Wolkenatlass avatar

Wolkenatlas

  • Mitglied seit 29.08.2008
  • 27 Freund*innen
  • 2.689 Bücher
  • 350 Rezensionen
  • 1.582 Bewertungen (Ø 4,41)

Rezensionen und Bewertungen

Filtern:
  • 5 Sterne839
  • 4 Sterne597
  • 3 Sterne116
  • 2 Sterne20
  • 1 Stern10
Sortieren:
Cover des Buches Angesichts der Wälder. Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Jakob Hessing. (ISBN: B003XYXI0O)

Bewertung zu "Angesichts der Wälder. Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Jakob Hessing." von Abraham B.: Jehoschua

Angesichts der Wälder. Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Jakob Hessing.
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Grandiose Erzählungen eines wunderbaren Autors. Literatur vom Feinsten.
Cover des Buches Spanische Barmherzigkeit (ISBN: 9783518423974)

Bewertung zu "Spanische Barmherzigkeit" von Abraham B. Jehoschua

Spanische Barmherzigkeit
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Eine Retropsektive mit Folgen

Der Name des 1936 geborenen israelischen Schriftstellers Abraham B. Jehoschua ist im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt ein allgegenwärtiger Begriff. Leider. Seine Liste bereits erschienener Bücher,  bei Piper verlegt, auf der sich so großartige Romane wie "Der Liebhaber", "Die Passion des Personalbeauftragten" und "Freundesfeuer" befinden, ist fast nur mehr im gut sortierten Antiquariat zu haben.

Sein Roman "Spanische Barmherzigkeit" stellt einen alternden Regisseur in den Mittelpunkt des Geschehens, Jair Moses, der zu einer Retrospektive seiner Filme nach Santiago de Compostela eingeladen ist, wohin er mit der Hauptdarstellerin seiner frühen Filme, der auch schon älteren, aber noch immer bezaubernden Ruth, reist. Die beiden teilen sich ein Zimmer, wie auch sonst vieles im Leben, ohne sich gegenseitig zu irgendetwas verpflichtet zu sein.

Überraschend für Moses, konzentriert sich die Retrospektive hauptsächlich auf seine frühesten Filme. Filme, die er noch mit seinem ersten Drehbuchautor und ehemaligen Liebhaber Ruths gedreht hatte. Eine Zusammenarbeit, die wegen einer am Ende herausgeschnittenen Szene geendet hatte, in der Ruth einem Bettler am Straßenrand die Brust geben sollte. Nach Einspruch Ruths hatte Moses die Szene gestrichen, was einen Bruch der Abmachung der beiden Partner zur Folge hatte.

Zusätzlich findet Moses im Hotelzimmer ein Bild, das so sehr an diese Szene erinnert, dass er sich Gedanken zu machen beginnt, ob hinter der ganzen Retrospektive nicht seine ehemaliger Freund und Partner steckt.

Virtuos führt Abraham B. Jehoschua den Leser in die künstlerische Welt des Filmemachers ein, indem er den Leser behutsam mit in die Filmvorführungen nimmt und dabei an den Gedanken des alternden Moses teilhaben lässt, der, konfrontiert mit seinem frühen Schaffen, noch dazu in der ihm fremden Sprache, die Vergangenheit nicht nur künstlerisch, sondern auch privat aufzuarbeiten beginnt.

Symbolisch betrachtet, beziehen sich die Filme auch auf die Situation im damals noch jungen Staate Israel und sind ebenso ein Spiegel der damaligen, jungen israelischen Kunstszene.

Durch die von den Organisatoren zur Verfügung gestellten Betreuer erfährt Moses spät, dass die ursprüngliche Idee zur Retrospektive und die Filmauswahl, wie längst vermutet, durch Trigon gelenkt worden ist. Wieso? Der Regisseur versucht, dies bereits in Santiago de Compostela herauszufinden, kommt dabei aber nur langsam weiter.

Moses sieht es als Herausforderung, sich seiner Vergangenheit und dem Freund zu stellen. Wieder in Israel, stellt er sich dieser Aufgabe, auch jener der Versöhnung mit seinem alten Freund, mit interessanter Konsequenz.

Abraham B. Jehoschua breitet seinen Text langsam und würdevoll vor dem Leser aus, der einzig und allein bereit sein muss, auf große Gesten und rasante Tempi zu verzichten. Wunderschöne Szenen und Sätze folgen aufeinander, kongenial übersetzt, sodass der Text selbst bereits zum Kunstwerk wird.

"Moses schenkt Ruth, die noch immer im Bett liegt, ein Lächeln. Ihr Haar liegt aufgebreitet auf dem Kissen, das sie im Nacken stützt, und in ihren schönen Augen glitzern Tränen, voller Dankbarkeit für den sonderbaren, behutsamen Weg, den ihr Begleiter gewählt hat, um eine verdrängte, aber nicht ausgelöschte Erinnerung in ihr wieder wachzurufen."

Je weiter man in diesen Kunstraum des "Films im Roman" eindringt, desto langsamer will man sich entlang der Gedankengänge und Erzähllinien weiterbewegen, einfach, weil man meistens versucht ist, die Sätze mehrfach zu lesen, einfach um ihre poetisch inspirierte Schönheit länger auskosten zu können. Aus der Perspektive eines reflektierenden, nüchternen und allwissenden Erzählers, der für Dialoge quasi unsichtbar wird und dem Hauptprotagonisten Moses immer wieder das Steuer überlässt, zeichnet der Autor, scheinbar ganz nebenbei, großartige Figuren. Selbst auf den ersten Blick unwichtige und nebensächliche Tatsachen und Momente werden so perfekt in die Textur integriert, dass man hier wirklich von einem meisterhaft komponierten Roman sprechen muss.

"Spanische Barmherzigkeit" ist ein großartiger Roman eines viel zu unbeachteten Schriftstellers, der sich mit der Reflexion über einen großen Lebenserfolg und dem damit verbundenen, vom Leben geforderten Preis beschäftigt. Ein großer Roman über die Filmkunst, über die Liebe und über die Freundschaft. Zu guter Letzt, ein großer Roman über Israel.

Absolute Empfehlung.

(Erstveröffentlicht auf www.sandammeer.at Roland Freisitzer; 10/2013)

Cover des Buches Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung (ISBN: 9783827009845)

Bewertung zu "Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung" von Jacques Strauss

Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Beeindruckendes Debüt

Beeindruckendes Debüt

"An den heißen Nachmittagen saßen Hausmädchen und Gärtner unter den Bäumen und plauderten in ihrer jeweiligen Muttersprache. Manche hatten Babys mit decken auf den Rücken gebunden ... Fast alle Familien in Linden hatten Dienstmädchen, und die meisten von ihnen wohnten in kleinen Zimmern oder Hütten im Hinterhof. 'Einen Geschirrspüler?,' fragten die Hausfrauen, 'wozu denn das? Ein bisschen schwarze Magie tut es doch auch.'" (Aus dem Roman)

1989, Südafrika. Johannesburg. Der Bezirk Linden, am nördlichen Stadtrand der Metropole. Das Ende der Apartheid, die übrigens von Jacques Strauss im ganzen Buch kein einziges Mal beim Namen genannt wird, naht in großen Schritten. Nelson Mandela wird in Kürze aus der Haft entlassen werden. Apartheid prägt das Denken der meisten Menschen, sowie ihre Taten, auch wenn die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß bereits nicht mehr so rigide und genau beachtet werden, wie zum Beispiel noch fünf oder sechs Jahre davor, als auch der Rezensent seine frühen Jugendjahre in Südafrika verbrachte.

Klugerweise verzichtet Jacques Strauss auf die Erzählperspektive des elfjährigen Jungen und wählt den bereits erwachsenen Jack V. als Erzähler, der sich an die mit elf begangene Schuld erinnert. Das erlaubt dem Autor, seine Erzählung ohne diverse Hindernisse, die mit einer pubertierenden Erzählstimme Hand in Hand gehen, voranzutreiben. Es ist ein Verrat, um den es hier geht. Ein Verrat an Susie, der Maid, oder Hausangestellten, die dem Jungen wie eine zweite Mutter ist.

Natürlich erinnert sich der Erzähler auch an diverse andere Begebenheiten seiner Jugend, wodurch ein lebendiges, korrektes, witziges, ironisches - aber auch sehr politisches - Bild eines Landes entsteht, das sich bereits in den letzten Atemzügen einer durch die Fesseln einer indiskutablen, menschenverachtenden Gesellschaftspolitik bestimmten Situation befindet. Eine Politik, die nicht nur die ganze Geschichte des Landes bestimmt, sondern auch, wie man nun rückblickend sagen kann, die nahe Zukunft des Landes im Umbruch bestimmen wird. Obschon die Apartheid längst abgeschafft wurde, sind die Spätfolgen dieser so unglaublichen Politik noch immer zu spüren.

Jack leidet darunter, halb Afrikaaner (oder auch Bure) und halb Engländer zu sein. So gehört er weder zur einen, noch zur anderen Fraktion in der Schule. Für den Leser allerdings ein angenehmer Zufall, da er dergestalt zu einer umfangreichen und vor allem immer wieder auch sehr witzigen Lehrstunde über die Unterschiede der beiden in Südafrika größten weißen Bevölkerungsgruppen gelangt.

Während Jack seine Geschichte erzählt, entpuppt sich sein Narrativ als durchaus bewusstes Charakterporträt; eine Tatsache, die es dem Erzähler allerdings immer wieder recht schwierig macht, mit seinen Erkenntnissen umzugehen. Ausgehend vom sexuellen Erwachen des jungen Jack, inklusive aller damit verbundenen Konfusionen, bis hin zum Verstehen über die Auswirkungen der Sanktionen (ökonomischer Natur) gegen Südafrika, die sich u.A. auf den Preis der "He-Man"-Spielzeuge auswirken, für die der junge Jack sein Taschengeld spart, erlaubt dieser Text eine ehrliche und erfrischende kindliche Perspektive. Jack erkennt, dass immer, wenn der Präsident etwas sagen würde, was den Leuten in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht passt, der Preis noch weiter steigen würde. Spätestens hier versteht man die Wahl des retrospektiven Erzählens als pure Notwendigkeit und gelungene Lösung.

"Als Petrus fragte, warum Susie weg sei, konnte ich es ihm nicht erzählen. Er hätte irgendetwas Geschmackloses gesagt. Er hätte das tragische Ereignis in irgendeiner Formulierung, die er bei seinen Eltern aufgeschnappt hatte, auf die unverbesserliche Natur der Eingeborenen zurückgeführt. Und vielleicht hätte er noch gesagt, dass Mörder gehängt werden und dass das gut so ist, weil in der Bibel steht, Auge um Auge."

Jack hasst es, daran erinnert zu werden, dass Susie nicht bei seiner Familie war, weil sie ihn über alles liebte, sondern weil es ihre Arbeit war. Ironischerweise schafft er es, ihr die Freiheit zu geben, indem er an ihr und ihrem Sohn Verrat ausübt. Aus diesem Fächer der kulturellen Eigenschaften des späten Apartheit-Südafrikas schafft dieser Debütroman den Spagat zwischen aufklärerischem Schreiben und einer mitreißenden, geistreichen, ironischen und witzigen Geschichte, die immer wieder überrascht.

Jacks nicht immer ehrenhaftes Verhalten verunsichert den Leser allerdings nie, sondern erinnert im Gegenteil daran, dass Menschen, aus ihrer Natur heraus, nicht besonders mutig sind und dass Mut oder Zivilcourage nur durch bewusstes Wollen erreicht werden können.

"Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung" ist ein durchaus gelungener, blendend übersetzter Debütroman, der auf den nächsten Roman dieses jungen Autors hoffen lässt.

Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 06/2013)

Cover des Buches Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung: Roman (ISBN: 9783827076410)

Bewertung zu "Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung: Roman" von Jacques Strauss

Das Jahr meiner zweifelhaften Erlösung: Roman
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Cover des Buches Der verlorene Freund (ISBN: 9783518423615)

Bewertung zu "Der verlorene Freund" von Carlos María Domínguez

Der verlorene Freund
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Ein verhängnisvolles Holzkreuz

 

Die Romane des 1955 in Buenos Aires geborenen Carlos María Domínguez, der seit Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts in Montevideo (Uruguay) lebt, zeichnen sich allesamt durch frappierende Kürze aus. Sparsam gesetzte, reduzierte, doch zum Poetischen neigende Prosa für literarische Momentaufnahmen. Prosa, die dazu zwingt, langsam und genau zu lesen, da einem sonst leicht Details entgehen können.

Waldemar Hansen heißt der Mann, dem der Ich-Erzähler dieses Romans im Wartezimmer seines Rechtsanwaltes begegnet. Man kommt ins Gespräch, es entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden nicht mehr jungen Männern. Eine Freundschaft, deren Basis durch viele Gemeinsamkeiten kultureller Natur Stärkung findet und so rasch zu einer wirklich innigen Verbundenheit führt.

Scheinbar ohne Anlass, stürzt sich Waldemar Hansen eines Tages aus seinem Fenster. Da er vorerst überlebt, bittet er seine Tochter, den Erzähler ins Krankenhaus an sein Bett zu rufen. Dort angekommen, lernt er nicht nur die Tochter, sondern auch die Schwester des Sterbenden kennen. Zu einem letzten Gespräch zwischen den beiden Männern kommt es nicht mehr.

Der Erzähler will und kann nicht verstehen, was den Freund zu dieser Tat gezwungen haben könnte. So beginnt er mit einer dezenten Spurensuche, die sich vorerst auf den Kontakt zu den Verwandten und einer ehemaligen Freundin des toten Freundes konzentriert. Als die ebenso an der Ergründung interessierte Tochter dem Ich-Erzähler den Computer des Verstorbenen zum Durchsuchen gibt, stößt er im Postfach des verlorenen Freundes auf e-mails, die von einem amourösen Verhältnis mit einer Dame zeugen, das offensichtlich nie ganz verloschen ist.

Der Ich-Erzähler findet Hinweise auf ein aus den Bergen Uruguays stammendes Holzkreuz, das in einer noch unklaren Art und Weise für den Freund scheinbar fatale Auswirkungen gehabt hatte. Er reist in die abgelegene Berggegend, um die Hintergründe und Zusammenhänge zu erforschen, die hier zum Suizid von Waldemar Hansen geführt haben. Die Geschichte, die er aufdeckt, ist absurd und teilweise fast unglaublich verrückt; die Bedenken werden allerdings durch die erzählerische Kompetenz von Carlos María Domínguez locker wettgemacht.

Die Stärke dieses Romans liegt in den unendlich vielen Details und der penibel ausgehörten Prosa, die übrigens von Susanne Lange wunderbar genau und musikalisch übersetzt worden ist. Eine Auflösung des Rätsels bzw. einen konkreten Grund für den Selbstmord des Freundes - den bietet der südamerikanische Autor nicht an. Eine Art Verweigerung, die diesem Text jegliche kriminalistische Andeutung und Motivation vorenthält. Ein Motiv allerdings, das gibt es, mehr nicht.

"Der verlorene Freund" ist ein eindrucksvoller, kurzer und sehr dichter Roman, der, formal perfekt konstruiert, noch sehr lange nach der Beendung in den Gedanken nachklingt.

Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 05/2013)

Cover des Buches Europe Central (ISBN: B000CC499O)

Bewertung zu "Europe Central" von William T. Vollmann

Europe Central
Wolkenatlasvor 15 Jahren
Krieg, Liebe und Musik im blutigen 20. Jahrhundert

Krieg, Liebe und Musik im blutigen 20. Jahrhundert

Die Übersetzung des von William T. Vollmann im Jahr 2005 veröffentlichten Romans "Europe Central", für den er mit dem "National Book Award" ausgezeichnet wurde, hat ganze acht Jahre gedauert. Eine Tatsache, die die verschiedenen Schwierigkeiten beim Übersetzen dieses extrem vielschichtigen und umfangreichen Romans mehrfach unterstreicht. Nun vollbracht, muss man vorweg den Übersetzer Robin Detje loben, der die Prosa William T. Vollmanns wunderbar kongenial ins Deutsche transferiert hat.

"Europe Central" - dieser Originaltitel wurde bewusst für die deutsche Ausgabe beibehalten, da er die Schaltstelle Europas, quasi die Telefonzentrale, andeutet und so sinnvoller für das Verständnis des Romans ist, als z.B. eine Übersetzung des Titels.

In jeweils streng abwechselnden Kapiteln erzählt Vollmann aus deutscher und sowjetischer Sicht; da die Nazis, da die Schergen Stalins. Weil der us-amerikanische Autor penibel recherchiert hat, kann man die Eckpunkte der hier vorkommenden Geschichten und Schicksale relativ genau mitverfolgen, wenn man will. Allerdings ist es wahrscheinlicher, eher weniger genau die Fakten zu kennen und sich auf die von William T. Vollmann verfremdet-fiktive-wahre Handlung zu konzentrieren.

In diesem Roman ist auch die Liste der Protagonistinnen und Protagonisten beeindruckend, von Vladimir Iljitsch Lenin und seiner Geliebten Krupskja, oder auch Hitler und Stalin höchstpersönlich, (die als "der Schlafwandler" und "der Realist" auftauchen), bis hin zu diversen Konterrevolutionären, dem Komponisten Dimitri Schostakowitsch in einer Hauptrolle, diversen parteifreundlichen Komponisten wie z.B. Tichon Khrennikov, der Künstlerin Käthe Kollwitz und der Dichterin Anna Akhmatova oder auch dem Filmemacher Roman Karmen, sowie dem SS-Mann Gerstein und dem Wehrmachtsgeneral Friedrich Paulus. Die größte fiktive Verfremdung, so gesteht der Autor im Nachwort selbst, ist die Liebesgeschichte zwischen Dimitri Schostakowitsch und Elena Konstantinowskaja, die zwar existierte, aber sicher nicht so, wie hier beschrieben. Erst in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist man auf Briefe gestoßen, die, in den Jahren 1933-34 geschrieben, von der Liebe der beiden zeugen. Allerdings hatte der Autor trotzdem nur ganz wenige Anhaltspunkte, um ihrer Figur Leben einzuhauchen, da von Schostakowitschs Geliebter nicht einmal ein Foto zu existieren scheint. Ihre Ehe mit dem Filmemacher Roman Karmen ist historisch betrachtet auch unspektakulär verlaufen, sodass William T. Vollmann hier ganz auf seine schöpferische Kraft zurückgreifen musste. So wurde die Geliebte Schostakowitschs zu einer Art Muse des Autors, die, ganz sein geistiges Eigentum, zu einer Romanfigur wurde, in die sich der Autor selbst verliebt hatte, wie er im Nachwort zugibt.

William T. Vollmanns Prosa ist, stilistisch betrachtet, nüchtern distanziert, allerdings auf eine sehr poetische Art und Weise. Durch die scheinbar unerschöpfliche Anzahl der Erzählperspektiven diktiert, wechselt Vollmann ständig zwischen allen möglichen Erzählformen, auch die Über-Kapitel sind unterschiedlich lang, das kürzeste drei Seiten, das längste um die hundertfünfzig. Dazwischen Unter-Kapitel, die meist relativ kurz sind, mitunter auch nur drei oder vier Zeilen. Ein im Mittelpunkt stehendes "Ich" fehlt hier, wie auch eine das Geschehen wirklich bestimmende Figur. Dafür rücken Gewalt, Blutvergießen, Unterdrückung und die politische Entgleisung in die dunkelsten Kapitel unserer europäischen Geschichte in den Mittelpunkt, werden so als Europa zur Hauptfigur, die sich anhand diverser Schicksale definiert.

Ein wichtiger Bestandteil dieses Romans ist auch die Musik von Dimitri Schostakowitsch. Verschiedene Werke, z.B. die Cellosonate op. 40, die jeweils als Schostakowitschs Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen definiert sind. Schostakowitsch, der ständig durch das Regime gefährdet war, unbeugsam und ungehorsam als Mensch, obwohl er am Ende seines Lebens doch in die Partei eingetreten ist.

Immer wieder streut Vollmann bewusst gesetzte Abweichungen von den wirklichen Ereignissen ein, wie zum Beispiel, dass Adolf Hitler den Kriegsbeginn in Berlin erlebt hätte (statt in Wahrheit in München), oder er lässt Goebbels' Geliebte auch Göhrings Geliebte sein, während er Stalin Hitlers "Mein Kampf" lesen lässt.

Hin und wieder schaltet sich sogar der Autor in das Geschehen ein, in dem er aus dem Hintergrund, bzw. aus dem Jahr 2002, manches kommentiert.

Auch wenn der Roman immer wieder Längen aufweist, die übrigens in der von Robin Detje übersetzten Ausgabe weniger ins Gewicht fallen als in der Originalausgabe, die der Rezensent vor ein paar Monaten hinführend gelesen hat, dann liegt das unter Anderem an der rhythmisierten Gestaltung der Übertragung. So ist dieser Roman ein gigantisches Manifest und ein farbreiches Panorama der unfassbaren Tragödien des vergangenen Jahrhunderts. Der Roman liest sich, ähnlich wie die bisherigen Romane des sich in Arbeit befindenden "Seven Dreams"-Zyklus (dessen fünfter Teil im Jahr 2013 erscheinen soll), wie eine Chronik: distanziert, nüchtern und penibel katalogisiert, allerdings wird dieser Duktus hier immer wieder durch die fast manischen Explosionen der Erfindung des Autors unterbrochen und gestört, die diese Beschäftigung mit der Geschichte zu einem faszinierenden und wichtigen Roman werden lassen, der, auch wenn im historischen Kontext nicht alles glaubhaft wirkt, (die Bisexualität Elena Konstantinowskajas hätte Schostakowitsch höchstwahrscheinlich nie geduldet, auch das gibt der Autor freimütig zu), definitiv zu den wichtigsten fiktiven Texten zu diesem Thema zählen darf.

Es bleibt nur noch zu wünschen, dass Suhrkamp sich auch den anderen Werken William T. Vollmanns widmet, wie z.B. dem "Seven Dreams"-Zyklus, oder auch "Butterfly Stories" und "Royal Family", idealerweise übersetzt wieder von Robin Detje.

(Roland Freisitzer; 05/2013)

Cover des Buches Tolstois Albtraum (ISBN: 9783630873886)

Bewertung zu "Tolstois Albtraum" von Viktor Pelewin

Tolstois Albtraum
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Wenn nichts so ist, wie es scheint...

Wenn nichts so ist, wie es scheint ...

Viktor Pelewins anno 2009 unter dem Titel "T" in russischer Sprache erschienener Roman ist ein bemerkenswerter Text, der als Art Satire auf eine Art biografische Erzählung über das Leben des Autors von "Anna Karenina", sich über diverse Variationen aus den Genres Fantastik, Horror, Reißer und einer noch absurderen, quasi philosophischen Abhandlung einer buddhistischen Weltanschauung bis zum Ende des Romans so entwickelt, dass eine eindeutige Deutung des auf den letzten 440 Seiten gelesenen Textes prinzipiell nicht möglich ist. Es ist auch ein Text, auf den der russische Titel "T" viel besser zu passen scheint, als der deutsche Titel "Tolstois Albtraum". Das deshalb, weil es zur Figur des Protagonisten viel besser zu passen scheint, auch im Titel den unanfechtbaren Namen Graf T. zu erhalten, da der Name Graf Tolstoi gewisse rechtliche Probleme mit sich bringen könnte ...

Beginnt der Roman noch wie ein typischer russischer Roman, der möglicherweise sogar aus der Feder des echten Leo Tolstois stammen könnte, ist man bereits nach wenigen Seiten definitiv im Reich des Viktor Pelewin. Mit einem Sprung aus dem Eisenbahnwaggonfenster in einen Fluss rettet sich der Protagonist vor dem als Geistlichen getarnten Mitreisenden. Ab hier gibt es kein Zurück mehr, man wird als Leser mitgerissen in diesem erzählerischen Gebirgswasser der Postmoderne.

Wie eigentlich in allen Texten des russischen Kultautors gilt der postmoderne Grundsatz: "Alles geht, nichts ist verboten".

Und so muss Graf T. zuerst die Gunst einer rätselhaften, auf einem mysteriösen Kahn reisenden Gräfin erobern, bevor er sich mit mörderischen Pygmäen messen muss, nur um auf der Flucht zufällig in einem Zigeunerlager Zuflucht zu suchen, in dem man bereits auf ihn wartet.

Während der Protagonist Graf T. dahinterkommt, dass er wahrscheinlich nur der Protagonist, oder auch nur eine literarisch-geschäftstaugliche Spielfigur eines ungreifbaren Autors ist, spürt der Leser zwischen den Zeilen bereits die anarchistische Auflehnung gegen ihr Protagonisten-Dasein der verschiedenen Figuren. Zusätzlich entpuppt sich der Autor als nur einer von vielen Autoren, die, in schlechter Abstimmung arbeitend, eine Art Auftragsschreiberbrigade für ein größeres Imperium sind, dem es natürlich nur um die Verkaufszahlen geht. Daher muss Graf T. auch auf alle möglichen Widrigkeiten gefasst sein, die sich seine Kreatoren für die Sponsoren einfallen lassen.

So verwundert es auch nicht, wenn Graf T. auf den mörderischen Dostojewski trifft, der sein Dasein als eine Art Zombiejäger fristet. Er schießt aus dem Hinterhalt Zombies ab, um an ihre Wurst- und Wodkaration zu kommen. Die Zombies will er mit Hilfe einer Spezialbrille mit Zombie-Farbkennung erkennen; eine Brille, die allerdings immer die selbe Farbe aufweist, egal ob Zombie oder Mensch.

Während sich Tolstoi und Dostojewski bekriegen, passiert die Wendung zur Emanzipation der Figuren, die zu einer revolutionären Loslösung und einem Ungehorsam gegenüber den Schöpfern führt. Mit furiosem, parodistischem Humor und einer Doppelbödigkeit, allein schon das Aufeinandertreffen von Tolstoi und Dostojewski ist zum Brüllen komisch, die dem Leser sukzessive den Boden unter den Füßen wegzieht, wobei es dem Leser nicht viel anders als den sich auflehnenden Figuren geht, entwickelt Viktor Pelewin einen Romantext, der in seiner offenen Gestaltung, im Sinne der Auflösung der verschiedenen Ideen- und Handlungsstränge, konsequent inkonsequent ist. Somit werden Leser, denen die sinnvolle Zusammenführung aller Handlungsstränge und Ideen in einem Roman wichtig sind, wahrscheinlich enttäuscht sein. Viktor Pelewin schrammt auch bewusst sehr knapp an der Grenze zwischen Ulk und Ernst dahin und reizt die Grenzen unerhört aus. Aber selbst die kleinen Ausrutscher über die Grenze der Albernheit sind hier bewusst gesetzte Bausteine, die sich ins Ganze fügen.

Viel Ironie und Selbstironie bestimmen den Text, in dem natürlich zusätzlich unendlich viele Anspielungen auf russische Klassiker, Fabeln, Volksmärchen und Anekdoten enthalten sind, die dem Nichtrussen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geläufig sind und daher etwas verlieren, auch wenn die meisten in den Anmerkungen der Übersetzerin erklärt werden. Die Übersetzung ist ausgezeichnet und bringt die Prosa Viktor Pelewins auch in deutscher Sprache wunderbar zum Leuchten.

Fazit:
Ein Roman, der seine Nahrung und Ingredienzien aus allen stilistischen Ecken holt, diese in einem dem Autor eigenen Schreib-Kochtopf aber zu einem verrückt-ungebändigten Textkunstwerk zusammenwachsen lässt, das definitiv schmeckt, auch wenn man das Rezept nicht genau fassen kann. Sehr empfehlenswert.

(Roland Freisitzer; 04/2013)

Cover des Buches Die Nöte des wahren Polizisten (ISBN: 9783446239739)

Bewertung zu "Die Nöte des wahren Polizisten" von Roberto Bolaño

Die Nöte des wahren Polizisten
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Unvollendeter Roman aus dem Nachlass...

Unvollendeter Roman aus dem Nachlass

Für einen eingefleischten Roberto Bolaño-Leser gibt es wohl kaum eine größere Freude als die Neuigkeit über einen weiteren literarischen Fund im Nachlass des großen chilenischen Autors.

Offensichtlich hat Roberto Bolaño zwanzig Jahre an diesem in fünf Teile gegliederten und leider Fragment gebliebenen Roman gearbeitet, der nun als vermutlich letzter aus seiner Feder das Licht der Welt erblickt. So scheinen einige Ideen andernorts bereits teilweise vollständigere Verarbeitung oder rasantere Entwicklung gefunden zu haben. Nichtsdestotrotz zeigen die fünf Teile, welch schiere Begabung dem chilenischen Autor eigen war.

Trotz seiner fragmentarischen Natur hat der Text doch eine sehr vollständige Aura. Man meint fast, die Form dieses Romans sei bewusst von Bolaño so gewählt worden, dass sich der Leser die Verbindungen zwischen den fünf Teilen selbst sucht und findet, bzw. dort die Suche beendet, wo die Verbindung entweder nicht gefunden werden kann und sich mit dem Nebeneinander von selbstständigen Geschehnissen abfindet.

Der Literaturprofessor Amalfitano verliert wegen einer Affäre seine Professur an der Universität Barcelona. Das einzige Stellenangebot, das er daraufhin erhält, führt ihn nach Mexiko. In die im Norden gelegene Stadt Santa Teresa, die als Universitätsstadt zwar unwichtig, dafür aber wegen einer Serie von Frauenmorden berüchtigt ist. Zusammen mit seiner Tochter beginnt der verwitwete Professor Amalfitano ein neues Leben. Mit seinem an Aids erkrankten Ex-Liebhaber und Exstudenten Padilla in Barcelona hält er Briefkontakt und findet sich im skurrilen Kunstfälscher Castillo einen neuen Liebhaber in Santa Teresa. Briefe bestimmen auch das Leben der Tochter Rosa, die mit ihrem Verflossenen ebenfalls so den  Kontakt sucht. Der neu in Santa Teresa angekommene Gelehrte weckt allerdings rasch bei der örtlichen Polizei Verdacht und wird unter Beobachtung gesetzt. Mit einer gehörigen Portion Ironie zeichnet der Autor die städtische Polizei, die, in diverse dubiose kriminelle Geschäfte verwickelt, alles Andere als sauber ist.

Wie bereits im beeindruckenden Roman "Die Naziliteratur in Amerika" beschäftigt sich Roberto Bolaño auch hier mit der fast enzyklopädisch genauen Auflistung des imaginären Romanschaffens eines natürlich ebenso imaginären Autors. J. M. G. Arcimboldi ist der Autor, dessen Schaffen vom in Ungnade gefallenen Professor beleuchtet wird. Arcimboldi, der in etwas veränderter Form, (dort hat ihn Roberto Bolaño J. M. G. Archimboldi genannt), bereits großer unbekannter Protagonist im "opus magnum" des chilenischen Autors "2666" war. Und während hier bemerkt wird, dass des (imaginären) Autors Geschichten, "ungeachtet ihres jeweiligen Stils", doch immer Kriminalgeschichten wären, deren Auflösung nur durch die Flucht, durch eingebildetes oder wirkliches Blutvergießen und durch daran anschließende Fluchten möglich wäre, so "als würden Arcimboldis Figuren am Ende des Buches im wahrsten Sinne von der letzten Seite springen und weiterfliehen", stehen diese Worte doch wohl in erster Linie in selbstreflexiver Weise für das Schaffen des viel zu früh verstorbenen großen Chilenen.

Interessant auch der Abschnitt, in dem Bolaño detailliert und ebenso fast archivarisch die Fäden einer der Nebengeschichten zusammenführt. Die der Herkunft und des Aufstiegs des den Professor beschattenden Detektivs.

Gewalt, sexuelle Detailliertheit, Zynismus und eine den Außenseitern gewidmete Zuneigung bestimmen diesen Text, der, auch wenn er unvollständig geblieben ist, ein besonders erfreuliches Leseerlebnis ist, weil, wie bei Roberto Bolaño eigentlich immer, unter dieser Schicht der Aggression und sexuellen Ausschweifungen eine wundersam zarte, feine und humoristische Seite entdeckt werden kann.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 04/2013)

Cover des Buches Frühling auf dem Mond (ISBN: 9783518423639)

Bewertung zu "Frühling auf dem Mond" von Julia Kissina

Frühling auf dem Mond
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Eine Kindheit im Kiew der Breschniew-Zeit

Eine Kindheit im Kiew der Breschniew-Zeit

Der Roman "Frühling auf dem Mond" der 1966 in Kiew geborenen und mittlerweile in Berlin lebenden ukrainischen Autorin Julia Kissina, der nichtsdestotrotz im Original in russischer Sprache verfasst ist, ist ein spannendes Porträt eines etwas rebellischen und mit einer gehörigen Portion surrealistischer Gedanken ausgestatteten Mädchens, das wohl als zumindest fiktives alter ego der Autorin verstanden werden kann.

"Man zwingt mich zu wachsen. Man zwingt mich, das papierene Rückgrat zu strecken. Man misst mich mit dem Lineal, ob mein Wachstum nicht stockt, man wiegt mich und spickt mich mit Vitaminen. Meine Eltern achten sorgfältig darauf, dass ihr mickriges Geschöpf Fleisch isst."

Julia wächst im jüdisch-bürgerlichen Milieu auf. Ihr Vater schreibt Texte und Szenarien für den Zirkus, lebt in permanenter Angst, denunziert zu werden. Die Mutter gibt sich der Pflege von wirren alten Damen hin, und Julia erforscht und erkundet ihre Umgebung, ihre sich im Stadium des langsamen Zerfalls befindende Heimatstadt Kiew.

Beeindruckend sind die Passagen dieses meist überzeugenden Textes, in denen Julia Kissina die schmutzigen, dunklen, schäbigen, zerkratzten und unschönen Seiten des spätkommunistischen Kiews zum Leben erweckt, indem sie mit wunderschönen Sätzen leicht surreale Stimmungsbilder erzeugt. So weckt sie verrostete Eisengestelle in einem Park zum Leben, zugewachsene, verwilderte Wiesen, oberflächlich schöne noble Straßenzüge. Das Kiew der jungen Julia ist eine wilde, verwunschene Welt, in der die kommunistische Gesinnung nur am Rande Einzug hält, was oft von der jungen Protagonistin unverstanden bleibt. So bleibt der Blick auf das wilde Treiben unschuldig, was die Beobachtungen umso interessanter für den Leser macht.

Nachts unterhält sich die Protagonistin mit den Führern des Weltproletariats und trifft sich tagsüber oft mit einem älteren, sich als Pole ausgebenden Schriftsteller, der nunmehr Bücher über die französische Küche verfasst und Julia mit dem Anatomischen Institut aus der Zeit der Zaren und Weißgardisten bekannt macht. In dem Gebäude, versteckt in verwilderten Gärten, findet Julia zu ihren "lunatistischen" Gedanken. Der Zerfall des Materiellen und die Aura des Todes ziehen sie an und beleben ihre Selbstwahrnehmung, die den Text dieses eindrucksvollen Romans nährt.

Nicht ganz so überzeugend ist leider die formale Gestaltung des Romans. In kurzen Kapiteln rast das Geschehen von einer Sache zur nächsten. So, dass man als Leser eher meint, eine Sammlung von Ereignissen, so wie knappe Erzählungen, die teilweise Schnittstellen haben, meistens aber nicht, zu lesen. So findet die Sprache in der Form keinen Partner, was den Roman noch stärker gemacht hätte. Auch die Personen dieses Romans bleiben teilweise überzeichnet und verschiedensten Klischees verhaftet, vom korrupten Onkel bis hin zur verrückten alten Dame in der Anstalt und den Anderen; das ist allerdings offensichtlich so gewollt, damit der Leser die Begleitfiguren eben nur als solche, gesehen durch die surreal-getönte Brille der jungen Julia, gesehen werden.

Von Valerie Engler großartig übersetzt, ist Julia Kissinas erster Roman "Frühling auf dem Mond", ihre dritte Veröffentlichung, nach einem interessanten Erzählungsband "Vergiss Tarantino" und einem Kinderbuch, sicherlich eine wirkliche Empfehlung, auch wenn der Rezensent die eine oder andere Kleinigkeit bemängelt hat.

(Roland Freisitzer; 04/2013)

Cover des Buches Scherben (ISBN: 9783518423660)

Bewertung zu "Scherben" von Ismet Prcic

Scherben
Wolkenatlasvor 10 Jahren
Die Wunden des Krieges

Erstaunlicher Roman über die Wunden des Krieges

Ein junger Bosnier landet in New York, das als Zwischenstation auf seinem Weg nach Kalifornien dient, um in den Vereinigten Staaten Fuß zu fassen und ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben, das möglichst frei von Krieg, Schrecken und Terror sein sollte.

Der Titel dieses beeindruckenden Romans "Scherben" des 1977 im bosnischen Tuzla geborenen Ismet Prcic kann auch als struktureller Impetus für die Form dieses Textes verstanden werden. Alles zerbricht und verfällt. Die Heimatstadt, das Heimatland, die Jugend, die Ehe der Eltern, die Jugendliebe; auch das neue Leben im sonnigen, vielversprechenden Kalifornien ist vom Trauma der Jugend- und Kriegsjahre des Protagonisten Ismet Prcic geprägt, der nicht zufällig den selben Namen wie der Autor trägt und somit ein zumindest teilweise fiktives alter ego des Autors ist.

Im Verlauf dieses sich nicht linear entwickelnden Romans gibt es immer wieder in den Text eingeschobene und möglicherweise nie abgeschickte Briefe an die in Tuzla lebende Mutter. Briefe, die als mehr oder weniger verstecke Hilferufe interpretiert werden können. Auch ein Tagebuch, initiiert durch den Therapeuten des Protagonisten, liefert eine weitere Ebene in diesem vielschichtigen Buch. Die Anweisung des Therapeuten, alles aufzuschreiben, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob es wahr ist, oder nicht, wird von Ismet Prcic konsequent verfolgt. So verschwimmt sehr bald die Trennlinie zwischen vermeintlich realitätsnaher Erzählung und den ins Surreale abschweifenden Entwicklungssträngen.

Während der junge Ismet den Krieg, der seine Jugendzeit von 15 bis 18 zutiefst prägt, am eigenen Leib und im täglichen Leben erlebt, erlebt er ihn auch vor dem Fernseher. So, wie ihn zum Beispiel die Menschen in Österreich, Deutschland oder Italien erlebten. Dadurch ergibt sich ein interessanter Blickwinkel, quasi von innen, aber dennoch auch von außen. Während er in seiner Wohnung sitzt, nimmt er den Einschlag einer Artillerie-Granate in der Altstadt von Tuzla wahr, denkt sich aber nicht viel dabei, da er ähnliche Geräusche täglich wahrnimmt. Erst später, durch die Fernsehberichte, erfährt er, dass es sich dabei um den schlimmsten Angriff der Serben auf Tuzla gehandelt hat, ein Massaker, das, da es sich noch dazu um den "Tag der Jugend" gehandelt hat und dementsprechend viele Jugendliche auf den Straßen unterwegs waren, 71 jungen Bosniern das Leben gekostet hat.

Auch die Geschichte eines besonders geheimnisvollen Mustafas schiebt sich immer wieder zwischen die Erzählungen des Protagonisten. Lange ist nicht klar, in welchem Zusammenhang dieser Mustafa zum Protagonisten steht. Welche Funktion dieser Erzählungsstrang hat. Ob er gar nur imaginiert ist? Mustafa entpuppt sich allerdings als eine Art fiktiver Doppelgänger. Er wird zum Kriegsdienst eingezogen und liefert somit eine wieder andere Perspektive auf die Gräueltaten des Krieges. Eine Figur, die physisch und erzähltechnisch zerfällt und am Ende doch mit dem vermeintlichen Protagonisten gemeinsam kollabiert, so dass man, so der Autor, nicht mehr wissen kann, welche der beiden Figuren wer ist.

Der Protagonist Ismet versucht, sich durch Theaterspielen in eine andere Welt zu zaubern, versucht, dadurch Befreiung zu erreichen. Da Entkommen aus den Kriegswirren undenkbar erscheint, stürzt er sich mit absoluter Vehemenz in seine Rollen bei der Laiengruppe, bei der er Mitglied ist. So fällt es ihm leichter, den Krieg so gut wie möglich zu ignorieren. Diese Laiengruppe ermöglicht ihm dann auch später, indirekt, auf einer Tournee in Großbritannien, die Flucht.

Der gewichtigste Teil des Romans aber beschäftigt sich mit den Erinnerungen an die Jugendjahre von Ismet. Seine Kindheit und Jugend in Tuzla. Scheinbar ungeordnet tauchen sie auf, brechen aus, je nach Lust und Laune. Auch die Erzählperspektiven wechseln sich hier zwischen Ich-Form oder zweiter und dritter Person launisch ab. So chaotisch, wie das erscheinen mag, ist aber auch Ismets Leben.

Ismet Prcics Erstlingsroman "Scherben" ist ein wirklich erstaunliches Buch, vielschichtig, aufwühlend und perfekt konstruiert. Ein Buch, das einen unvergesslichen Blick auf einen unbegreiflich brutalen Krieg wirft, ein Roman, der sich unvermeidlich ins Gedächtnis brennt. Und das kann nur ganz große Literatur.

(Roland Freisitzer; 03/2013)

Über mich

Ich bin ein obsessiv veranlagter Leser, dem es richtig mies geht, wenn er nicht mindestens 2 Stunden p/Tag gelesen hat. Ein Leser, der süchtig nach guter Literatur ist, Literatur aus allen Ecken unserer Welt. Literatur, die mich zwingt zu denken, die mich fordert, die mich künstlerisch inspiriert, die mich beflügelt, die mich bis 5 Uhr früh wach hält, obwohl ich um 6 aus dem Bett muss...Zusätzlich bin ich Komponist und Dirigent und Vater einer wunderbaren elfjährigen Tochter...

Lieblingsgenres

Literatur, Unterhaltung

Freund*innen

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks