Bitte verzeiht mir den etwas prompten Einstieg in die Buchbesprechung, aber ich muss gleich zu Beginn etwas loswerden: Jess Kidd könnte man auf literarischer Ebene, hinsichtlich der Art und Weise des Storytellings, als vollkommen durchgeknallt bezeichnen, denn ihre Romane sind nichts anderes als ausdrucksstarke, eigenwillige, unvergleichliche (Genre-)Grenzgänger.
Ich bin immer wieder verwundert/erstaunt, wie scheinbar mühelos sie die Komponenten und Strukturen einzelner Gattungen zusammenfügt, ihrer Linie treu bleibt, den Leser mit inhaltlicher und vor allem sprachlicher Finesse überzeugt und zu alldem, auch noch in höchstem Maße unterhaltsam ist. Um eine derart außergewöhnliche, vielseitige Autorin vor die Linse zu bekommen, muss man - aus Erfahrungswerten - verdammt lange suchen. Kein Wunder, dass ihre Werke seitens der Presse/Literaturkritiker viel Zuspruch und Anerkennung erleben.
Dieser Sachverhalt trifft nicht nur auf jeglichen Vorgänger der Autorin, sondern auch auf ihren neuesten Geniestreich - „Die Ewigkeit in einem Glas“ - zu: Abermals reißt sie sprachliche Barrieren ein, definiert ihren Sound neu und balanciert auf dem äußerst schmalen Grat der (Sub-)Genres. Nicht nur das: Sie springt regelrecht zwischen den Klassifizierungen. Ihre Story ist eine ausgewogene Mischung aus History-Crime, Thriller, Horror, Ghost-Story, Steam-Punk und Dramaturgie, gepaart mit einem kräftigen Schuss Mystery! Sie ist außerdem brutal, dennoch zärtlich im Audruck, anspruchsvoll und simple gleichermaßen, schlicht und hochkomplex. Ein gewaltiges Feuerwerk aus gegensätzlichen Komponenten, in bester Manier vereint. Eine regelrechte Oxymeron-Schlacht!
Das Ganze hat sie aber nicht nur ihrer schriftstellerischen Qualität, bzw. ihrer enormen Auffasungsgabe zu verdanken, sondern auch der hervorragenden Zeichnung der Charaktere, der Dialoggestaltung, sowie der authentischen Darstellung ihrer viktorianisch-angehauchten Atmosphäre.
Willkommen im versifften 19. Jahrhundert Londons, dort, wo die Rinn- und Bordsteine gut gefüllt sind, bestialische Gerüche durch die Seitenstraßen wehen, wo Marktschreier laut werden, wo der Genuss von Tabak und das Anstecken einer fein geputzten Pfeife noch zum guten Ton gehört, wo Tavernenlichter die Nacht lang brennen, wo sich die feine Gesellschaft zur Korruption verleiten lässt, wo Gold- und Silbermünzen den Besitzer wechseln, bemannte Kutschen durch die Gegend ziehen, wo sich Unwahrheiten wie ein heimlich gelegtes Lauffeuer verbreiten, wo Dreck und Blut an den Sohlen klebt, wo tote Babys in Einmachgläser wohnen, für die Ewigkeit konserviert werden, genau dort, wo sich choleraverseuchte Leichen stapeln, wo Aussteiger, Bestien und Mörder umherstreifen, wo Kreaturen sich zum „Showdown“ treffen.
„London ist wie ein schwieriger OP-Patient; so vorsichtig das Skalpell auch angesetzt wird, es kann Gott weiß was hervorbrechen. Gräbt man zu tief, gibt es Überschwemmungen oder es kommen Leichen ans Licht, ganz zu schweigen von tödlichen Miasmen und augenlosen Ratten mit ellenlangen Zähnen.“ (Die Ewigkeit in einem Glas - Buchseite 26/27)
Inmitten dieser (gut) betuchten Gemeinschaft, befindet sich außerdem Jess Kidds Protagonistin: Bridie Devine. Der charakteristische Geist der Erzählung, Dreh- und Angelpunkt der Erzählung, Kopf der Geschichte. Rauchend. Vorlaut. Charmant. Höchst eigenwillig. Unverwechselbar.
Die Gute muss über diesem Entwurf eine halbe Ewigkeit gebrütet haben, so ausgefeilt, kompakt und manifest fühlt sie sich an, so phantastisch und überaus einzigartig scheint diese Figur in ihrer Gesamtheit konstruiert worden zu sein. DAS ist aber nur der kleiner Teil einer ganz großen, hervorragenden Konstellation.
Es lässt sich außerdem beobachten, dass die Autorin einen starken Hang dazu hat, Protagonisten mit bereits verstorbenen Charakteren kommunizieren zu lassen. (Dies ist auch bei den beiden Vorgängern der Fall!) Auch hier wieder deutlich erkennbar. Was es damit auf sich haben könnte, lässt sich höchstens erahnen (Möglicherweise ist es auf die spirituelle Neigung der Autorin zurückzuführen?!); die amüsanten Aspekte dieser Form des Austausches sind aber kaum zu übersehen/leugnen!
Fazit:
„London wird überflutet mit frisch Ermordeten. Stündlich tauchen Leichen auf, hocken mit durchgeschnittener Kehle in Hauseingängen, liegen mit eingeschlagenem Schädel in Gassen. Halb verbrannt in Kaminen und erdrosselt auf Dachböden. In Koffer gestopft oder scharenweise in der Themse treibend, mit aufgeblähten Leibern“ (Textauszug)
Man möchte am liebsten zum Markierstift greifen und jede erdenkliche Stelle in Jess Kidds Roman hervorheben, derart sensationell sind die Sätze gebaut; bedacht in der Wortwahl, äußerst charmant in der Ausführung. Ein Text, vor dem man allemal den sprichwörtlichen Hut ziehen müsste!? (Und das ist in diesem Segment überaus selten der Fall!) Aber nicht nur die inhaltlichen, gut strukturierten Komponenten können sich mehr als sehen lassen, auch die Cleverness, mit der die Erzählung aufgebaut und transportiert wurde, ist in der gehobenen Klasse anzusiedeln: Eine sprachlich hervorragende, perfekt getimt Story eben.
Zusammenfassend: Jess Kidd lässt sich weder inhaltlich, sprachlich, noch stilistisch, mit irgendeiner anderen Autorin vergleichen. Ihre Erzählungen sind außergewöhnlich, klug konzipiert, wahnsinnig atmosphärisch und mit einem stets wachsamen Blick für Charakterentwicklungen ausgestattet.
Was gibt es da noch zu verlauten?
Ich bin von dieser Story wahrlich begeistert!!!