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cynthor

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches Gott gibt das Maß  - Schicksale unserer Zeit (ISBN: B001LEQH2E)

Bewertung zu "Gott gibt das Maß - Schicksale unserer Zeit" von

Gott gibt das Maß - Schicksale unserer Zeit
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Berührende Einzelschicksale aus der Nachkriegszeit
Das Leben besteht aus Kleinigkeiten

Inhalt

„Gott gibt das Maß“ ist eine Sammlung von wahren Kurzgeschichten, meist nicht mehr als vier oder fünf Seiten, die verschiedene Einzelschicksale aus den Nachkriegsjahren näher beleuchtet, wobei der Krieg als solcher keine Erwähnung findet.
Die Geschichten handeln ausnahmslos von „normalen“ Menschen, wie es sie in jedem Dorf und in jeder Stadt gibt. Sie alle haben ihre Probleme, meist zwischenmenschlicher Art, für die auf die eine oder andere Art eine Lösung gefunden wird.
Beispielhaft sei hier die fünfjährige Maria erwähnt, die mit anderen Kindern am Ufer eines Sees Ball spielt. Als sie sieht, wie sich ein älterer Mann in den See stürzen will, wirft sie den Ball hinein. Der Mann sieht sich gezwungen, das Spielzeug zu retten - und findet aufgrund dieser Tat seinen Lebensmut wieder. Andere Geschichten handeln von Kriegswaisen, die Adoptiveltern finden, oder von Erwachsenen, die nach einem Schicksalsschlag wieder einen Sinn in ihrem Leben finden.

Meinung

Ich muss zugeben, dass ich anfangs von den Geschichten etwas enttäuscht war. Das Buch trägt den Untertitel „Schicksale unserer Zeit“, den es auf eine etwas andere Art einlöst, als ich erwartet hatte. Wie bereits erwähnt handelt es sich um die Erlebnisse und entscheidenden Momente ganz normaler Menschen, wie sie jeder in seinem eigenen Bekanntenkreis wiederfinden wird.
Springenschmid erzählt nicht von Geschehnissen, die einen merkbaren Einfluss auf die Weltgeschichte haben. Es stellt sich schnell die Frage, warum man seine Zeit damit verbringen sollte, Geschichten über Max Mustermann und Co. zu lesen, die sowohl einen großen zeitlichen aus als auch einen persönlichen Abstand zu einem selbst aufweisen.
Dann aber merkt man, dass die Geschichten einen doch berühren, vielleicht auch weil sie vom Leben ganz normaler Menschen erzählen. Fürs Weltgeschehen sind sie bedeutungslos, für die Schicksale der Betreffenden aber entscheidend. Sind es nicht gerade die Kleinigkeiten, die das Leben ausmachen? Und sind es nicht gerade die Leben vieler Einzelnen, die sich stimmig aneinander fügen und das große Ganze ergeben?

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman Ethopia – Erwachen.

Cover des Buches The Fountain (ISBN: 9783866073371)

Bewertung zu "The Fountain" von Darren Aronowsky

The Fountain
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Fantastische Erzählung im Comic-Format
Faszinierendes 1000-Jahre-Epos

Inhalt

Warnung: die Handlung des Comics ist inhaltlich sehr komplex und nur schwer in wenigen Worten beschreibbar! Ursprünglich als Film geplant, musste Arronofsky von der Verfilmung Abstand nehmen und entschloss sich, das Drehbuch in dieser Form zu veröffentlichen. Kurze Zeit später kam es dann – glücklicherweise – doch noch zur Entstehen eines Films…

Auf drei Zeitebenen kämpft der Ritter Tomas/der Forscher Thomas/der Mönch(?) Tommy (im Film dargestellt von „Wolverine“ Hugh Jackman) um seine Liebe Izzy Creo (im Film Rachel Weisz) in Gestalt der spanischen Königin/Ehefrau/großer Baum(!). Zur Zeit der spanischen Inquisition sucht Tomas im Auftrag seiner Königin im Dschungel Südamerikas nach dem Baum ewigen Lebens. In der Gegenwart forscht Thomas an einem Heilmittel für Krebs. Er steht dabei unter enormem Zeitdruck, da seine Frau Izzy an einem Gehirntumor leidet, wobei sie parallel an einem Roman über die Suche des Spanischen Ritters schreibt.
Die dritte Handlungsebene spielt in einer fernen Zukunft. Die dritte Verkörperung Thomas fliegt in einem Raumschiff in Form einer riesigen Seifenblase samt einem sterbenden Baum in Richtung des sterbenden Sterns Xibalba, von dem Izzy fasziniert war, weil er in der Mythologie der Maja dem Reich der Toten entsprach.

Meinung

Auch wenn ich die Art und Weise, wie die Bilder dieses Comics in Szene gesetzt wurden, nicht hundertprozentig mag, ist es dennoch eines der bewegendsten Bücher, die ich je gelesen habe. Aronofsky hat eine derart komplexe Handlung und Vielschichtigkeit aufgebaut, die

Bemerkenswert ist die enorme Vernetzung der drei Handlungsebenen, was durch die Verwendung der gleichen Symbole (wie das Ringmotiv oder das Baummotiv) geschaffen wird.

Hauptmotiv der Figur Thomas – vermutlich nach dem Ungläubigen aus der Bibel benannt, dazu ergibt der Nachname seiner Frau „Creo“, also „ich glaube“, einen schönen Kontrast – ist das Streben nach Unsterblichkeit. Der Tod ist für ihn das absolute Ende, das ihn von seiner großen Liebe trennt. An ein danach, eine tieferen Sinnhaftigkeit glaubt er nicht – es sei angemerkt, dass es sich wie immer leicht diskutieren lässt, wenn man nicht selbst in der gleichen Situation steckt. Tommy verschließt aus Angst vor dem Verlust die Augen vor dem, was seine Frau am dringendsten benötigen würde – Zeit mit ihm – und vergräbt sich in seine Arbeit.

Izzy hat hingegen ihren Tod akzeptiert und ist, wie die Vorgesetzte und Freundin der Familie treffend bemerkt, damit weit über sich hinausgewachsen. Sie hat den großen Wahrheitsgehalt des Spruches eines alten Südamerikaners erkannt:

Der Tod ist der Weg zur Ehrfurcht

Nur weil unser Leben endlich ist, und wir uns eines Tages von allem verabschieden müssen, was wir im Laufe unseres Lebens angesammelt haben an Familie, Freunden und Erinnerungen, sind wir in der Lage, das alles zu schätzen. Wer am Ende seines Lebens zurückblicken und sagen kann, er habe etwas Gutes geleistet, der kann in Würde abtreten und getrost dem entgegen sehen, das ihn da erwartet.

Man mag einwenden, dass der Comic zu viele verschiedene „esoterische“ Themen miteinander vermischt, aber ich halte das Werk für in sich stimmig. Auch der Reinkarnationsgedanke, der mitschwingt, wenn man die Handlung in Südamerika nicht bloß als Romaninhalt, sondern als „reale“ Historie auffasst, ordnet sich gut in das Gesamtkonzept ein. Zumal die Reinkarnationsthematik durchaus mehr als einen Gedanken wert ist.

Auch wenn dies eigentlich ein Bücherforum ist, kann ich nicht widerstehen, noch ein paar Worte zur Verfilmung dazulassen: diese besticht nochmal besonders durch enorm viele Einzelheiten und Details, durch die Verwendung von Licht und Schatten, Kamerawinkel etc. die bei auch beim zweiten und dritten Ansehen nicht langweilig werden. Dazu kommt noch eine „psychedelische“, wirklich bombastische Musik von Clint Mansell, und die stellenweise brachiale Gewalt der Bilder, wobei hier vor allem die Szenen rund um den sterbenden Stern zu nennen sind. Ich mag den Film noch mehr als den Comic…

Fazit: unbedingt ansehen ... äh... lesen!

Sonnige Tage und erholsame Nächte!


PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman Ethopia – Erwachen.

Cover des Buches 1984 (ISBN: 9783548234106)

Bewertung zu "1984" von George Orwell

1984
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Nicht umsonst zum Klassiker dystopischer Literatur geworden!
Dystopie-Klassiker

Inhalt

In einer nicht allzuweit entfernten Welt haben sich alle Staaten zu drei großen Machtblöcken zusammengeschlossen: Ozeanien, Eurasien und Ostasien befinden sich in abwechselnden Konstellationen miteinander im Krieg. Der „Historiker“ Winston arbeitet im Ministerium für Wahrheit und passt täglich die Vergangenheit an die aktuellen politischen Gegebenheiten an. So werden beispielsweise Produktionszahlen gefälscht und alte Bündnispartner als Kriegsgegner von jeher behandelt. Andere Kontrollmechanismen der Inneren Partei unter ihrem Diktator, der schlicht als „Großer Bruder“ agiert, sind Totalüberwachung und Einführung der Sprachvariante „Neusprech“, die es schwer macht, Kritik am Staatsapparat zu üben.
Winston beginnt eine gefährliche Beziehung mit der parteikritischen Julia. Gemeinsam versuchen sie, Kontakt zu Rebellen aufzunehmen,  werden aber gefangen genommen.  Julia und Winston werden mit Folter und Gehirnwäsche umerzogen.

Meinung

1984 ist wohl mit Abstand die bekannteste Dystopie, die andere Klassiker wie Brave New World aufgrund „besserer“ Voraussagen und einer größeren Realitätsnähe bei weitem übertrifft.

Grund dafür mag auch die Genauigkeit sein, mit der Orwell zukünftige Entwicklungen vorhergesagt hat: Ursache und Ziel von neusten Sprachkonzepten wie „political correctness“ oder „genderization“ mögen von der Absicht hinter der Neusprech-Entwicklung grundverschieden sein, Debatten um den feinen sprachlichen Unterschied zwischen „Studenten“ und „Studierende“  erinnern immer öfter an Orwells linguistischen Albtraum. Um eine dritte Neusprech-Variante zu erleben, reicht es allerdings schon, aktuellen Schülergenerationen zu lauschen…

Doppeldenk, also die Fähigkeit, nicht nur an die Wahrheit unterschiedlicher, sondern sogar fundamental entgegengesetzter Thesen zu glauben, findet inzwischen auch immer weiter Verbreitung. Nicht im Sinne eines vielleicht noch förderlichen Multitaskings, sondern aufgrund einer überaus komplexen Welt mit vielen Ansprüchen, Informationsüberflutung und Verstrickungen.

Weiterer großer Pluspunkt sind die detaillierten Folterszenen und Beschreibungen der Gehirnwäsche-Praktiken, die zeigen, wie aus dem selbstbewussten Revolutionär ein gebrochener Mensch ohne eigenen Willen wird. Besonders die Instrumentalisierung von Raum 101 als absolut schrecklicher Ort, an dem Winston schließlich das verrät, was ihm am wertvollsten war – seine Liebe zu Julia – ist zugleich berührend und erschreckend.

Fazit: nicht umsonst haben zahlreiche Ideen und Begriffe wie „Neusprech“ oder „Big Brother“ aus Orwells Dystopie Einzug in die alltägliche Lebenswelt gefunden. Problematisch ist allenfalls, dass aufgrund der vielen Nutzung dieser Begrifflichkeiten ihre immense Bedeutung viel leichter unterschätzt und vergessen wird.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Der Besuch der alten Dame (ISBN: 3257230451)

Bewertung zu "Der Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt

Der Besuch der alten Dame
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Gerechtigkeit wird während einem Racheakt zur käuflichen Ware abgestempelt.
Furioser Racheakt

Inhalt

Die Milliardärin Claire Zachanassian, vormals Kläri Wäscher, besucht ihren Geburtsort, das völlig verarmte Güllen, dessen Bewohner große Hoffnungen auf ihren Reichtum und die damit verbundene mögliche Hilfeleistungen setzen. Bei einem Empfang verspricht sie, Güllen und seinen Bewohnern eine Milliarde zu spenden – Voraussetzung ist allerdings, dass diese den Gemischtwarenhändler Alfred Ill ermorden. Dieser war einst Claires Liebhaber und zeugte mit ihr ein Kind, verließ sie aber und „belegte“ mit falschen Schwüren gekaufter Männer, dass er nicht Vater des Kindes war. Claire war gezwungen, Güllen zu verlassen, wurde Prostituierte und kam mittels mehrerer Hochzeiten und Scheidungen zu ihrem gewaltigen Vermögen.
Trotz Beteuerungen, das Angebot niemals anzunehmen, beginnen die Bewohner Güllens in Erwartung des baldigen Geldsegens, sich vieles neu zu leisten. Ill gerät unterdessen langsam in Panik. Dann bricht ein schwarzer Panther, Claires Schoßtier und ihr einstiger Kosename für Ill aus. Die Dörfler bewaffnen sich und machen Jagd auf den schwarzen Panther.

Meinung

Neben seinen Physikern mein Lieblingsstück von Dürrenmatt. Das Motiv des Panthers, der als Stellvertreter Ills von der Dorfgemeinschaft zur Strecke gebracht wird, und zufällig gerade vor Ills Laden verendet, ist überaus gelungen. Großartig ist Dürrenmatts Humor, der sich in der Namensgebung von Claires Bediensteten ausdrückt: sie tragen Namen wie Toby, Koby, Loby, Roby und Boby – selbst die ständig wechselnden Ehemänner werden passend umbenannt. Man verwechselt die Protagonisten dadurch zwar das eine oder andere Mal, aber der Eindruck Claires, der dadurch entsteht, macht dies mehr als wett.

Großes Thema des Bühnenstückes ist Gerechtigkeit. Claire sieht sich moralisch im Recht, sie behauptet, „sich Gerechtigkeit zu kaufen“. Aufgrund der Konstruktion des Plots ist der Leser in der Zwickmühle: sicherlich ist Ills Verhalten alles andere als ehrenhaft, und für seine Verfehlung gehört er bestraft, aber trotz Claires Motivation balanciert ihr Verhalten jenseits der Grenze zur Selbstjustiz. Insgesamt also nicht einfach zu beurteilen – vor allem unter der weitergehenden Frage, was geschehen wäre, wenn sich Claire ein zufälliges, aber wirklich unschuldiges Opfer gesucht hätte.

Der moralische Verfall des Dorfes, das vor Claires „Einmarsch“ nur wirtschaftlich am Ende war, wird detailliert beschrieben – ein schöner Einfall war es, dass sich jeder Bürger ähnliche „neue, gelbe Schuhe“ kauft. Auch wenn niemand es offen zugibt, spekuliert jeder auf Ills Tod, und selbst moralische Instanzen wie Pfarrer und Lehrer scheitern an ihrem Auftrag. Der erste warnt Ill in einem jähen Anflug von Selbsterkenntnis zurecht, dass der Mensch nur schwach sei, und rät Ill zur Flucht. Der Lehrer versucht vergeblich, Claire zur Umkehr zu bewegen und ertränkt seine Sorgen und seine Schwäche im Alkohol. Als er versucht, der Presse die brutale Wahrheit zu stecken, bittet Ill selbst ihn zu schweigen – der Kaufmann hat sich mit seinem Tod abgefunden und akzeptiert seine Schuld.

Insgesamt ein ethisch anspruchsvolles Werk mit viel Potenzial zum Diskutieren und Nachdenken.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Ohne Gnade (ISBN: 9783492310031)

Bewertung zu "Ohne Gnade" von Bryan Stevenson

Ohne Gnade
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Gnadenlos gut
Lesenswertes Sachbuch über amerikanisch Strafrecht

Inhalt

Disclaimer für Sachbücher: In einer Rezension muss die Komplexität des Sachverhalts gezwungenermaßen heruntergebrochen werden, wenn auf den Inhalt des Werkes eingegangen werden soll. Das hast zur Folge, dass die vertretenen Thesen sich ebenfalls nur verkürzt und vereinfacht darstellen lassen, was manche Ungenauigkeiten zur Folge haben mag, aber leider unvermeidlich ist.

Der US-amerikanische Anwalt Bryan Stevenson erzählt von seinem Leben im Kampf gegen ungerechte Justizsysteme im Süden der Staaten, die vor allem Schwarze und Jugendliche stark benachteiligen. Anhand vieler Fallbeispiele zeigt Stevenson Absurditäten des Strafrechts auf und scheut sich nicht davor, auch den tief sitzenden Rassismus vieler hochrangiger Beamter anzuprangern. Am ausführlichsten wird hierbei auf den Fall „Walter McMillan“ eingegangen, der trotz nachweislich erpresster Falschaussagen und Dutzenden Zeugen, die seine Unschuld beteuerten, zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde und erst nach sechs Jahren Haft im Todestrakt freikam – eine psychische Belastung, an der er schlussendlich zerbrach.
Stevenson berichtet von einer Justizwahnsinn, der für Leser von der anderen Atlantik-Seite zuweilen groteske Züge annimmt: die Privatisierung der Gefängnisanstalten führte zu einem neuem Industriezweig (von 80 mrd. $), der mit massiver Lobbyarbeit für gut gefüllte Haftanstalten sorgt: so sitzen allein 500.000 Menschen aufgrund von Drogendelikten, viele aufgrund des (später wieder abgeschafften) „Strikes-Three-Laws“: wer dreimal straffällig wird, bekommt unabhängig von der Schwere der einzelnen Verbrechen lebenslänglich. Trotz nachgewiesener Unschuld wurden Dutzende Menschen hingerichtet, weit mehr erhielten lebenslange Haftstrafen. In einigen Staaten werden auch Jugendliche bis hin zu 13, 14 Jahren nach dem Strafrecht für Erwachsene verurteilt.

Meinung

Stevenson hat ein flammendes Manifest für Menschlichkeit und Gerechtigkeit verfasst, das beim Leser ein wirklich beklemmendes Gefühl zurücklässt. Auch wenn der Autor viele Statistiken anführt, beschreibt er fast ausschließlich Einzelschicksale näher, aber genau diese sind es, um die es schlussendlich geht. Es geht ausdrücklich nicht darum, Schwerverbrecher in irgendeiner Weise zu entschuldigen, sondern allein darum, ein gerechteres Justizsystem für die benachteiligten Schwarzen zu finden, und diejenigen stärker in Schutz zu nehmen, die  diesen Schutz aufgrund ihres Alters und ihrer Reife besonders bedürfen: Kinder und Jugendliche.

 „Wir vergewaltigen Vergewaltiger zur Strafe nicht, aber scheuen uns nicht, Mörder zu ermorden?“ Ein Zitat, das zum Nachdenken anregt. Recht und Vermögen der Gesellschaft über Verfehlungen zu richten, sind ein durchaus diskussionswürdiges Thema, zu dem dieses Buch seinen – sehr eindrucksvollen und berührenden – Teil dazu beiträgt. Wer ein paar Gedanken über den enormen Einsatz verschwendet, den Menschen wie Stevenson bringen, um für eine gerechtere – bessere – Welt zu kämpfen, kommt nicht umhin, ihnen Respekt zu zollen. Es bleibt die stille Hoffnung, dass sie den Kampf nicht verlieren werden.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

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Cover des Buches Flächenland (ISBN: 9783940185150)

Bewertung zu "Flächenland" von Edwin A Abbot

Flächenland
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Faszinierende Mischung aus Mathematik, Satire und Märchen
Mathematisches Märchen

Inhalt

Im zweidimensionalen Flächenland nimmt Mathematik, und insbesondere Geometrie, einen herausragenden Stellenwert ein: während der Körper der Frauen einem Geradenstück entspricht,  haben Männer die Form von regelmäßigen Vielecken. Weil die Intelligenz mit der Anzahl der Ecken zunimmt, bilden die Dreiecke das ausgebeutete Proletariat, Vier- und Fünfecke die gebildete Mittelschicht und Kreise – Vielecke mit einer so hohen Zahl von Ecken, dass sie nahezu rund erscheinen – stellen die höchsten Staatsbeamten.
Der Gelehrte A. Square, selbst ein Viereck,  erzählt sehr eindrücklich von den besonderen Mechanismen und dem einzigartigen Leben in Flächenland, die sich aus dem Mangel der dritten Dimension ergeben. Als ihm in einer Silvesternacht eine Kugel aus der dritten Dimension erscheint, die ihn das „Wunder“ weiterer, ihm bisher verborgener Dimensionen offenbart, wird Square zum Revolutionär.

Meinung

„Flächenland“ ist eine einzigartige Kombination aus mathematischem Lehrbuch über einen (einfachen) Dimensionsgedanken und einer Satireschrift des Viktorianischen Zeitalters, also die Epoche, in der dieses Buch geschrieben wurde.
Mit faszinierender Virtuosität überträgt der Autor Vorurteile und Klischees seiner Zeit in sein zweidimensionales Traumland. Frauen, dem Klischee nach dumm und unfähig, werden zu affektgeladenen Geradenstücken, die mangels Ecken logischerweise auch keine Intelligenz aufweisen können. Die hinterlistige Brutalität, mit der die hohen Beamten Revolutionen im Keim ersticken wird ebenso in Relation zur Geometrie gesetzt wie die extreme Ausbeutung der niederen Schichten.
Abgesehen vom sehr gelungenen satirischen Teil des Buches gelingt es dem Autor auch gut, das Wesen der Dimensionen zu erfassen. Wenn A. Square schließlich das eindimensionale Linienland besucht und die Problematik der ihm unbegreiflichen dritten Dimension zu verstehen beginnt, denkt man zwangsweise an eine vierte räumliche Dimension, die einem selbst ebenso verborgen bleibt wie den Flächenländern die dritte.
Interessanterweise schafft Square allerdings den Sprung, und fordert seinen Besucher aus dem dreidimensionalen Raum auf, ihm die vierte, fünfte und sogar sechste Dimension zu offenbaren. Auch jetzt wiederholt sich das alte Spiel: die Kugel bestreitet zunächst die mögliche Existenz einer solchen, gibt dann widerstrebend zu erkennen, dass Square vielleicht doch haben könnte. So wird der Messias selbst zum Bekehrten.
Die Flächenländer sperren den Propheten Square als Ketzer ein, weil es ihm nicht möglich ist, seine Behauptungen zu beweisen.  Die Erkenntnisse, die der Gelehrte seinen Mitbürgern zu vermitteln versucht, dürfen durchaus als „unnützes“ Wissen bezeichnet werden: aufgrund ihrer begrenzten Mittel ist es den Flächenländern unmöglich, etwas mit der dritten Dimension anzufangen, sie irgendwie zu messen oder sogar zu verwenden. Man könnte also den Standpunkt vertreten, dass es keine Rolle spielt, ob eine dritte Dimension existent ist oder nicht – auf das reale Leben hat dies überhaupt keinen Einfluss. Ich neige allerdings eher zum zweiten Standpunkt: die Flächenländer sind dazu verdammt, 1000 Jahre auf das Eintreffen des nächsten dreidimensionalen Wesens zu warten, das sie aus der Höhle ihrer Unkenntnis zu führen vermag.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Digitale Demenz (ISBN: 9783426276037)

Bewertung zu "Digitale Demenz" von Manfred Spitzer

Digitale Demenz
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Wertvoller Beitrag zur Digital-Debatte
Guter Einblick in moderne Gehirnphysiologie

Inhalt

Disclaimer für Sachbücher: In einer Rezension muss die Komplexität des Sachverhalts gezwungenermaßen heruntergebrochen werden, wenn auf den Inhalt des Werkes eingegangen werden soll. Das hast zur Folge, dass die vertretenen Thesen sich ebenfalls nur verkürzt und vereinfacht darstellen lassen, was manche Ungenauigkeiten zur Folge haben mag, aber leider unvermeidlich ist.

In seinem Buch „Digitale Demenz“ fasst Spitzer die neusten Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie zusammen, denen er aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen kritisch gegenüberstellt.
Nach einer kurzen Einführung in die Gehirnphysiologie um dem Leser zu vermitteln, wie das Gehirn lernt, und wie sich dieses Lernen in Veränderungen im Gehirn niederschlägt (kurz gesagt, wachsen die Synapsen zwischen einzelnen Neuronen bei Betätigung und funktionieren dadurch besser), thematisiert Spitzer zunächst die Oberflächlichkeit der Lernmethoden, die mit den digitalen Medien Einzug in die Klassenzimmer gehalten hat. Nicht nur, dass die Technologie als solche zu diversen Problemen führt (Rechnerabstürze, Softwareupdates, Datenschutzprobleme, Ablenkung der Schüler durch fachfremde Inhalte etc.), sondern auch der Umgang mit dem Lerninhalt ist weniger tiefgreifend als zuvor.

Sinkende Gedächtnisleistung bei einem Verlassen auf die Speicherkapazitäten des Rechners wird ebenfalls aufgegriffen wie auch die Problematik in sozialen Netzwerken, was Mobbing durch Anonymität oder auch die Auswirkungen von Facebook und Co. auf den realen Freundeskreis betrifft, angesprochen und mit vielen Forschungsergebnissen und Experimenten belegt wird. Zu guter Letzt geht Spitzer auf die schädlichen Auswirkungen des Fernsehkonsums von Kleinkindern und von gewaltverherrlichenden Computerspielen ein, bevor er mit einer Beschreibung der Misere von Politik und Lobbyismus endet.

Meinung

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, kommt nicht umhin, Spitzers Ansichten zuzustimmen. Der gewaltige Einfluss, den digitale Medien gerade auf die jüngsten Mitbürger besitzen, lässt sich angesichts aktueller Entwicklungen und Diskussionen kaum bestreiten, und das eine oder andere Beispiel deckt sich sicherlich mit den eigenen Erfahrungen des Lesers.

Großes Plus an Spitzers Beitrag zur Debatte sind vor allem sehr anschauliche Analogien, die aufzuzeigen vermögen, wie absurd manche Ausprägungen moderner Bildungspolitik eigentlich geworden sind. Außerdem gelingt es ihm spielerisch leicht, die psychologischen Experimente auch dem Laien zu erklären, was das Nachvollziehen seiner Argumentationskette deutlich unterstützt.

Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch, das einen sehr breiten Überblick über das Thema „Digitale Demenz“ und sein Umfeld bietet.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5: Der Erzählungen erster Teil (ISBN: 9783446198784)

Bewertung zu "Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5: Der Erzählungen erster Teil" von Gisbert Haefs

Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5: Der Erzählungen erster Teil
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Unbeschreiblich schöne Kurzgeschichten
Faszinierende Erzählungen

- Rezension bezieht sich auch auf den Nachfolgeband mit weiteren Erzählungen -

Inhalt

Kurzgeschichten und auch ihre Sammelbände sind inhaltstechnisch schwer zu beschreiben, und Borges Werk ist leider (aber eigentlich besser: Gottseidank) alles andere als die Ausnahme zur Regel: Borges Geschichten sind unmöglich knapp zusammenzufassen. Insofern hier also nur ein grober Überblick über behandelte Themen, im Meinungsteil findet sich dann mehr zu einzelnen Kurzgeschichten.
Viele von Borges kurzen Erzählungen sind dem Reich der Phantastik zuzuordnen, auch wenn das Fiktionale meist eher beiläufig in die Welt ganz normaler Menschen tritt. Die  Auswirkungen hingegen sind in fast allen Fällen erschreckend und führen zu tiefgreifenden Veränderungen im Weltbild der Menschen.
Nicht wenige Geschichten spielen in Argentinien, und erzählen von ganz gesetzestreuen Bürgern oder kriminellen Verbrechern. Offensichtlich Fiktionales sucht man in ihnen vergebens, auch wenn Borges seine Geschichten gerne sowohl mit realen, als auch mit erfundener Quellliteratur zu verifizieren und belegen sucht.

Meinung

Borges Geschichten sind ein Muss für jeden Liebhaber stilistisch außergewöhnlicher Literatur. Auch wenn ich selbst nicht all seinen Erzählungen etwas abgewinnen konnte, vor allem weil mir der argentinische Hintergrund fehlt, der für manche Geschichten mit Sicherheit von Vorteil gewesen wäre, gibt es doch einige „Perlen“, die sich nicht nur für Bibliophile lohnen.

Als erstes ist hier natürlich die Geschichte mit dem Titel „Die Bibliothek von Babel“ zu nennen: Borges beschreibt ein Universum, das von sechseckigen Räumen ausgefüllt ist. In jedem Raum finden sich Bücher, und weil das Universum unendlich ist, schließen die Bewohner der „Bücherwaben“ daraus, dass in ihrer Bibliothek jedes nur denkbare Buch zu finden ist – leider ist es gerade deswegen auch nahezu aussichtslos, ein „sinnvolles“ Buch zu finden.

Borges beschreibt dies übrigens so (ein langes Zitat, ich weiß, aber ich konnte nicht widerstehen):

[…] dass die Bibliothek total ist, und dass ihre Regale alle nur möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel  orthographischen Zeichen (deren Zahl , wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolation jeden Buches in allen Büchern, den Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Angelsachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.[\Ende]

Vielleicht nicht das beste und charakteristischste Zitat, das man hätte wählen können, aber eines, das den Irrsinn (?) dieser Idee vielleicht am besten beschreibt.

Sequenzen wie diese findet man ständig in Borges Erzählungen. Auch wenn man, was den Hintergrund der Figuren betrifft, oft im Unklaren gelassen wird, gelingt es dem Autor in wenigen Wörtern, eine ganz eigene, fesselnde Stimmung aufzubauen, und die geschliffenen und auf Hochglanz polierten Sätze, oft Bandwürmern gleich, sind schlicht und ergreifend von einer nicht oft zu findenden Virtuosität.

Abgesehen vom hochwertigen Schreibstil punktet Borges im Bereich der phantastischen Kurzgeschichten mit überaus interessanten Ideen, beispielsweise in der Erzählung „Das Aleph“: unter der Kellertreppe eines x-beliebigen Menschen befindet sich das titelstiftende Aleph, ein Punkt, der in sich das gesamte Universum enthält. Erneut sind die Beschreibungen, was der Mann sieht, als er hineinblickt, gigantisch. Alternativ die Geschichte „Das Sandbuch“, das ein einziges Buch zur Handlung hat, welches allerdings unendlich viele Seiten besitzt und seinen Besitzer langsam in den Wahnsinn zu treiben scheint.

Es sei noch erwähnt, dass ich nicht allen seiner Geschichten einen Sinn abringen konnte. Damit ist ausdrücklich nicht auf das oben erwähnte fehlende Verständnis zu Argentinien verwiesen, sondern darauf, dass manche Erzählungen aufgrund ihrer Kürze und der „seltsamen Ereignisse“, die sich in ihr abspielen, ohne Erklärung bleiben und es zumindest mir nicht leicht machen, den Sinn oder die Absicht des Autors zu entschlüsseln.

Insofern sind die Kurzgeschichten sicherlich nichts für zwischendurch, man braucht seine Zeit, um sich auf Borges Schreib- und Erzählstil einzulassen. Wer dies allerdings tut, wird mit absolut einmaligen Geschichten belohnt.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Schöne Neue Welt (ISBN: 9783596905737)

Bewertung zu "Schöne Neue Welt" von Aldous Huxley

Schöne Neue Welt
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Ohne jden Zweifel unter den Top drei der Dystopien.
Schöne, alte Dystopie

Inhalt

Im Jahr 2540 werden Menschen nicht mehr geboren, sondern in großen Fabriken gezüchtet und auf ihr Leben in ihrer spezifischen Kaste konditioniert. Der Psychologe Bernard Marx, Angehöriger der obersten Klasse, also ein Alpha, verabredet sich mit der Beta und Fabrikarbeiterin Lenina Crown zu einem Ausflug in ein amerikanisches Reservat. Dort werden Menschen „gehalten“, die sich nicht in die moderne Gesellschaft integrieren wollen. Sie treffen John, den Sohn einer ehemaligen Beta,  die es vor Jahrzehnten unfreiwillig ins Reservat verschlagen hat.
Dieser verliebt sich in Lenina, kommt aber mit der freizügigen Sexualmoral nicht zurecht.
Seine Versuche, die Gesellschaft mittels Versen von Shakespeare zu verändern, scheitern – der Weltaufsichtsrat erklärt, dass die Menschen den Inhalt schlichtweg nicht mehr verstehen würden, und das sei gut so. Schlussendlich entschließt sich John zu einem Leben als Eremit. Als ihn aufgrund von Reportagen allerdings zahllose Schaulustige aufsuchen und beobachten wollen, begeht der „edle Wilde“ Selbstmord.

Meinung

„Brave, New World“, bzw. „Schöne Neue Welt“ von Aldous Huxley gehört nicht von ungefähr zu den absoluten Klassikern dystopischer Literatur, und hält locker mit Werken wie „1984“ oder „Fahrenheit 451“ mit – meiner Meinung nach überflügelt der Roman diese sogar. Das liegt vor allem an der besseren Prophezeiungsfähigkeit des Autors, der heutige Entwicklungen mit erstaunlicher Präzision vorhergeahnt und  noch einmal mehrere hundert Jahre in die Zukunft konsequent extrapoliert hat.

Der hohe Technologisierungsgrad der zivilisierten Menschheit äußert sich vor allem in ihrer Fähigkeit, ein gesellschaftliches Kastensystem entwickelt zu haben, bei dem die Menschen physio- und psychologisch dahingehend manipuliert werden, mit ihrem Leben und ihrer Kaste zufrieden zu sein. Das Bokanowski-Verfahren, bei dem (realistisch betrachtet und ehrlich ausgesprochen) beschränkt intelligente, willige Arbeitssklaven herangezogen werden, die nicht einmal den Ehrgeiz zur Revolution besitzen, ist das wohl größte Anzeichen einer Gesellschaft, die alle Menschlichkeit verloren hat. Auch wenn der Mensch von Heute noch einige Jahre von einer solchen „Zivilisationsstufe“, als die sie nur ein Zyniker bezeichnen könnte, entfernt, aber anhaltende Debatten um Wunschkinder im Reagenzglas und ähnliche, erbittert geführte Diskussionen führen in genau diese Richtung.

Andere Themengebiete werden nur nebenbei angeschnitten, wie das Konsumverhalten der Menschen in der Zukunft: Spiele sind zu Materialschlachten verkommen, Arbeitern wird eingeimpft, gerne ins Grüne zu fahren, weil nur durch den ständigen Verbrauch von Gütern die Wirtschaft in Gang gehalten werden kann – Parallelen zu den heutigen Lebenszyklen mancher Produkte sind selbstverständlich rein zufällig…

Frühsexualisierung, sexuelle Freiheit und tabuisierte Begriffe wie „Mutter“ und „Vater“, oder noch entsetzlicher, „natürliche Geburt“ sind ebenfalls Gegenstand fortlaufender Meinungsverschiedenheiten. Dazu kommt die legale Volksdroge „Soma“, deren Gebrauch von allen Widrigkeiten des Lebens ablenken soll, wodurch die Bürger zur manipulierbaren Masse mutieren.

Es ist bemerkenswert, dass trotz all dieser Ablenkung den Menschen eine geistige Leere zu spüren verbleibt, die selbst der genial beschriebene „technologische Religionskult“ um den Automobilhersteller Ford mitsamt seinen orgiastischen Vereinigungsfeiern nicht zu überdecken vermag. Immerhin werden Abweichler und Außenseiter nicht zur Strecke gebracht wie in anderen Dystopien, sondern ganz human auf entlegene Inseln abgeschoben, was dem Zyniker als Hoffnung reichen muss.

Huxley greift auch das Motiv des „Edlen Wilden“ auf, das Prinzip des Menschen, der als primitiv bezeichnet und betrachtet wird, in Wahrheit – und für den Leser vollkommen offensichtlich – moralisch weitaus höher stehend ist als der Rest der „zivilisierten“ Menschheit.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Cover des Buches Die Sonnenstadt (ISBN: 9783150185100)

Bewertung zu "Die Sonnenstadt" von Tommaso Campanella

Die Sonnenstadt
cynthorvor 7 Jahren
Kurzmeinung: Nicht ganz so gut wie Morus "Utopia", zählt aber trotzdem zurecht zu den drei Klassikern der utopischen Literatur.
Klassische Utopie

Inhalt

Ein Seemann erzählt seinem Gastgeber von seinen Reisen und berichtet insbesondere von seinem Aufenthalt in der Sonnenstadt, einem utopischen Stadtstaat.

Meinung

Auch wenn Campanellas Sonnenstadt viele Parallelen zu Morus Utopia aufweist, unterscheiden sie sich doch in wichtigen Details.
Während bei Morus alle Religionen gleichberechtigt sind, wird die Sonnenstadt theokratisch beherrscht, d.h. der „Regierungschef“, als Sonne bezeichnet, ist gleichzeitig auch oberster Priester, der mit einem Beratergremium von drei Mann, deren Titel bzw. Ansprache Macht, Weisheit und Liebe sind, die Geschicke des Sonnenstaates lenkt. Diese drei haben auch die Befehlsgewalt über die entsprechenden Regierungsbereiche: Macht kümmert sich um Kriegsangelegenheiten, Liebe um die Kinder und deren Zeugung (dazu später mehr), Weisheit schließlich um die Bildung. Diese wird mit einem großen Fokus auf die Allgemeinbildung vermittelt, Kinder lernen von klein auf die wesentlichen Erkenntnisse kennen, die die Bewohner des Sonnenstaats erlangt haben. Interessanterweise sind diese an die steinernen Ringwände der Stadt geschrieben und gemalt. Mein Religionslehrer sagte immer, dass die Kirchengemälde das Fernsehen des Mittelalters waren, die Malereien der Sonnenstadt stellten dann sozusagen das antike „Fernsehprogramm“  dar - ein Vergleich zum heutigen ist an dieser Stelle wohl überflüssig.

Das Zeugungsprogramm der Stadtbewohner und ihr Versuch, mittels vorgeschriebenen Fortpflanzungspartnern eine „neue, starke Menschenrasse“ zu züchten, wie man heute sagen würde, ist dann schon wieder überaus fragwürdig. Nicht ganz so stark wie der Vorläufer, gibt trotzdem Stoff zum Nachdenken.

Sonnige Tage und erholsame Nächte!

PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.

Über mich

Tja, was soll ich hier groß schreiben? Ich lese viel und gerne und habe meinen ersten Roman veröffentlicht: Ethopia - Erwachen ist ein philosophischer Fantasyroman. Neugierig? Dann seht euch meinen Blog an, auf dem ihr auch alle meine Rezensionen findet.. Statt viel über mich zu erzählen, zitiere ich lieber passende, kluge Sprüche von intelligenteren Menschen: "Ich möchte wissen, was die Welt, im Innersten zusammenhält." (Original von Goethe) "Bücher sind Bienen, die lebenzeugenden Blütenstaub von einem Geist zum andern tragen." (Original von James R. Lowell) "Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als Ihr sie vorgefunden habt." (Original von Lord Robert Baden-Powell) "Gott dienen ist Freiheit." "Wer den Tod ablehnt, lehnt das Leben ab. Denn das Leben ist uns nur mit der Auflage des Todes geschenkt: es ist sozusagen der Weg dorthin." (Original von Seneca)

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Krimis und Thriller, Fantasy, Science-Fiction

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