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Xirxe

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Cover des Buches Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund (ISBN: 9783458179399)

Bewertung zu "Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund" von Lars Mytting

Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Auch der zweite Band ist eine wunderbar erzählte Geschichte - aber mir fehlt die Vorleserin! Vielleicht sollte ich noch das Hörbuch holen 😉
Cover des Buches Die Enkelin (ISBN: 9783257071818)

Bewertung zu "Die Enkelin" von Bernhard Schlink

Die Enkelin
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Berührende Annäherung zwischen Großvater und Enkelin - und ohne Kitsch!
Von einem selbstlosen Liebenden

Im Mai 1964 findet in Ostberlin das Pfingsttreffen statt, bei dem sich die westdeutsche mit der ostdeutschen Jugend trifft. Dort begegnen sich Birgit und Kaspar: sie, die FDJ-Studentin, die die Notwendigkeit eines antifaschistischen Schutzwalls verteidigt; er, ein junger Student, Liebhaber der Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, ein bisschen aus der Zeit gefallen. Sie verlieben sich ineinander und für ein gemeinsames Leben verhilft Kaspar Birgit zur Flucht.

Nach vielen gemeinsamen Jahren stirbt Birgit überraschend und Kaspar entdeckt erst da, dass sie eine Tochter hat. Er macht sich auf die Suche nach ihr und findet sich wieder unter völkischen Siedlerinnen und Siedlern, darunter die 14jährige Sigrun, die ihn sofort als Großvater akzeptiert. Es gelingt ihm, sie ein paar Wochen im Jahr bei sich zu haben und ihr seine Welt zu zeigen, eine völlig andere als die ihre und ihrer Eltern.

Doch es geht nicht nur um Kaspars Versuch, seiner Enkelin eine Alternative zu ihrem völkischen Leben zu bieten, sondern auch die Art wie er sich darum bemüht. Während sich der Durchschnittsmensch (wozu ich mich auch zähle) ausgesprochen schwer tut, Sätze hinzunehmen wie

Sie lügen über Auschwitz. Mit Zyklon B können Menschen nicht vergast werden, jedenfalls nicht so viele und so schnell, wie es über Auschwitz heißt.

widerspricht er Sigrun nicht direkt. Er fragt woher sie es wisse, stellt ihr ohne Erwartungen Informationen zur Verfügung, regt sie zum selbständigen Denken an. Es ist eine gemächliche, fast schon quälend langsame Entwicklung, bei der man diesem stets verständnisvollen Kaspar manchmal am liebsten in den Allerwertesten treten würde – aber er lässt die Menschen sein und werden, die sie sind, was für Manche wirken mag, als sei er gleichgültig.

Vielleicht ist es auch eine Wiedergutmachung an seiner verstorbenen Frau, die damals nach ihrer Flucht in eine neue Welt hineingeworfen wurde, ohne jemals dort richtig anzukommen, was Kaspar erst nach ihrem Tod erkennt. Seiner Enkelin soll dies nicht passieren, ihr will er zur Seite stehen.

Wunderbar geschrieben, voller Gefühl ohne je kitschig zu werden mit einem in gewisser Weise herrlich altmodischem Protagonisten.

Cover des Buches Aufzeichnungen eines Serienmörders (ISBN: 9783944751221)

Bewertung zu "Aufzeichnungen eines Serienmörders" von Young-ha Kim

Aufzeichnungen eines Serienmörders
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Grandioses Portät eines alzheimerkranken Serienmörders mit Überraschungseffekt!
Auch Serienmörder bekommen Alzheimer

Wenn Serienmörder alt werden, sitzen die dann nicht im Gefängnis? Vermutlich ist das wohl die ’normale‘ Schlussfolgerung bei einem solchen Satzanfang. Aber was ist mit all denen, die nicht geschnappt werden? Plagt sie ein schlechtes Gewissen? Wollen sie etwas gutmachen? Oder es nochmal wissen?

Byongsu Kim ist 70 Jahre und leidet an einer schnell fortschreitenden Art von Alzheimer. Bis vor ca. 25 Jahren hat er unzählige Menschen umgebracht, nicht aus Mordlust oder Sadismus, sondern aus

Hoffnung auf eine höhere, auf die vollkommene Lust.

Nun, als er merkt, wie ihm sein Leben zu entgleiten beginnt, hat er in seinem Umfeld einen Konkurrenten. Ein Serienmörder, der junge Frauen tötet. Bei einer Zufallsbegegnung glaubt er, diesen erkannt zu haben und ist überzeugt, dass jener seine Tochter töten will. Byongsu Kim hat nur noch einen Wunsch: ihm zuvorzukommen. Da ihn sein Gedächtnis aber immer mehr im Stich lässt, beginnt er alles aufzuschreiben und aufzunehmen.

Diese Aufzeichnungen bekommen wir nun in diesem Buch zu lesen und zwar so, wie er die Dinge um sich herum wahrnimmt. In seinen lichten Momenten, die zusehends weniger werden, notiert er Geschehnisse (fand sich auf der Polizeiwache wieder), Gedanken, Erinnerungen oder ganz banale Feststellungen (Die Heizkosten sind extrem hoch. Alles wird teurer.). Man kann ihm Satz für Satz folgen, wie er immer weiter die Kontrolle über sein Ich verliert, obwohl er mit allen Möglichkeiten dagegen ankämpft. Ohne Erfolg.

Auch wenn die Hauptfigur ein Serienmörder ist und damit vielleicht der Eindruck entsteht, es handle sich hier um einen Krimi, ist es vielmehr die Innenansicht eines Alzheimerpatienten – zugegebenermaßen eines besonderen. Durch die kurzen Notizen, in denen er seine zunehmende Demenz auch erkennt, kommt man ihm als Menschen erstaunlich nahe. Und mich haben weniger seine Morde beschäftigt als die Frage: Wie will er das noch hinbekommen mit dem Mord an seinem ‚Konkurrenten‘?

Das Ende ist überraschend, aber passt und ich habe mit dieser Lösung das Buch nochmals durchgeblättert, was sich wirklich lohnt. Denn plötzlich sieht so Manches ganz anders aus …

Eine tolle Idee, wie das Thema Demenz bekannter gemacht werden kann – und ein klasse Buch!

Cover des Buches Der Mauersegler (ISBN: 9783847900795)

Bewertung zu "Der Mauersegler" von Jasmin Schreiber

Der Mauersegler
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Eine unglaublich ernste und traurige Geschichte - und dennoch gibt es viele Momente, die man mit einem Lächeln liest. Toll!
Wenn man den besten Freund verliert

Wenn ein Mensch stirbt, der einem so nahe steht wie niemand sonst, ist der Schmerz wohl unermesslich. Wie muss es einem da gehen, der sich zudem noch für diesen Tod verantwortlich fühlt?

Jakob, Prometheus‘ bester Freund ist tot und nun rast er mit seinem Wagen durch die Nacht gen Norden, auf der Flucht voller Schmerz, Angst und Schuld. Vor was genau Promotheus flieht, ist unklar; aber während er Unterschlupf  bei zwei alten Frauen findet, die einen Pferdehof an der dänischen Küste betreiben, erfahren wir nach und nach was geschehen ist und die Gründe für diese überstürzte Reise. Wie er als Arzt von allen Seiten bedrängt wurde, seinem Freund zu helfen. Wie er trotz besseren Wissens nachgab und er an der Verantwortung für dessen Leben fast zerbrach; was ihn zu Handlungen verleitete, die er nun unendlich bereut.

Hinzu kommen Promotheus schmerzvolle Erinnerungen an die vergangenen Zeiten und Erlebnisse mit seinem besten Freund. Begebenheiten, die trotz der Allgegenwärtigkeit von Trauer und Leid uns Lesenden immer wieder ein Lächeln entlocken wie beispielsweise gleich zu Beginn, als die beiden Jungen versuchen, Prometheus‘ verstorbenen Hund zu verbrennen (ohne Erfolg). Oder wie Jakob versuchte, seine große Schwester, die gerade von ihrem Freund verlassen wurde, zu trösten, indem er ihre Telefonnummer an Männer auf der Straße verteilte, die er nett fand.

Es hatte Monate gedauert, bis die Anrufe aufgehört hatten.

Es hätte ein unsäglich trauriges Buch werden können bei einem Thema wie diesem, zudem auch andere Figuren eine nie endende Trauer mit sich tragen. Doch Jasmin Schreiber hat diese wundervoll herrliche Erzählweise, bei der auf eine ergreifende Episode durchaus etwas Tröstliches, wenn nicht sogar etwas Humorvolles folgt, ohne dass es fehl am Platze wirkt. Ein Buch voller Schmerz, aber auch voller Wärme, Trost, Empathie und Hoffnung. Einfach schön!

Cover des Buches Die Infantin trägt den Scheitel links (ISBN: 9783990272428)

Bewertung zu "Die Infantin trägt den Scheitel links" von Helena Adler

Die Infantin trägt den Scheitel links
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: So düster und gespenstisch habe ich noch nie eine Kindheit geschildert bekommen - harter Tobak!
Eine infernalische Kindheit und Jugend

Man sollte den ersten Satz des ersten Kapitels des Buches durchaus wörtlich nehmen:

Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.

Wenn Du dazu noch weißt, dass die jeweiligen Kapitelüberschriften Gemäldetitel sind und Dir die Mühe machst, Dir vor dem Lesen diese Bilder anzuschauen (im Anhang sind die Maler mit ihren Gemälden genannt), hast Du so ungefähr eine Ahnung, was da auf Dich zukommt. Vielleicht aber auch nicht.
Helena Adler lässt eine junge Frau rückblickend ihre Kindheit und Jugend erzählen, allerdings, wie von Kindern mit einer überbordenden Phantasie nicht anders zu erwarten, maßlos und voller Übertreibungen. Doch damit nicht genug, gibt es anstatt Heidi-Idyll ein Inferno Danteschen Ausmaßes.

Die Krallen der Mutter sind messerscharf. Gelb und schrecklich sind ihre hakenförmigen Klauen, am liebsten jagt sie kleine Angsthasen und Faultiere wie mich. Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackebeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen zerschmettern.
Der Himmel donnert, grollt und erleuchtet die Nacht mit Blitzen. Bäume fallen um. Aus den nassen Lochmäulern der Viermagentiere tropft literweise Speichel. Gehörnte Geifergeschöpfe.

Daneben ist die Handlung kaum der Rede wert – Landleben eben. Kindheit und Jugend mit einem liebenden, aber saufendem, esoterischem Vater, einer hyperreligiösen depressiven Mutter, gehässigen älteren Zwillingsschwestern, die nichts als Arbeit kennenden Großeltern, dem Pfarrer und dem Bürgermeister. Spannung entsteht kaum, nur die Sprache, die im Fortgang der Geschichte etwas milder wird, ist durchaus bewundernswert. Doch dieses Übermaß an Allem, dieses Übertriebene und das Extreme nutzen sich auf Dauer ab, sodass selbst bei den weniger als 200 Seiten eine Art Gewöhnungseffekt eintritt, was durch die eher schlichte Handlung zu einer gewissen Eintönigkeit führt.

Vielleicht beim nächsten Mal: Etwas weniger extrem die Sprache, dafür ein Mehr an Handlung – das könnte richtig klasse werden!

Cover des Buches Blaue Frau (ISBN: 9783103971019)

Bewertung zu "Blaue Frau" von Antje Rávik Strubel

Blaue Frau
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Der alte Westen unterjocht den jungen Osten immer noch - intelligent arrangiert, aber zäh zu lesen.
Wie der alte Westen Europas den jungen Osten unterjocht

Wer einen Großteil der Missstände in unserer Gesellschaft auf einen Blick haben will – hier sind sie! Alter weisser Mann gegen junge Frau; Ost gegen West; reich gegen arm; Macht gegen Nichtmacht. Protagonistin ist eine junge Osteuropäerin, die sich in den kapitalistischen Westen wagt, um ihre Sehnsucht nach der Ferne zu stillen. Nach einem Sprachkursaufenthalt in Berlin bekommt sie ein Praktikum weitab in der Uckermark vermittelt, von wo aus sie nach einem sexuellen Übergriff nach Finnland flieht. Voller Scham ist eine Rückkehr in ihre Heimat keine Option und als sie ihrem Vergewaltiger unvermittelt begegnet, will sie nur eines: Gerechtigkeit.

Keine Frage: Über jeden der im vorhergehenden Abschnitt genannten Missstände sollte geschrieben und berichtet werden. Doch Alle in EIN Buch zu packen und diese der jugendlichen Hauptfigur aufzubürden, die versucht damit klar zu kommen, mag vielleicht gesellschaftskritische Geister beglücken, die sich darüber freuen, alles zwischen zwei Buchdeckeln konzentriert zu finden. Mir war das Ganze jedoch deutlich zu viel – und zwar nichts des Guten, sondern des Schlechten. Adina, die sich wahlweise Sala, Nina oder der kleine Mohikaner nennt oder nennen lässt, findet Bekannte, die sie nach ihrer Abreise sofort wieder vergessen; muss die schlimmsten Stunden ihres Lebens ohne jede Unterstützung durchstehen – schlimmer noch, man glaubt ihr nicht; wird vom kapitalistischen System aufs Übelste ausgebeutet; liebt und wird geliebt von einem Mann, der ihr nicht alles sagt; und erfährt, dass Macht viele Menschen blind macht. Zwar gibt es noch ein paar Wenige, die an sie glauben – wirklich helfen können sie ihr aber auch nicht. Geld und Macht siegen.

Antje Rávik Strubel hat zweifellos auf kunstvolle Weise viele der Herausforderungen unserer Gesellschaft (nur der Klimawandel fehlt – oder nicht?) aufgezeigt und jedem der Abschnitte eine eigene Sprache gegeben – wenn auch nicht immer eine schöne wie ich finde.
Wäre das Ganze nun spannend geschrieben, hätte es für mich vielleicht ein Lieblingsbuch werden können. Stattdessen taucht als wiederkehrende Erscheinung eine blaue Frau (Adina?) in kurzen Abschnitten auf, die geheimnisvolle und rätselhafte Sätze von sich gibt (manche sind sogar recht gut ), deren Sinn sich auch bis zum Ende nicht erschließt. Adinas Geschichte verläuft weitgehend handlungsarm und erzählt meist über ihr Be- und Empfinden, was stellenweise auch gut gelungen ist ebenso wie die Darstellung ihres geliebten Leo. Doch alles in allem wurde es für mich zunehmend zäher und langweiliger und ich war froh, als ich die letzte Seite gelesen hatte. Vielleicht bin ich einfach nicht schlau genug für solch ein Buch; aber sollte gute Literatur nicht auch schön zu lesen sein? Beispielsweise wie Dunkelblum von Eva Menasse oder Melnitz von Charles Lewinsky, beide ebenfalls in diesem Jahr neu erschienen.

Cover des Buches Wenn ich wiederkomme (ISBN: 9783257071702)

Bewertung zu "Wenn ich wiederkomme" von Marco Balzano

Wenn ich wiederkomme
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Ein Buch über die Sklaverei unserer Zeit und ihre Folgen - billige Pflegekräfte aus dem Ausland.
Folgen der modernen Sklaverei

Auf der ganzen Welt verlassen Frauen ihre Familien um Geld zu verdienen, damit ihre Kinder eine bessere Zukunft haben sollen. Doch um welchen Preis? Von einer dieser Frauen und ihrer Familie handelt Marco Bolzanos neues Buch, und es macht deutlich, welche Bürde auf solchen Familien lastet.

Daniela aus einem kleinen Dorf in Rumänien verschwindet ohne jemandem Bescheid zu sagen buchstäblich bei Nacht und Nebel nach Italien, um sich dort wie viele ihrer Landsfrauen eine Arbeit als Pflegerin zu suchen, damit sie ihren Kindern ein Studium finanzieren kann. Nur einen Brief hinterlässt sie für den zwölfjährigen Manuel und die 20jährige Angelica und so versuchen sie sowie ihr Vater und die Großeltern, ihr Leben so gut wie möglich weiterzuleben.

Erzählt wird aus den Perspektiven Danielas sowie der Kinder, und so unterschiedlich diese auch sein mögen, ist schnell klar, dass alle sehr unter der Situation zu leiden haben. Als der mittlerweile 16jährige Manuel einen schrecklichen Unfall erleidet, ist Daniela sofort an seiner Seite, voller Schuldgefühle und schlechtem Gewissen, das durch die Distanz zu ihrer nunmehr 24jährigen Tochter noch verstärkt wird.

Marco Bolzano macht mit den unterschiedlichen Sichtweisen deutlich, welche Probleme durch die Entscheidung Danielas entstanden sind und was diese Arbeit in der Ferne für Alle bedeutet. Manuel, mit 12 Jahren noch ein Kind, fehlt die ihn unterstützende und liebende Mutter am meisten; als sein Großvater stirbt, der einzig verbliebene Vertraute, bricht ihm sein letzter Halt weg. Daniela hingegen, die in der Fremde in einer Art modernem Sklaventum lebt und daran fast zugrunde geht, erwartet dafür zumindest in gewisser Weise eine Form der Dankbarkeit, die ihr jedoch verwehrt wird. Zu stark ist das Gefühl der Kinder, verraten worden zu sein; zu groß der Abstand geworden in den Zeiten zwischen ihren jährlichen Besuchen; zu erdrückend das Schweigen über die Dinge, die gesagt werden müssten. Und Angelica findet sich mit 20 Jahren ungefragt in der Rolle einer Erziehungsberechtigten wieder, in der sie sich nicht sieht, die sie aber dennoch versucht auszufüllen; einer Rolle, der sich der Vater verweigert und stattdessen davor flüchtet.

Es ist ein belastendes weil realistisches Szenario, das hier dargestellt wird; insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass dieser Exodus von Frauen, die ihre Familien hinter sich lassen, um ihnen eine bessere Zukunft zu bieten, noch immer alltäglich ist und vermutlich so bald kein Ende finden wird. Nicht nur in Italien – überall auf der Welt, auch bei uns.

Cover des Buches Besichtigung eines Unglücks (ISBN: 9783895611575)

Bewertung zu "Besichtigung eines Unglücks" von Gert Loschütz

Besichtigung eines Unglücks
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Wie der Zufall die Menschen verbindet oder auseinanderreißt - klug konstruiert, vielleicht manchmal zu sehr.
Von den Zufällen des Lebens

Kurz vor Weihnachten 1939 kommt es vor dem Bahnhof Genthin zum schwersten Zugunglück der deutschen Geschichte. Ein D-Zug rast mit voller Geschwindigkeit auf einen anderen, stehenden D-Zug – offiziell gibt es mindestens 196 Tote.
70 Jahre später recherchiert der Journalist Vandersee, der nach diesem Unglück in Genthin geboren wurde, zu diesem Geschehnis und ihm wird klar, dass seine Mutter Lisa, damals ein junges Mädchen, die Folgen miterlebt haben musste. Bei der Durchsicht der Unterlagen fällt ihm der mysteriöse Fall Carla Finck auf, die bei dem Unfall schwer verletzt wurde und sich im Krankenhaus Carla Buonomo nannte. Ihr Begleiter, der im Zug starb, hieß Giuseppe Buonomo und war Neapolitaner, beide waren auf dem Weg von Berlin nach Düsseldorf. In welchem Verhältnis die Beiden zueinander standen, ist noch immer unklar und so forscht Vandersee weiter, was es mit der falschen Namensnennung von Carla Finck auf sich hat. Er findet heraus, dass sie Halbjüdin war und mit Richard Kuiper verlobt, einem Juden aus Neuss. Was machte sie dann mit Buonomo in Berlin?

Obwohl der Titel suggeriert, dass es hier vorrangig um das Eisenbahnunglück geht, nehmen die Geschichten um Carla Finck und Lisa, der Mutter Vandersees, annähernd den gleichen Raum ein. Wie der Autor selbst nimmt sein Alter Ego die wirklichen Vorgaben (den Aufeinanderprall, die Existenz Carla Fincks, ihres Verlobten und Giuseppe Buonomos sowie die Vorkommnisse im Krankenhaus) neben den für uns fiktiven, aber für ihn realen Personen als Grundlage, die damaligen Geschehnisse zu rekonstruieren. So entsteht eine minutiöse Beschreibung, wie es zu dem Aufprall kam, während Carlas und Lisas Leben meist in Umrissen dargestellt werden. Kein Wunder wenn man bedenkt, dass die Faktenlage hier eher dürftig ist. Doch auf beeindruckende Weise ergänzt er die ihm vorliegenden ‚Tatsachen‘ mit Möglichkeiten, die so wahrscheinlich wirken, dass sie sich wie selbstverständlich als das wirklich Geschehene lesen.

Ausgangspunkt des Ganzen ist das Unglück, von dem ausgehend ein Teil von Carlas Leben erzählt wird und daran anschließend Lisas, die, nicht ganz unwahrscheinlich, Carla begegnete. An weiteren losen Fäden, die an diesen und Vandersees eigener Geschichte hängen, gibt es zudem eine Reihe zusätzlicher Episoden: Hedwig Vorbeck, die die Toten und Verletzten zur Klinik brachte, wo sie ihr Mann als Arzt versorgte; Stolzenburgs Geschichte, der Ex-Mann von Lisas Tante sowie Der Eisfleck und viele mehr. Auch wenn Gert Loschütz diese ganzen Begebenheiten kunstvoll miteinbindet, finde ich den dazu genötigten Zufall doch etwas bemüht, der alles miteinander verbindende rote Faden ist gegen Ende kaum noch sichtbar.

Hervorzuheben ist die Sprache des Autors, die zwar eher sachlich-kühl, fast schon wie in einer Dokumentation wirkt, aber ungemein detailliert und bildhaft ist, sodass man dem Geschehenen und den Figuren trotzdem nahe kommt.

Kein Winter wie aus dem Reiseprospekt, sondern ein dunkler, bedrückender, nach hinten verlegter Totensonntag.

Eine ungewöhnliche Lektüre, bei der Wahrheit und Fiktion nicht zu unterscheiden sind.

Cover des Buches Es ist immer so schön mit dir (ISBN: 9783498001988)

Bewertung zu "Es ist immer so schön mit dir" von Heinz Strunk

Es ist immer so schön mit dir
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Eine ganz andere Liebesgeschichte, bei der einem das Lachen öfter im Halse steckenbleibt. Typisch Strunk 😉!
Eine toxische Liebe

Heinz Strunks neues Buch ist eine Liebesgeschichte. Doch wer Liebesgeschichten liest, um in romantischen Gefühlen zu schwelgen und ab und zu vor Rührung eine Träne verdrücken möchte, sollte dieses Buch sicher nicht lesen. Große Gefühle sind zwar durchaus hier zu finden, aber eher aus den Bereichen Gier, Trieb und Abscheu – von Romantik keine Spur.

Im Mittelpunkt steht ein Mitvierziger, der vom Leben desillusioniert ist und nur darauf wartet, dass die Zeit vergeht. Vor allem die Wochenenden.

Man könnte das kommende und vergangene und das vorvergangene und das Wochenende vor einem Jahr übereinanderlegen, käme in etwa immer das Gleiche bei raus. So ist das mit dem Leben und den Wochenenden: Die Kreise werden kleiner, sie nähern sich dem Radius null.

Die Beziehung mit seiner Freundin Julia ist nur noch Gewohnheit.

… ihre Gegenwart hat etwas geradezu Sedierendes,

Doch als er auf einer Premierenveranstaltung die deutlich jüngere, sehr schlanke und schöne Vanessa kennenlernt, ist es um ihn geschehen. Er beendet die Beziehung mit Julia und stürzt sich Hals über Kopf in die neue Liebe. Aber Vanessa ist nicht nur schön, sondern auch sprunghaft, reizbar, unberechenbar – das Zusammensein mit ihr wird zu einem ständigen Balanceakt, immer das Richtige zu sagen und zu tun. Obwohl er weiß, dass sie ihm nicht gut tut, ist er nicht in der Lage sich von ihr zu trennen.

Wie Heinz Strunk das beschreibt, die Gedanken und das Handeln dieses stellenweise selbstmitleidigen Mitvierzigers, ist entlarvend und amüsant, aber auch deprimierend, traurig und nervig. Mit einem solchen Menschen möchte man nicht befreundet sein und wenn Heinz Strunk nicht ein so unglaublich guter Beobachter wäre mit der Gabe, dies präzise und ebenso schräg wie schwarzhumorig zu beschreiben, würde es vermutlich schwierig werden, das Buch fertig zu lesen. Aber wegen Sätzen wie den Folgenden liest man immer weiter bis zum glücklicherweise nicht so bitteren Ende.

Die Schönen tun sich zusammen. Die Dicken tun sich zusammen. Die Krummen tun sich mit den Schiefen zusammen. Und ­ei­ne Jüngere ist noch nie wegen einer Älteren sitzengelassen worden.
Manchmal, wenn sie in der Stadt spazieren gehen und ihr Spiegelbild zufällig in einem Schaufenster aufblitzt, zuckt er regelrecht zusammen: Wie sehen die (wir) denn aus! Provinzler, die am Wochenende aus den umliegenden Speckgürteln gekrochen kommen, Eltern, deren Kinder gerade das Haus verlassen haben und die nun endlich wieder tun und lassen können, was sie wollen, aber verlernt haben, wie das geht: staunende, ratlose Witzwesen, die durch die aufgeladene Nacht irren. Je aufgeladener die Nacht, desto stärker entladen sich die Witzwesen.

Viele ältere und alte weiße Männer haben es nicht leicht – nach dem Lesen dieses Buches weiß man warum 😉

Cover des Buches Rauer Himmel (ISBN: 9783948392383)

Bewertung zu "Rauer Himmel" von Franck Bouysse

Rauer Himmel
Xirxevor 2 Jahren
Kurzmeinung: Spannende und düstere Geschichte in einer düsteren Landschaft - grandios geschrieben!
Wo man der Natur näher ist als den Menschen

Die Cevennen sind eine karge, dünn besiedelte Gegend, die den Menschen sehr viel abverlangt um zu überleben. Gus ist hier geboren und aufgewachsen, hat den Hof seiner Familie übernommen und spricht mehr mit seinen Tieren als mit Menschen. Seit dem Tod seiner Eltern, die ihn ohne Liebe aufwachsen ließen, ist der einzige Mensch, der ihm näher steht, sein Nachbar Abel; auch er allein und bereits deutlich älter als Gus. Man hilft sich gegenseitig, trinkt ein oder auch mehrere Gläser Wein und versteht sich ohne viele Worte. Als an einem Wintertag Gus auf der Jagd aus der Gegend um Abels Hof Schüsse und Schreie vernimmt und Blutspuren findet, ist nichts mehr wie zuvor.

Auch wenn vergleichsweise wenig geschieht und sich der Großteil des Erzählten um Gus' tagtäglich wiederkehrenden Ablauf und seine Gedanken und Erinnerungen dreht, entwickelt sich unterschwellig eine angespannte Atmosphäre, in der jederzeit etwas hochgehen könnte. Dem gegenüber steht die Leere und Düsternis dieser unwirtlichen Landschaft, der sich die wenigen dort Lebenden angepasst haben.

Eine eigenartige Region voller Grobiane und wortkarger Menschen. Wie könnte es auch anders sein in dieser Gegend, wo sich noch nicht einmal der Leibhaftige die Mühe machte, die Seelen auszusuchen, und zugriff, ohne sich darum zu scheren, mit der Konkurrenz zu verhandeln.

Franck Bouysse hat dafür eine selten einprägsame Sprache gefunden, die einem die Menschen und die Gegend dort lebendig werden lassen; voller Poesie aber auch mit einer Direktheit, die stellenweise nur schwer zu ertragen ist.

Hier in der Gegend sterben die Familienlinien alle eine nach der anderen aus, wie Kerzen, die kein Wachs zum Brennen mehr haben. So ist das mit dem Docht, er ist gar nichts, wenn kein Wachs mehr um ihn herum ist, eine Art menschliche Paste, sodass die Dunkelheit jeden Tag ein wenig mehr an Boden gewinnt;

Es gab dort auch Farben, die die Jahreszeiten anzeigten, Tiere und dann die Menschen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, wie Kinder, die das Eisen ihrer Träume schmieden, mit der gleichen Auflehnung im Herzen, den gleichen zu bestreitenden Kämpfen, die die vergänglichen Siege und die ewigen Niederlagen ausmachen.

Am schwersten zu ertragen war das Blut, das unaufhörlich aus den Schnittwunden spritzte, wie Öl, das sich aus durchtrennten Schläuchen ergießt.

Nicht Alles wird bis zum Ende des Buches restlos geklärt sein, es bleiben eine Reihe offener Fragen wie im wirklichen Leben. Auf Vieles wird es nie eine Antwort geben.

Es ist der erste Roman dieses in Frankreich sehr erfolgreichen Schriftstellers, der ins Deutsche übersetzt wurde. Mögen noch viele Weitere hinzukommen.

Über mich

Ich lese und lese und lese.... und trotzdem gibt es immer noch viel zu viele Bücher die ich noch nicht gelesen habe. Übrigens, die Bücher im Regal 'bookcrossing' sind alle zu haben (sofern sie noch bei mir sind. Genaueres auf der angegebenen Website oder kurze Nachfrage). Mail genügt.

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