In ihrem Roman „Nebelkinder“ widmet sich Stefanie Gregg der Generation der sogenannten „Kriegsenkel“, also den Menschen, die den Krieg nicht persönlich erlebten, aber dennoch seelisch und in ihren Beziehungsmustern zutiefst durch die Traumata von Eltern und / oder Großeltern geprägt wurden.
Ein faszinierendes und wichtiges Thema, das in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr Raum gewinnt. Ich bin seit vielen Jahren therapeutisch und in psychosozialen Projekten mit Kriegsüberlebenden mit dem Thema konfrontiert und natürlich auch durch die eigene Familiengeschichte betroffen (wer ist das nicht in unserer Generation?). Entsprechend gespannt war ich auf das Buch.
Kurz zum Inhalt: Lilith hatte noch nie das beste Verhältnis zu ihrer Mutter Ana(stasia). Gab es wirklich nie Wärme in dieser Beziehung oder konnte die Mutter ihre Liebe und Zuneigung nur durch Regeln, Kontrolle und Ängste zum Ausdruck bringen? Das ist die emotionale Nebelbank, die zwischen den beiden Frauen liegt. Lilith steht nun vor einer Lebensentscheidung: Soll sie das Kind einer verstorbenen Freundin aufnehmen? Die Hintergrundgeschichte zum Kind und dessen Vater ist kompliziert und ich will hier nicht spoilern – aber eins ist klar: Irgendwie ist Lilith nicht in der Lage Beziehungen tragfähig zu gestalten. Auf gewisse Weise steht sie sich ständig selbst im Weg. Warum nur? Im Entscheidungsprozess, ob sie das Kind nun zu sich nimmt oder nicht, spitzen sich diese Konflikte zu. Schließlich mischt sich Ana ein und geht mit ihrer Tochter auf eine lange Reise – ins moderne Breslau und in die Vergangenheit.
Die Konflikte Liliths auszuloten, wäre ein spannendes Thema gewesen, aber Stefanie Gregg hat noch weiter ausgeholt: Sie dehnt die Geschichte zusätzlich auf die Lebensgeschichte von Großmutter Käthe aus, die gemeinsam mit ihren Kindern 1945 noch einen Platz im letzten, vollkommen überfüllten Zug ergatterte, der Breslau verließ, bevor die Russen einmarschierten. Sie zahlte einen entsetzlichen Preis für dieses „Privileg“ – einen Preis, der sie für den Rest ihres Lebens zeichnen sollte und vieles von dem erklärt, was Jahrzehnte später Ana und Lilith das Leben schwer machen wird.
So viel zur Architektur des Romans. Für jemanden, der sich mit den Themen Flucht, Vertreibung und Kriegstrauma noch nie auseinandergesetzt hat, bietet das Buch eine fundierte und gut lesbare Darstellung des Themas. Interessanterweise habe ich eine Bekannte, die im Alter von Ana ebenfalls aus Breslau fliehen konnte und mir vieles von dem bestätigt, was im Buch beschrieben wird. Offenbar wurde hier sehr gut recherchiert (was auch aus dem Anhang hervorgeht). Leider habe ich die Dinge, die dort erzählt werden, so oder so ähnlich schon so oft gelesen, dass mir hier mit der sehr gefälligen Sprache die unverbrauchte Sicht auf die schlimmen Tatsachen einfach fehlt. Es liest sich gut und flüssig, aber eher wie ein Abenteuerroman. Wirklich ins Innerste getroffen war ich kaum. Was verwundert, da ich nicht abgebrüht bin und die geschilderten Vorkommnisse wirklich schlimm sind. Ich habe einen anderen Verdacht: Die Erzählmuster des Romans erinnern mich stark an das anekdotische Erzählen, das in Nachkriegsfamilien üblich war. Wie heißt es so schön: Opa erzählt vom Krieg – und alle hören weg. Niemanden interessiert es. Warum? Weil das Erzählen ritualisiert ist und – trotz schlimmer Details – an der Oberfläche des Sagbaren und Erlaubten bleibt. Einzig eine Ausnahme sticht heraus: Ludwig, der Vater, der angeblich unbeschadet durch seine Militärzeit in Italien kam, reist mit der Familie für einen unbeschwerten Urlaub in den Süden. Die Episode, in der er sich vor Grauen geschüttelt auf einer leeren, sonnenbeschienenen Straße in einer kleinen italienischen Stadt krümmt und überall Blut sieht, ist in dieser Hinsicht eine der ehrlichsten und besten im ganzen Roman.
So mäandern wir durch Kapitel und Zeiten, treffen die Figuren, die sich nicht wirklich verändern, sondern in Variationen das immer selbe Trauma inszenieren und durchleiden. Der Rest ist Schweigen. Als Autorin stand Stefanie Gregg vor der großen Herausforderung dieses Schweigen und das ritualisierte Erzählen aufzubrechen und durch eine aufrichtige Art der Kommunikation zu ersetzen. Sie wählt dazu verschiedene dramaturgische Kunstgriffe, die man gerne in Kauf nimmt, da sie die Handlung vorantreiben, aber dennoch bleibt das Künstliche, Konstruierte – ist es wirklich glaubwürdig, dass die Mutter, die ein Leben lang geschwiegen hat, für einen ihr vollkommen fremdes Kind wieder in die Abgründe der eigenen Vergangenheit steigt? Bei der beschriebenen Reise ist Ana 85 Jahre alt und offenbar noch sehr rüstig und nicht den Hauch von dement. Nach meiner persönlichen Erfahrung sind es aber gerade körperlicher Verfall und das Nachlassen der geistigen Kräfte, die eine solche seelische Öffnung bahnen. Allerdings wird dann nicht schlüssig erzählt und berichtet, dann wird durchlitten und agiert ... Leider bleibt die Erzählung an genau diesen Punkten von schmerzhafter Oberflächlichkeit, ja steigert (oder beschränkt) sich am Schluss zu einer Art Fachartikel, indem in Form einer blitzartigen „Erkenntnis“ die wichtigsten Punkte zum Phänomen Nebelkinder referiert werden. Dies ist alles sehr schlüssig aber nach meinem Geschmack wird es der Tiefe des Themas nicht gerecht.
Mit einer Ausnahme: Gut gefallen hat mir die Schilderung des Moments, in dem Lilith erkennt, dass es ihre Lebensaufgabe ist, glücklich zu werden. Das Dilemma ist nur, dass diejenigen, die sie erzogen, nicht den geringsten Schimmer von Lebensglück hatten. In der Schilderung dieser tragischen Spirale der enttäuschten Erwartungen schimmert etwas sehr Berührendes durch.
Leider sind diese Stellen rar gesät. Kriegsbücher gibt es viele und gemessen an anderen Romanen, bietet dieser mir zu viel Klischee. Dennoch ist dieses Buch ein guter Einstieg für LeserInnen, die sich zum ersten Mal mit diesem Thema auseinandersetzen wollen, da es die Durchflechtung generationenübergreifender Traumata darstellt. Und das, was ich als Nachteil schildere, kann für andere LeserInnen ein Vorteil sein: Durch die fehlende Wucht kann man als Leser die Entsetzlichkeiten sozusagen dosiert wahrnehmen. Für manche LeserIn kann dies auch ein Vorteil sein.
Ich habe zu wenig über das Nebelkind Lilith erfahren. Warum? Die Autorin hat zu viel Zeit damit vergeudet, die alten Kriegsgeschichten wieder und wieder zu erzählen, wie sie im familiären Kontext erlaubt waren – und es sind genau diese Geschichten, bei denen alle mit der Zeit weghören. War die Autorin in dieser Hinsicht zu sehr in der Rolle des folgsamen Kindes? Das wäre schade. Die Nebelbank, in der unsere Generation herumstochert, braucht stärkere Scheinwerfer. Und Bücher, die keine Scheu haben, eigene Schmerzen auszuhalten, um dann die Leser mitten ins Herz zu treffen. Denn auch die Verbrecher, welche die Traumata verursachten, kannten weder Scheu noch Skrupel. Wir AutorInnen müssen uns ihnen gewachsen zeigen. Denn wenn der Nebel sich nicht lichtet, haben die Täter ein weiteres Mal gewonnen.