zuhörer wie "Notiert das!`" oder "Streicht das!"
40 Jahre ist Estela alt, als wir sie kennenlernen. 7 Jahre war sie Hausmädchen bei einer dreiköpfigen Familie. Alles hat man ihr an die Hand gegeben: Kochen, Putzen, Wäsche waschen, Einkaufen und natürlich auch das Kind. Immer hieß es "Mach du das!" Stumm hat sie alles über sich ergehen lassen, bis der Tag kam, an dem irgendetwas passiert sein muss, was sie schließlich in diesen Verhörraum geführt hat.
Und nun redet sie sich alles von der Seele, was ihr in den 7 Jahren widerfahren ist. Anklagend, ungeschönt, zornig, erschöpft.
Da ich mit 19 Jahren ein Jahr als Au pair-Mädchen in Frankreich verbracht habe, kam mir manches durchaus bekannt vor: Mangelnde Privatsphäre, Übergriffe, ungeregelte Aufgabenverteilung, etc. Allerdings wirkte Estela auf mich zunächst sehr unreif und kam aus ihrer passiven Haltung erst am Ende der Geschichte heraus. Da ist sie immerhin schon 40 und hat in all den Jahren nicht einmal den Mund aufgekriegt. Sympathisch war mir keine der Figuren: der Vater, ein Arzt, triezt seine Tochter zu Höchstleistungen und duldet keine Schwäche, die Mutter klebt Zettel an den Kühlschrank und redet in der Wir-Form, obwohl klar ist, dass Estela die Aufgaben alleine zu erledigen hat. Auch das Kind entwickelt sich zu einer Tyrannin. Doch selbst Estela kommt nicht liebenswert rüber. Das Kind ist ihr lästig, da es sie von der Arbeit abhält.
Eingebunden ist die Geschichte in den Kontext der Ausschreitungen von 2019/2020 als es in Chile zu Protesten gegen soziale Ungerechtigkeit kam. Die Wut der Massen, die sich damals in den Straßen entlud, wurde von der Autorin eigentlich ganz geschickt in die Geschichte eingebaut, dennoch war ich mit dem Ausgang nicht so recht zufrieden. Zu vieles bleibt offen und dass die Protagonistin 240 Seiten lang auf ihre Zuhörer einredet, nachdem sie 7 Jahre lang geschwiegen hat, erscheint mir nicht glaubwürdig. Aber es ist ein Blick auf die heutige chilenische Gesellschaft, wobei die Geschichte genauso gut in Frankreich spielen könnte.
"Der ehrliche Finder" von Lize Spit ist mit seinen 125 Seiten ein eher schmaler Band und wurde ursprünglich für die alljährliche Boekenweek (deutsch: Bücherwoche) erstellt, die in den Niederlanden auf eine lange Tradition zurückblickt.
Inspiriert von einer zehnköpfigen Familie, die im November 1998 auf der Flucht vor dem Krieg im Kosovo in Viersel landete, hat Lize Spit diese Geschichte geschrieben, bei der es um die Freundschaft zweier Jungen geht. Der eine ist Jimmy, den wir als Leser(innen) zu Beginn gleich bei einem seiner Streifzüge durch den Ort auf der Suche nach vergessenen Münzen in Automaten und Einkaufswagen kennenlernen. Jimmy ist leidenschaftlicher Sammler von "Flippos", die sich in Chipstüten finden und er verfolgt sein Hobby mit großem Ernst.
Als der wenig ältere Flüchtlingsjunge Tristan neu in seine Klasse kommt und man diesen neben ihn setzt, beschließt Jimmy, Tristan nicht nur durch das Schuljahr zu begleiten, sondern ihn auch zu einem Flippo-Sammler auszubilden.
Doch es kommt anders. Die Familie Tristans soll abgeschoben werden und so ersinnen Tristan und seine Schwester Jetmira einen Plan, bei denen ihnen Jimmy helfen soll ...
Dies war mein erstes Buch von Lize Spit und ich fand es ausgesprochen schön geschrieben. Bereits nach ein paar Seiten hatte ich Jimmy mit seiner Leidenschaft und Gewissenhaftigkeit ins Herz geschlossen, war ich früher doch selbst leidenschaftliche Sachensucherin und habe sogar einen Verein gegründet, der aus zwei Mitgliedern bestand: meiner besten Freundin und mir.
Dass Tristan Jimmys Leidenschaft nicht so recht teilen mag, liegt zum einen daran, dass er zwei Jahre älter ist als dieser. Außerdem hat er andere Sorgen und ist nach der Flucht aus dem Kosovo stark traumatisiert.
Die Geschichte berührt und ist spannend erzählt; eine weitere Perle aus Flandern und den Niederlanden, die den diesjährigen Länderschwerpunkt der Leipziger Buchmesse bilden.