In Volker Kaminskis neuem Roman „RUA 17“ befinden wir uns im Jahr 2084 – eine sicher nicht zufällig gewählte Anspielung auf Orwells „1984“. In der Tat gibt es Parallelen zwischen den beiden Zukunftsvisionen. Auch in „RUA 17“ leben die meisten in heruntergekommenen Quartieren, die Versorgungslage mit Lebensmitteln ist prekär, auch hier gibt es eine allmächtige Kontrollmacht. Was bei Orwell „Big Brother“ ist, nennt sich in „RUA 17“ das SYSTEM – eine Art Super-KI, die alle Lebensbereiche regelt und kontrolliert. Der Held schreibt wie bei Orwell Tagebuch, wehrt sich gegen die totale Überwachung, und auch ein Zimmer 102 taucht auf, aber hier hören die Parallelen auch auf. Der Kontrollstaat bei Kaminski ist sanfter, er sucht nach Lösungen drängender Probleme wie Überbevölkerung und Überalterung und ist bedacht auf Balance, Ausgleich, Friedlichkeit und eine funktionierende Infrastruktur. Dies geht jedoch nicht ohne Einschränkung der individuellen Freiheit. So werden Menschen ab c.a. 60 Jahren umquartiert in einen Wohnbezirk namens RUA („Region unter Assistenz“), wo sie in Wohngruppen zusammenleben, versorgt, aber auch kontrolliert von sogenannten Assistenten, menschengleichen Robotern, die das Leben in dem schäbigen Altstadtviertel regeln und organisieren; sie übernehmen Pflege- und Transportdienste, geben Auskunft, überwachen aber auch das Leben der Alten, die zunehmend ihre Erinnerungen verlieren und unter dem Einfluss der Androiden in Traumwelten abtauchen. Es gibt aber durchaus Möglichkeiten der Freizeitgestaltung: Parks, Schwimmbäder, Urlaubsaufenthalte im Sinnenparadies „Camp“ und nicht zu vergessen den Billigwein Favorit, der allgegenwärtig ist. In Teilen erinnert dieses Leben dann auch an Huxleys „Schöne neue Welt“, wo die Droge Soma die Menschen still und friedlich hält.
Es existiert aber auch eine Gegenwelt, die Westrandsiedlung, wo die Jüngeren, Berufstätigen sowie Familien leben. Wir lernen den Grundlagenforscher Grandin und seine halbwüchsige Tochter Daria kennen, die in einer Villa mit Garten und Pool leben. Auch sie sind immer von Assistenten umgeben, die Hausarbeiten übernehmen oder als spielzeugartige Begleiter dienen. Über sie gewinnt man auch Zugang zum SYSTEM (ähnlich einem Mega-Internet, wenngleich nicht allen alle Bereiche zugänglich sind).
Die Handlung im Roman kommt dadurch in Gang, dass in der RUA im Haus 1021 ein Bewohner verschwindet. Dies wirkt wie ein Brandbeschleuniger für das wachsende Misstrauen des Hausvorstehers Bäumer, ein ehemaliger Lateinlehrer. Er kann sich nicht länger damit abfinden, dass sie zunehmend ihr Gedächtnis verlieren, ihr Bewusstsein offensichtlich manipuliert wird und sie als Hochbetagte nach einem ihnen intransparenten Plan weggebracht werden. Wohin weiß keiner. Doch der vermisste Mitbewohner war noch zu jung und Bäumer macht sich auf die Suche, stellt Nachforschungen an. Dazu benötigt er Hilfe, die er von Daria (seiner Privatschülerin in der Westrandsiedlung) und ihrem Lieblingsassistenten Mango bekommt, über den er unerlaubt Zugang zu Bereichen des SYSTEMs erhält, die das Ausmaß der Bewusstseinsmanipulation in erschreckender Weise offenbaren.
Seine Aktivitäten bleiben nicht unbemerkt, und so gerät Bäumer in große Gefahr. Das SYSTEM duldet keine Befreiungsversuche. Und genau um diese geht es im weiteren Fortgang der überaus spannenden Handlung. Bäumer, Mango und Daria bilden eine Art Widerstandsgruppe, der sich die Hausbewohner zumindest durch moralische Unterstützung anschließen. Was sich Kaminski einfallen lässt, um die Flucht aus dem SYSTEM wie in einer Art Schnitzeljagd Schritt für Schritt zu inszenieren, bereitet großes Lesevergnügen und mündet in einen unerwarteten Schluss. Überhaupt sprüht der Roman vor Einfällen, beim Ausmalen der etwas steifen Verhaltensweisen der Assistenten, der futuristischen Stadtgestaltung, den Brettspielen in der Alten-WG, den durch Manipulation hervorgerufenen virtuellen Welten, so dass bei aller Brisanz des Themas (allmächtige KI) die dargestellte Romanwelt keineswegs so einen düsteren, bitteren Charakter besitzt wie bei Orwell. Es geht hier nicht um das Böse, es gibt keinen O’Brian, keine Folter, und doch wird die Gefahr, die durch eine KI-Durchdringung unseres Lebens droht, der Kontrollverlust des Menschen, die Übermacht virtueller Welten (gegenüber der realen) sehr anschaulich gemacht. Ein ungewöhnliches und äußerst reizvolles Leseerlebnis zu einem Thema, das uns alle noch weiter beschäftigen wird.