Ich glaube ja, man kann dem Stickelbroeck einfach ein paar Begriffe zurufen und sagen: „Mach da mal einen Krimi draus!“. Das macht der dann auch. Und es wird sogar ein richtig, richtig guter!
Für „Blindgänger“ kamen dem Autor Begriffe wie Stalker, IS, Spezialeinheiten, Zuhälter, Soaps, Dschungelcamp, Pleitegeier und Wohnungsnot entgegen geflogen. Begriffe, bei denen man zunächst vergeblich nach einem Zusammenhang sucht und die zum Teil bedrohlich wirken. Sehr bedrohlich. Und als hörte sich das nicht schon schlimm genug an für seinen Protagonisten Christian Hartmann (Ex-Fußballprofi und jetzt Privatschnüffler) – der sich selbst vielleicht mal Begriffe wie Urlaub, Frauen, Drinks, Sorglosigkeit, Ruhe, Himmel auf Erden wünschen würde –, nein, Klaus Stickelbroeck beschert Hartmann nicht nur eine einzige, eine hübsch übersichtliche Front, an der er kämpfen muss, weit gefehlt, es sind natürlich gleich mehrere. Aber das, das macht Stickelbroeck exzellent!
Im Hauptstrang der Geschichte lässt er Hartmann einen Auftrag annehmen, bei dem er als Bodyguard für die Sicherheit einer bekannten Schauspielerin verantwortlich ist. Die fühlt sich nämlich gestalked. Ich verrate nicht zu viel wenn ich sage, dass sich der Job als schwieriger als zunächst angenommen herausstellt. Aber so ist das bei Hartmann: einfach gibbet nich. Dann fällt Hartmann auf, dass er seinen Kumpel Jonny, der Taxi fahrende Medizinstudent aus Ghana, schon lange nicht mehr gesehen und gesprochen hat. Er macht sich Sorgen. Sorgen? Gutes Stichwort! Der Krimi hätte wohl auch „Sorgenfresser“ heißen können, denn Hartmann hat für die Sorgen seiner Freunde ein lang erprobtes Mittel parat: ein fast schon pathologisches Helfersyndrom! Das gereicht ihm nicht nur zum Vorteil. Damit wären wir dann in weiteren Handlungssträngen, die die Begriffe Zuhälter (da sieht Hartmann fast immer schlecht bei aus) und Wohnungsnot (mal was Neues für ihn) von obiger Liste streichen. War´s das? Natürlich nicht! Sorgen haben nicht nur andere, Sorgen sollte auch Hartmann sich machen. Um sein angelegtes Geld. Ein Berater eröffnet ihm nämlich den Grund dafür, warum die Geldautomaten nichts mehr ausspucken: Über Hartmann kreist der Pleitegeier. Wie gesagt, einfach könnte ja jeder.
Wenigstens ist Hartmann nicht alleine. Ihm zur Seite steht wieder sein Junkie-Freund Angie. Der kann ja Türen aufmachen und so. Regenrinnen-Rita, Düsseldorfs einzige 2-Meter-Prostituierte, zieht irgendwie bei Hartmann ein. Trotz Frühstücksservice irgendwie nicht behaglich. Muss er bei Gelegenheit mal ansprechen. Krake, sein einarmiger Lieblingswirt, versorgt ihn wieder mit Kaffee und Frikkos. Und schreibt an. Taxi-Jonny ist irgendwie verschwunden und Huren-Heinz soll sich für Hartmann verbürgen. Das inzwischen schon lieb gewonnene Ensemble steht für Witz und Raffinnesse und ist so etwas wie ein Kompass in den Hartmann-Krimis. Achso, fast vergessen: Der Keiler aus einem Stickelbroeck-Kurzkrimi hat einen Gastautritt hier im Roman. Ich hab schallend gelacht J
Auch in seinem mittlerweile 6. Hartmann-Krimi erfindet der Autor sich wieder neu. Keine Spur von „kennt man schon“ oder „dem fällt nix Neues ein“. Ganz im Gegenteil! Auch „Blindgänger“ ist ein Pageturner. Für mich aber nicht wegen seiner witzig-skurrilen Dialoge, die den Großstadtjargon übrigens lebensnah einfangen, oder der kurzen, rasant geschriebenen Kapitel, die das Buch eher wie einen Thriller daher kommen lassen. Diesmal ist es die Handlung, die mich besonders gepackt hat, bzw. die verschiedenen Stränge von Haupt- und Nebenhandlung. Um es kurz zu machen: Stickelbroeck hat einfach einen an sich schon interessanten und spannenden Fall mit viel Raffinesse konstruiert. Das ist heutzutage gar nicht so leicht bei der Masse an Krimis, die uns in Büchern und im Fernsehen begegnen. Wie oft war ich enttäuscht von einem der letzten, aktuellen „Tatorte“?! Aus verschiedenen Gründen. Da war der Fall interessant und half über die blasse Figurendarstellung hinweg. Oder genau anders herum: die schauspielerische Leistung übertünchte eine im Hintergrund ablaufende Handlung, die sowieso nicht so wichtig war. Den Fernsehmachern möchte ich daher zurufen: „Schaut doch mal, wie es eure schreibenden Kolleginnen und Kollegen machen, die Krimi-AutorenInnen. Lest mehr Krimis! Wie zum Beispiel einen Klaus Stickelbroeck. Beim Ensemble lässt der sich immer etwas Neues einfallen. Und bei der Handlung auch. Neben einer Haupthandlung (Schauspielerin-Stalker-Gedöns) entwickelt Stickelbroeck weitere Nebenhandlungen und führt sie später schulmäßig zusammen, sodass keine Frage offen bleibt, kein Handlungsfaden hängt mehr lose in der Luft (war in machen TV-Krimis schon anders!). Es kann so einfach sein, möchte man behaupten.
Dabei kommt Klaus Stickelbroeck, dem Polizisten im anderen Leben, seine berufliche Erfahrung zu Gute. Aus jeder Zeile seiner Geschichte lesen wir: Der kennt sein Milieu! Daher kommt er ohne Klischees aus. Figuren, Handlungen und Dialoge – all das ist echt. Stickel hat als Polizist mit genau diesen Typen zu tun. Kriminelle Osteuropäer und Schwarzafrikaner, bedauernswerte Junkies und Prostituierte, liebenswerte Büdchenbesitzer und skurrile Nachbarn sind sein „Klientel“ in Düsseldorf. Man nimmt ihm ab, dass die alle genauso sind, wie er sie skizziert. Denn er kennt sie aus seinen echten Fällen. Diese Authenzität fließt in seine Krimis ein und trägt die Handlung im Falle von „Blindgänger“ locker über 329 Seiten hinweg. Und auch der eine oder andere schräg-witzige Dialog entstammt dem wirklichen Leben, da bin ich mich sehr sicher.
Die Thriller-Elemente machen „Blindgänger“ besonders lesenswert für mich. Der Erzählverlauf ist im Gegensatz zu einem Ermittlerkrimi chronologisch vorwärts gerichtet. Dadurch kommt Fahrt auf. Durch sein sprachliches Geschick (Stickelbroeck kommt mit einfachen, rasanten Sätzen aus, die einfach sitzen), entsteht ein Pageturner, der von der ersten Minute an fesselt. Erzählt wird aus einer einheitlichen Perspektive. Hartmann, der Protagonist, ist in allen Kapiteln anwesend. Die Handlung entfernt sich von ihm in keinem Augenblick. Das ist der Klebstoff, der uns Leser mit dem Helden verbindet. So bleiben auch die weitere Entwicklung der Handlung und deren Ausgang für lange Zeit ungewiss. Der Autor schickt seinen Helden von einer Gefahr in die nächste. Hartmann gerät immer wieder (über verschiedene Handlungsstränge) in Bedrängnis. Unerwartete Wendungen (Stickelbroeck versteht sein Handwerk wirklich gut!) steigern das Ganze noch. Als Leser spüren wir dabei ein Kribbeln, den Thrill, denn wir wissen nur was der Protagonist weiß. So entsteht Spannung von der ersten bis zur letzten Sekunde. Der Showdown ist exzellent in die Länge gezogen – die Nerven kreischen wie eine Kreissäge – und wird von einer hammermäßigen Pointe im letzten Satz noch getoppt. Buch zu klappen, auf Klo, durchatmen und nochmal lesen!
Nach so viel Lob kann eigentlich keine negative Kritik mehr kommen. Oder? Tut es auch nicht wirklich. Jedenfalls kann man Stickelbroeck keines handwerklichen Fehlgriffs überführen. Und jede Kritik ist subjektiv, Bücher sind ja Geschmackssache. Das einzige, womit ich etwas hadere, ist Stickels Hang zum Happy End. Am Ende wird alles gut, die Ordnung ist wieder hergestellt. Super-Hartmann schafft das, um mal etwas zu merkeln, äh Verzeihung, mäkeln. Aber bildet das das echte Leben ab? Wird am Ende wirklich immer alles wieder gut? Steht hier Idealismus gegen Realismus? Wahrscheinlich. Ein bisschen. Wikipedia aber zitiert zum Verhältnis von Idealismus und Realismus Robert Prutz: „Der wahren Kunst ist der Idealismus ebenso unentbehrlich als der Realismus: denn was ist alle Kunst selbst anders als die ideale Verklärung des Realen, die Aufnahme und Wiedergeburt der Wirklichkeit in dem ewig unvergänglichen Reiche des Schönen?“.
Recht so! Ist ja Stickels Kriminalroman und da darf er bestimmen, ob es ein Happy End gibt oder nicht. Und ganz ehrlich: Der Thriller ist insgesamt so geil geschrieben, da gönne ich dem Autor gern ein wenig mehr Idealismus, und vergebe als Punktzahl ein volles Magazin plus eine Handvoll Patronen für die Hosentasche.