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amara5

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Cover des Buches Die Hoffnung der Chani Kaufman (ISBN: 9783257072556)

Bewertung zu "Die Hoffnung der Chani Kaufman" von Eve Harris

Die Hoffnung der Chani Kaufman
amara5vor 9 Tagen
Kurzmeinung: Bewegender, authentischer & trotz ernsten Themen mit Humor versehener, tiefer Einblick in die sehr strengen Regeln einer orthodoxen Kehilla.
Regeln der Kehilla

Mit dem packenden Roman „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ setzt Autorin Eve Harris die Geschichte von Chani in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde fort – bewegend, authentisch und teils trotz ernsten Themen mit einer Brise Humor zeigt sie einen tiefen Einblick in die sehr strengen Regeln einer orthodoxen Kehilla und zeichnet ein authentisches Bild voller starker Frauen.

Chani und ihr Ehemann Baruch sind glücklich verheiratet, leben nach den Vorgaben und Traditionen ihrer jüdischen Gemeinde und Baruch möchte Rabbiner werden. Zu den von den Männern vorgegebenen Regeln gehört, dass die Frau dem Mann Kinder schenken muss und die Empfängnis muss in der „reinen Zeit“ passieren. Doch Chani hat von Spezialisten erfahren, dass ihr Eisprung noch in der unreinen Phase entsteht und das gläubige Paar steht vor einer großen Gewissensfrage. Chanis schwierige Schwiegermutter wittert schon die Chance, die Zwei auseinanderzubringen und schmiedet Intrigen.

In weiteren Erzählsträngen schildert Harris ergreifend das turbulente Leben von Rivka, ihrem Mann Chaim und den Söhnen: Rivka hat die orthodoxe Gemeinde ohne ihre Kinder verlassen, was zu großen Auswirkungen geführt hat – Chaim muss sich scheiden lassen und eine neue Frau finden, während Rivka und ihr kleinster Sohn beschimpft und bedroht werden. Der älteste Sohn Avromi schlittert währenddessen in eine tiefe Glaubenskrise, möchte das moderne Leben mit Frauen in Einklang mit den rigiden Regeln bringen und nimmt sich eine Auszeit in Tel Aviv.

Der gelungene, feinfühlige Roman glänzt durch seine emotionale Bandbreite an menschlichen Gefühlen – die Protagonisten hoffen, zweifeln, beten und manche Frauen brechen selbstbestimmt aus den starren Zwängen aus. Mit vielen jiddischen Begriffen, die im hinteren Glossarteil erläutert werden, zeichnet Harris ein tiefgreifendes, dichtes Bild vom traditionellen Leben in einer orthodoxen Glaubensgemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen. Eine lesenswerte, flüssig geschriebene Fortsetzung, die auch ohne den ersten Teil zu kennen verständlich ist und tief in den Lesesog zieht.

Cover des Buches James (ISBN: 9783446279483)

Bewertung zu "James" von Percival Everett

James
amara5vor 9 Tagen
Kurzmeinung: Kluges, lakonisches & präzise durchdachtes Meisterwerk, das bewegend die Stimme des Sklavenjungen Jim (James) in den Vordergrund rückt.
Grandiose Hommage

Der preisgekrönte Autor Percival Everett erzählt die „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ raffiniert neu und erschafft damit ein kluges, präzise durchdachtes Meisterwerk, das bewegend die Stimme des Sklavenjungen Jim (James) in den Vordergrund rückt – dabei verwebt Everett brutale Szenen mit ausgeklügelter Lakonie.

Die Eckpfeiler des Romans von Mark Twain aus dem Jahr 1884 stimmen auch in „James“ überein – voller Abenteuer ziehen Jim und Huck kurz vor dem Bürgerkrieg auf dem wilden Mississippi ihre verschlungenen Bahnen, aber eindringlich erzählt wird die Geschichte von Jim, der der barbarischen Sklaverei zwar entflohen ist, aber seine Frau und Tochter zurücklassen musste und ständig in Lebensgefahr schwebt. Huck wird von seinem Vater misshandelt und ist vor dieser häuslichen Gewalt ausgerissen. Jim ist ein sehr schlauer, belesener Kopf, der die Welt philosophisch betrachtet und seine Gedanken schriftlich festhält. Vor Weißen stellt er sich mit einem Dialekt absichtlich dumm, um nicht aufzufallen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn es drauf ankommt, kann er Gewalt anwenden, auch wenn er sonst eher mit Empathie ausgestattet ist. Er wechselt permanent zwischen seinen zwei Seiten, die auch an den zwei Namen konkretisiert wird.

„Ich werde selbstverständlich empört sein. Aber mich interessiert, wie diese Zeichen, die ich auf dieses Blatt kratze, überhaupt etwas bedeuten können. Wenn sie eine Bedeutung haben können, dann kann auch das Leben eine Bedeutung haben, und dann kann auch ich eine Bedeutung haben.“ S. 62

Percival Everett hat mit „James“ nicht nur eine grandiose Hommage an Mark Twain sowie weiteren literarischen Klassikern, sondern auch eine schlaue und erschütternde Betrachtung auf Sklaverei, Rassismus und Ungerechtigkeit entworfen – Jims ergreifend-fesselnde und zugleich schwarzhumorige Reflexionen, Beobachtungen und Schilderungen werden zwar im Roman zeitlich um Jahre zurückversetzt, sind aber zeitgenössischer denn je. Mit Chuzpe und Mut reagiert Jim auf die gefährlichen Hindernisse der Reise wie Schlangenbisse, Betrüger oder Sklavenjäger und mit viel Cleverness meistert er eine packende Episode bei den Blackface-Sängern.

Der intelligente Roman mit viel Gesellschaftskritik endet mit einem fulminanten, überraschenden Finale und steckt auch zwischen den Zeilen voller Anspielungen auf literarische Figuren sowie unseren Interpretationen als Leser. Ein scharfsinniges, intensives Meisterwerk auf mehreren Ebenen!

Cover des Buches Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte? (ISBN: 9783466348060)

Bewertung zu "Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?" von Casy M. Dinsing

Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?
amara5vor 4 Monaten
Kurzmeinung: Lesenswerter, humorvoller & fundierter Ratgeber mit vielen hilfreichen Tipps & Lösungsansätzen gegen den Beziehungskollaps im Alltag.
Wege zu Zweit

Die psychologische Beraterin Casy M. Dinsing erläutert in ihrem fundierten Ratgeber „Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?“ auf unterhaltsame Weise auf knapp über 200 Seiten typische Stolperfallen, in die eine Beziehung im Alltag schlittert, und wie man diese gemeinsam überwinden kann, bevor es zu einer endgültigen Trennung kommt.

In zahlreichen kompakten Kapiteln bündelt Dinsing eine ganze Bandbreite an Themen (überwiegend aus der weiblichen Perspektive) wie Arbeitsteilung, Ordnung, Eifersucht, Ängste, Selbstwert, Einkommen, Herkunftsfamilie und einiges mehr – dabei flechtet sie kurze, spannende Fallbeispiele aus ihrer Praxis und am Ende jedes Themenbereiches hilfreiche „Drei Fragen, die dich weiterbringen“ in einen Kasten mit ein. Stets liegt der interessante Augenmerk auf einer direkten Kommunikation, ehrlichen Selbstreflexion und auf einer Spiegelung der verschiedenen Sicht-/Denkweisen, was zu einleuchtenden Erkenntnissen führt, auch wenn die ein oder andere Stilisierung zu klischeehaft erscheinen mag. Sehr faszinierend sind Dinsings Schilderungen zu Mustern, Rollen und Glaubenssätzen in einer Beziehung gelungen – was bringen wir aus unserer Ursprungsfamilie mit und in welche wechselnden Rollen hüpfen wir in einer Beziehung?

Die Autorin hat einen sehr präzisen, humorvollen Schreibstil und ein großes psychologisches Fachwissen in Sachen Beziehungen, was die angesprochenen, teils sehr ernsten Themen sehr anschaulich, verständlich und locker lesen lässt. Casy M. Dinsing, die nebenbei noch einen empfehlenswerten Youtube-Kanal names „Better Call Casy“ betreibt, ist eine kluge Analystin von zwischenmenschlichen Verhaltensweisen in einer Paarbeziehung und sorgt in ihrem lesenswerten Ratgeber für einige Aha-Momente, die sie kurz und prägnant auf den Punkt bringt. Am Ende des Buches befindet sich noch ein Online-Zugang zu weiterführenden Übungsmaterialien, wobei der Ratgeber alleine schon sehr viele hilfreiche Tipps und Lösungsansätze gegen den Beziehungskollaps im Alltag bereithält, in denen sich sicherlich einige Leser*innen wiederfinden werden und die den eigenen Blickwinkel um den des Partners erweitern – damit der Weg zu Zweit respektvoll und harmonisch weitergeht.

Cover des Buches MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise? (ISBN: 9783829719711)

Bewertung zu "MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?" von

MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?
amara5vor 5 Monaten
Kurzmeinung: Gelungener, inspirierender & facettenreicher Trendguide mit 40 ausgesuchten Reisezielen – wunderschön bebildert & mit zahlreichen Tipps.
Qual der Wahl

Im neuen MARCO POLO Trendguide 2024 „Wohin geht die Reise?“ werden auf knapp 200 Seiten überraschende Reiseziele zum (Wieder-)Entdecken vorgestellt – wunderschön-modern bebildert und präzise strukturiert werden nach den vier Kriterien Noch unentdeckt, Neuer Glanz, 2024 Erleben und Nachhaltig 30 faszinierende Ziele in Deutschland/Europa sowie zehn exotische Ziele weltweit vorgestellt.

Im handlichen und haptisch hochwertigen Format lädt der Trendguide ein, bekannte Ziele neu zu entdecken oder zeigt noch eher unentdeckte Reiseziele wie die schöne Insel Poel, das schweizerische Biel, die malerische Basilikata in Italien oder die traumhaften britischen Scilly-Inseln auf. Dabei helfen vorangestellte Register und Landkarten zur genauen Orientierung und nach jeder Vorstellung gibt es hilfreiche weiterführende Informationen zur Anreise, Reisezeit und Budgetplanung in einem kleinen Kasten. Die Vorstellungstexte sind flüssig und leicht verständlich geschrieben sowie in To Do und To See mit überraschenden Tipps versehen.

Auch kommen kleine Anekdoten zu den Städten wie der Hollywooddreh von Tarantino in Görlitz oder Darmstadts Namensinspiration für einen Planeten sowie eines chemischen Elementes nicht zu kurz. Darüber hinaus finden auch Abenteuer-Outdoor-Fans ihre Traumziele – der vorgestellte Transcaucasian Trail zwischen Armenien und Georgien, das Sharri-Gebirge zwischen Kosovo und Mazedonien sowie der kroatische Camino Krk laden zu traumhaft-außergewöhnlichen Wanderungen ein, während verschiedene märchenhafte Seen und Meere zum Baden motivieren. Und wieder stechen die grandiosen Bilder und das tolle Layout des kompakten Reiseführers ins Auge.

Ein sehr gelungener, inspirierender und facettenreicher Trendguide, der Städte, Inseln, Länder und Natur harmonisch verbindet und der dazu einlädt, immer wieder durchgeblättert zu werden, um sich traumhaft-frische Ziele für das kommende Jahr auszusuchen – die Qual der Wahl bleibt bei diesen 40 angesagten Trendzielen beim Leser.

Cover des Buches Diese Schuld ist nicht meine (ISBN: 9783863747008)

Bewertung zu "Diese Schuld ist nicht meine" von Ulrich Kohler

Diese Schuld ist nicht meine
amara5vor 5 Monaten
Kurzmeinung: Faszinierender, hoffnungsvoller & verständlicher Ratgeber über die Mechanismen unbewusster Schuld & einer Methode zur effektiven Auflösung.
Der unsichtbare Rucksack

Wie enttarnen und erlösen wir unbewusste Schuldgefühle im Körper und Herz? Heilpraktiker Ulrich Kohler beschäftigt sich mit eigener Naturheilpraxis nach eigenen Schlüsselerlebnissen schon seit vielen Jahren mit dieser Thematik und hat eine eigene patentierte Methode zum Auflösen dieser unbewussten Schuldgefühlen entwickelt. Auf über 300 Seiten stellt er nun diese spannende LösUS®-Technik Schritt für Schritt neben vielen, gut gegliederten und recherchierten Fachinformationen zum Thema Schuld und Befreiung in seinem Ratgeber-Sachbuch „Diese Schuld ist nicht meine“ vor.

Wie ein unsichtbarer, schwerer Rucksack kann unbewusste Schuld über viele Jahre hinweg den Körper und die Psyche eines Menschen schwer belasten und sogar schon in der Kindheit oder bei den Vorfahren entstehen – im ersten großen Teil des Ratgebers erläutert Ulrich Kohler präzise und packend, wie sie im Gegensatz zu allgemeiner Schuld durch ungeheilte, leidvolle Ereignisse entsteht und sich auswirken kann, bevor er seine Methode vorstellt. Es geht um Selbstvergebung, das Aussprechen der adäquaten Schuld-Entnahme-Sätze in einem Ritual und das bewusste Fühlen und Verarbeiten der damit einhergehenden, belastenden Emotionen, die schon lange verkapselt waren. 

Ulrich Kohler lässt neben den zahlreichen fundierten Informationen, die Zeit und Aufmerksamkeit beim Lesen fordern, auch einige bewegende Praxisbeispiele miteinfließen, die nochmal verdeutlichen, wie die unbewusste Schuld das Leben beschwert und wie sie eventuell schnell und effektiv aufgelöst werden kann – in Selbstanwendung oder mit Hilfe eines LösUS®-Therapeuten. 

Ein faszinierender, hoffnungsvoller und gut verständlicher Ratgeber mit verblüffenden Vorstellungen verschiedener Mechanismen von unbewusster Schuld, die zur Selbstsabotage, ständigen Ausgleichsversuchen sowie Burn-Out und ungesunden Glaubenssätzen führen können und einer interessanten Methode, die hoffentlich vielen Menschen zur schnellen Erleichterung verhilft und viele wichtige Anregungen zu unbewussten, psychologischen Abläufen enthält.

Cover des Buches Kajzer (ISBN: 9783552073395)

Bewertung zu "Kajzer" von Menachem Kaiser

Kajzer
amara5vor 5 Monaten
Kurzmeinung: Ergreifende & scharfsinnige Suche nach einem Familienerbe, die klug über Erinnerungen & Narrative über das eigene Leben reflektiert.
Der Erinnerungstourist

Mit seinem Debüt „Kajzer“ geht der kanadische Journalist und Autor Menachem Kaiser auf komplexe, persönliche und tiefgreifende Suche nach seiner Familiengeschichte und einem von den Nationalsozialisten enteigneten Haus in Sosnowiec im heutigen Polen. Dabei öffnet Kaiser Stück für Stück das packende Abenteuer der Erinnerung und des Erzählens, denn seine mit vielen Überraschungen gespickte Suche verläuft verschlungen und es ergeben sich immer weitere Geschichten hinter der eigentlichen Erzählung, die zu einem facettenreichen und packenden Gesamtnarrativ werden.

Menachem hat seinen Großvater, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, durch dessen frühen Tod nie kennengelernt und auch mit seinem Vater wurde nie über die Geschichte gesprochen. Nur ein enteignetes Haus in Schlesien bleibt noch als symbolische Tür zur Erinnerung – jahrelang hat der Großvater darum gekämpft, das Eigentum zurückzubekommen, ist aber gescheitert. Nun macht sich Enkel Menachem mit Hilfe einer Anwältin als sogenannter Erinnerungstourist auf die abenteuerreiche Spurensuche des jüdischen Erbes seiner Ahnen in Polen und entdeckt dabei im Dickicht von unerwarteten Begegnungen, Bürokratie, Unausgesprochenem und weiteren historischen Plündereien sowie Mysterien viele weitere Geschichten und sogar einen unbekannten Verwandten, über die der Autor brillant reflektiert. Der Cousin seines Großvaters, Abraham Kajzer, war Holocaust-Überlebender und ein so faszinierender Vorfahre mit hinterlassenen Memoir-Aufzeichnungen, dass er Menachem zu einer eigenen Geschichte verknüpft, mit den Gemeinsamkeiten der Schatzsucher inspiriert. Dabei trifft er auch auf ominöse Verschwörungstheorien, die an Aktualität in der heutigen Zeit nicht an Brisanz verlieren und mündet schließlich in einer Erzählung des Verlustes, hinterfragt stets sein eigenes Handeln.

In vier Teilen erstreckt sich Menachems bewegende Suche über mehrere Jahre – trotz sehr ernstem Hintergrund erzählt der Autor mit satirisch-lakonischem Humor und spricht seine Leser*innen zwischendurch persönlich an, was seine klugen Gedanken zu Erbe, Erinnerungskultur, Familie und Verstrickungen sowie das Geschichtenerzählen an sich noch eindringlicher machen. Dabei webt er historische Eckpunkte, aber auch zahlreiche weitere Gedankengänge wie über Schatzsucher untertage in einem immensen Tunnelsystem ein.

Manchmal ergeben sich dadurch leichte Längen, aber insgesamt sind Kaisers Erkenntnisse ergreifend, philosophisch und scharfsinnig – kreisen sie über die menschliche Existenz und die Fähigkeit, sich durch Erinnerung und Familienerbe seine eigene, verschlungene Erzählung über das Leben zu erschaffen. Und hinter allem schwingt subtil das kollektive Traumata der Shoah mit. Ein nicht ganz einfaches, aber sehr kluges Sachbuch mit vielen Querverweisen und vielschichtigen Denkanstößen.

„Doch die meisten Geschichten in den meisten Familien sind nicht als Bewahrung von harten Fakten gedacht, oder man verlässt sich nicht darauf, sie sind als Bewahrung von weichen Fakten gedacht, von Gefühl, Narrativ, Identität, wer jemand war, und in der Folge, wer du bist. Sie erzählen keine historische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.“ S. 204

Cover des Buches Die Regeln des Spiels (ISBN: 9783446277540)

Bewertung zu "Die Regeln des Spiels" von Colson Whitehead

Die Regeln des Spiels
amara5vor 6 Monaten
Kurzmeinung: Whitehead lässt das düstere Harlem der 1970er-Jahre als facettenreiches Wimmelbild & verzweigtes Gesellschaftspanorama detailgenau aufleben.
Krummer Manhattan-Schiefer

Nach „Harlem Shuffle“ lässt der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead in seinem zweiten Teil der New-York-Trilogie das düstere Harlem der 1970er-Jahre als facettenreiches Wimmelbild und Gesellschaftspanorama detailgenau und teils satirisch überspitzt aufleben – dabei lässt er präzise und gekonnt neben der pulsierenden Popkultur und dem hartgesottenen Ganoventum auch die vielen ernsten gesellschaftspolitischen Themen wie Rassismus, Gewalt, Korruption, Armut und die geringen Aufstiegschancen der People of Color miteinfließen.

 „Die Regeln des Spiels“ besteht dabei aus drei unterschiedlichen Geschichten in verschiedenen Jahren der 1970er – der Einstieg erzählt nicht nur vom titelgebenden Räuber-und Gendarm-Kinderspiel Ringolevio, sondern auch wie Protagonist und selbstständiger Möbelverkäufer Ray Carney nach vier Jahren des rechtschaffenden Verkaufens im eigenen Laden zurück in die krumme Laufbahn als Hehler und somit in die eigenen Regeln des Hexenkessels Harlem schlittert. Seine Tochter will unbedingt zum ausverkauften Jackson 5-Konzert im Madison Square Garden – der äußerst korrupte Detective Munson verspricht ihm Karten, doch der Preis ist hoch und zieht einen gewalttätigen, lebensgefährlichen Trip durch Harlem mit sich, in dem zu dieser Zeit die Black Panthers, die Black Liberation Army, korrupte Polizisten und knallharte Gangster für unruhige Zeiten sorgen. Mit scharfsinnigen, lakonischen, treffsicheren und doppelbödigen Sätzen, für die Whitehead berühmt ist, beschreibt er atmosphärisch dicht und zeithistorisch authentisch ein Harlem, das brennt – im Inneren und im Außen, denn zahlreiche Häuser-Brandstiftungen sorgen für horrende Versicherungssummen, die weitergereicht werden.

Das zweite Kapitel lässt die Geschichte der Blaxploitation-Filme lebendig werden – Zippos Streifen „Codename: Nofretete“ wird in Carneys Laden gedreht und sorgt für viel Wirbel, als die bekannte Hauptdarstellerin und Exfreundin eines Gangsterchefs spurlos vom Set verschwindet. Carneys Kumpel und Ganovenfreund Pepper wird beauftragt, die Schauspielerin zu finden und gerät dabei in einen weit verzweigten Strudel von Gewalt in der Unterwelt. Hier sind besonders Whiteheads kluge Reflektionen zu Film und Kunst der Black Community hervorzuheben und Zippos Analogien zu Feuerlegen und Filmedrehen, aber auch die lebhaften Actionszenen sind filmreich sowie teils humorvoll präzise herausgearbeitet. Dieser schwarz-trockene und schlaue Humor lässt vor allem die Brutalität mancher Kampfszenen sowie die harten Umstände dieser Zeit in Harlem besser ertragen.

Im dritten und letzten Teil machen Carney und Pepper gemeinsame Sache, um einen gewissen Brandstifter unter den Abwicklern zu finden, der für einen schwer verletzten Jungen verantwortlich ist. Hier taucht Whitehead tief ein in soziologische und lokalpolitische Strukturen Harlems, das brennt und moralisch zerfällt sowie von allen Seiten korrumpiert wird. Und auch die Gedanken zu alternativen Werbeplakaten anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten sind scharfsinnig-bissig. Ein fulminanter und spannender Showdown weicht den abschließenden leicht hoffnungsvollen Gedanken des auktorialen Erzählers dieses packenden Crook Manifesto (Originaltitel: Ganovenmanifest), in dem sich Ray Carney als Manhattan-Schiefer sieht, der nicht vergeht.

Colson Whitehead verbindet elegisch-brillant die Geschichte der USA mit Kriminalflair und Soziologischem in einen faszinierenden, fiktionalisierten Harlem-Kosmos der 1970er-Jahre – und fordert mit seinen vielen Verzweigungen, Nebendarstellern, Perspektivwechseln, Rückblenden, Ortsbezeichnungen und weitgestreuten Querverweisen, historischen Reflexionen und Gedanken höchste Konzentration beim Lesen, die belohnt wird. „Die Regeln des Spiels“ lässt sich unabhängig von „Harlem Shuffle“ verstehen und macht neugierig, wie der grandiose Schriftsteller Colson Whitehead Harlems 1980er-Jahre im letzten Teil seiner Trilogie aufleben lassen wird.

Cover des Buches Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen? (ISBN: 9783784357454)

Bewertung zu "Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?" von Sally Nex

Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?
amara5vor 7 Monaten
Kurzmeinung: Kompakt-origineller, inhaltlich & haptisch sehr hochwertiger Gartenanbau-Ratgeber mit wunderschönen Illustrationen & hilfreichen Tipps.
Ökologisch Gärtnern leichtgemacht

In dem inhaltlich und haptisch sehr hochwertigen Selbstanbau-Ratgeber „Werden Tomaten süßer, wenn ich sie mit Zuckerwasser gieße und kann ich mein Unkraut einfach aufessen?“ bündelt die Journalistin und preisgekrönte Gartenbuchautorin Sally Nex ihr über Jahre angesammeltes versiertes Wissen rund um ökologisches Gärtnern und glückliches Obst sowie Gemüse. Und so außergewöhnlich-humorvoll der Titel und die Fragen in den fünf verschiedenen, gut gegliederten und übersichtlichen Kapiteln klingen, so präzise hilfreich-informativ sowie praxisnah sind die Antworten für alle Profi- und Hobbygärtner im Eigenanbau.

Verziert mit zahlreichen wunderschönen Grafiken und Bildern auf jeder Seite bereitet das Durchlesen der verschiedenen pfiffig und zugleich sehr gut zusammengefassten Antworten aus einem breiten Themenspektrum große Freude – dabei kann der Leser selbst entscheiden, ob er eine Langfassung oder eine komprimierte Antwort im kleinen Kasten erhalten möchte. Sally Nex legt seit Langem großen Wert auf nachhaltiges, autarkes Gärtnern/Selbstversorgung ohne Plastik sowie Chemikalien und gibt unterteilt in den fünf großen Kapiteln „Was baue ich an?, „Wo baue ich an?“, „Erlebnis Eigenanbau“, „Wer knabbert an meinen Pflanzen“ sowie „Ernten und Verarbeiten“ auf unterhaltsame und zugleich professionell-verständliche Weise Schritt-fürSchritt-Hilfestellung zu anfallenden Gartenfragen. Dabei schlägt Nex einen brillanten Bogen vom einleitenden Anfang über das Gärtnern am Puls der Zeit mit verschiedenen Gemüseanbautechniken des 21. Jahrhunderts, über außergewöhnliche Anbaumöglichkeiten und selbstgemachten Dünger sowie Schädlingsbekämpfung bis hin zur Magie der Wiederverwertung und faszinierenden Symbiosemöglichkeiten im natürlichen Einklang.

Auch gibt Sally Nex neben der Beschreibung zahlreicher Gemüsesorten sogar einige kleine Rezepte (selbst zur eigenen Drinkherstellung) preis – und auch der Anbau auf dem eigenen Balkon kommt glücklicherweise nicht zu kurz. Hervorzuheben ist dabei der faszinierende Augenmerk auf die Artenvielfalt und ein grünes, entschleunigtes Gärtnern mit der Kraft der Natur, bei dem nichts perfekt sein muss, sondern glückliches Gemüse und somit ein glückliches, unabhängiges sowie klimafreundliches Gärtnern entsteht. Versehen mit unheimlich vielen nützlichen Extra- sowie DIY-Tipps lässt dieser kompakt-originelle Ratgeber mit einzigartigem Layout, altem und neuen Wissen keine Fragen offen und inspiriert zum glücklichen Losgärtnern und dem Verzehr von selbst angebautem Gemüse.

Cover des Buches Das Pferd im Brunnen (ISBN: 9783737101844)

Bewertung zu "Das Pferd im Brunnen" von Valery Tscheplanowa

Das Pferd im Brunnen
amara5vor 7 Monaten
Kurzmeinung: Bemerkenswertes literarisches Debüt, das mit Sinnlichkeit, Lakonie & Poesie kaleidoskopartig den weiblichen, familiären Prägungen nachspürt.
Brunnen der Erinnerung

Mit „Das Pferd im Brunnen“ veröffentlicht die bekannte Schauspielerin Valery Tscheplanowa ein bemerkenswertes literarisches Debüt, das mit Sinnlichkeit, Lakonie und sprachlicher Raffinesse kaleidoskopartig den familiären Wurzeln und facettenreichen Erinnerungen in der ehemaligen Sowjetunion nachspürt.

Anhand von vier Frauengenerationen (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und der klug-reflektiert erzählenden Tochter) webt Tscheplanowa voller poetischer und berührender Sprachbilder ein dichtes Geflecht von starken Frauen, die das Familienleben abseits der Männer am Laufen halten, und flechtet gekonnt historische Zeitgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts mitein. Einst wie Protagonistin Walja in einem Kurort bei Kasan geboren und nach Deutschland ausgewandert, erzählt die Autorin hier zwar autofiktional, aber stark autobiografisch geprägt von der Annäherung an die russische Heimat. Ihre Themen sind neben dem schwierigen Weiterleben nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion das Sterben, die Liebe und die Suche nach Verbundenheit sowie verlorener Zeit. Dabei beobachtet sie die liebenswerten, verschrobenen Eigenarten ihrer Protagonist*innen ungemein subtil, detailliert sowie schwarzhumorig und setzt sie präzise mit umwerfenden Metaphern in ihre Umgebung und landespezifischen Prägungen.

Das titelgebende Pferd liegt einer weitergetragenen Erzählung von Onkel Mischa nach als Gerippe auf dem Grund eines stillgelegten Brunnens – Ich-Erzählerin Walja blickt bei ihrer Rückkehr ins Haus ihrer Kindheit nach Kasan auch eindringlich-faszinierend in den Brunnen ihrer lebendigen Erinnerung der familiären Herkunft. Dabei geht Tscheplanowa erzählerisch in den Zeiten sprunghaft und episodisch vor – kleine, voneinander autonom wirkende Kapitel schildern mit sprachlicher Wucht und Nuanciertheit das Alltagsleben der Frauen in Kasan, aber auch das der Protagonistin in Deutschland an einer Bundesstraße. Und doch ergeben die gewürfelten Erinnerungsfragmente am Ende ein stimmiges Gesamtbild über den stetigen Rhythmus des harten Lebens in der alten Heimat und Walja resümiert ergreifend, was sie alles von den disziplinierten Frauen in sich trägt trotz dem unaufhaltsamen, schnellen Lauf der jahrzehntelangen Zeit.

„Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo. Unsere Haut ist eine Geschichte, die wir fortschreiben. Wir beschreiben sie mit den Kümmernissen und Freuden, die sich in sie eingraben.“ (S. 187)

Ein bewegendes, kraftvolles und zugleich feinfühliges Debüt voller schillernder Sätze, empathischer Beobachtungen und poetischen Reflektionen über die menschliche Existenz.

Cover des Buches Die Einladung (ISBN: 9783446277571)

Bewertung zu "Die Einladung" von Emma Cline

Die Einladung
amara5vor 8 Monaten
Kurzmeinung: Bestechend-düstere Odyssee einer modernen Hochstaplerin mit angespannter Atmosphäre, soghafter Stimmung & scharfsinnig-kühler Prosa.
Gespiegelte Versionen

In ihrem neuen packenden Roman „Die Einladung“ entführt die vielgefeierte, amerikanische Autorin Emma Cline anhand einer jungen, widersprüchlichen Escort-Frau auf eine vielschichtig-düstere Weise in die exklusive Welt der Reichen in den Hamptons.

Die 22-jährige Alex hat schon viele Scherben und unbeglichene Schulden in ihrer dunklen Vergangenheit zurückgelassen – weg von New York, versucht sie sich in den Hamptons über Wasser zu halten, nachdem sie aus ihrer WG geflogen ist. Alex ist es gewöhnt, ihren Körper an Männer zu verkaufen und eine Weile bei ihnen wohnen zu dürfen – so wie bei dem älteren Kunsthändler Simon, in dessen Haus in den Hamptons sie exquisiten Zugang zu Essen, Kleidung und anderen Reichen hatte. Der Preis dafür ist hoch für die junge Frau, die sich präzise darin versteht, das Gegenüber zu erkennen und sich in diejenige zu verwandeln, die der andere haben will, um eine bessere Version von sich selbst zu sein. All ihre Abläufe und das tägliche Zurechtmachen sind gut einstudiert, aber auf einer Party verliert Alex die Contenance und verärgert Simon. Er schickt sie per Zug zurück in die Stadt, doch am Bahnhof überlegt es sich Alex anders: Sie möchte die wenigen Tage bis Simons Labor-Day-Party in den Hamptons verbringen, um ihn dann wieder umzustimmen. Doch wo soll sie wohnen, essen und überleben ohne Geld – dicht gefolgt von täglichen SMS-Drohungen ihres um Geld betrogenen Ex-Freiers Dom?

Mit einer angespannten Atmosphäre und einer stechend scharfsinnig-kühlen Prosa, die mit wenigen treffenden Sätzen die Stimmung in Alex und im Außenherum beschwört, zieht Emma Cline ihre Leserschaft gleich zu Beginn sogartig in die bestechende Odyssee ihrer Hochstaplerin. Alex probiert im wahrsten Sinne des Wortes, „den Kopf über Wasser zu halten“ und dringt mit ausgeklügelten, spontanen Plänen für kurze Zeit in die Welt verschiedenster, reicher Menschen ein, die ihr eigentlich verschlossen ist. Und überall hinterlässt sie latente Spuren von Verwüstung und Verwirrung – ein Abbild, wie es um sie steht und doch bleibt die Protagonistin dabei gespenstisch leer und ungreifbar.

Wiederkehrende Motive des Schwimmens, des Meeres und der Poolanlagen spielen dabei eine tragende Rolle, die Cline in wunderschönen sowie melancholischen Stimmungen auffängt – und doch schwingt über allem die allgegenwärtige Bedrohung mit, wie es mit der verlorenen Außenseiterin Alex weitergeht.

Gesellschaftskritische Themen wie die Riesenkluft zwischen Arm und Reich, die scheinheilige Welt der Superreichen, aber auch die schwierige Rolle einer jungen Frau zwischen Anpassung, Austauschbarkeit und Selbstbestimmtheit sind tiefgründige Themen dieses mitreißenden Romanes. Aber an erster Stelle steht das brillant konstruierte Psychogramm einer Frau, die in verschiedene Rollen und Versionen schlüpft, um in einem kapitalistischen, von ungleichen Machtstrukturen geprägten System zu überleben – dabei gibt sie nie ihr Innerstes preis und spiegelt präzise, bewegend sowie aufrüttelnd die emotional unterkühlte, oberflächliche Gesellschaft ihr gegenüber.

Und auch wenn das zweideutige Ende vage im Nebel des Meeres verschwimmt – es wird nur konsequent weitergeführt, was die beklemmend-spannende Stimmung vorher vorgegeben hat. Ein beunruhigender, faszinierender und nuanciert komponierter Roman.

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