- Rezension bezieht sich auch auf den Nachfolgeband mit weiteren Erzählungen -
Inhalt
Kurzgeschichten und auch ihre Sammelbände sind inhaltstechnisch schwer zu beschreiben, und Borges Werk ist leider (aber eigentlich besser: Gottseidank) alles andere als die Ausnahme zur Regel: Borges Geschichten sind unmöglich knapp zusammenzufassen. Insofern hier also nur ein grober Überblick über behandelte Themen, im Meinungsteil findet sich dann mehr zu einzelnen Kurzgeschichten.
Viele von Borges kurzen Erzählungen sind dem Reich der Phantastik zuzuordnen, auch wenn das Fiktionale meist eher beiläufig in die Welt ganz normaler Menschen tritt. Die Auswirkungen hingegen sind in fast allen Fällen erschreckend und führen zu tiefgreifenden Veränderungen im Weltbild der Menschen.
Nicht wenige Geschichten spielen in Argentinien, und erzählen von ganz gesetzestreuen Bürgern oder kriminellen Verbrechern. Offensichtlich Fiktionales sucht man in ihnen vergebens, auch wenn Borges seine Geschichten gerne sowohl mit realen, als auch mit erfundener Quellliteratur zu verifizieren und belegen sucht.
Meinung
Borges Geschichten sind ein Muss für jeden Liebhaber stilistisch außergewöhnlicher Literatur. Auch wenn ich selbst nicht all seinen Erzählungen etwas abgewinnen konnte, vor allem weil mir der argentinische Hintergrund fehlt, der für manche Geschichten mit Sicherheit von Vorteil gewesen wäre, gibt es doch einige „Perlen“, die sich nicht nur für Bibliophile lohnen.
Als erstes ist hier natürlich die Geschichte mit dem Titel „Die Bibliothek von Babel“ zu nennen: Borges beschreibt ein Universum, das von sechseckigen Räumen ausgefüllt ist. In jedem Raum finden sich Bücher, und weil das Universum unendlich ist, schließen die Bewohner der „Bücherwaben“ daraus, dass in ihrer Bibliothek jedes nur denkbare Buch zu finden ist – leider ist es gerade deswegen auch nahezu aussichtslos, ein „sinnvolles“ Buch zu finden.
Borges beschreibt dies übrigens so (ein langes Zitat, ich weiß, aber ich konnte nicht widerstehen):
[…] dass die Bibliothek total ist, und dass ihre Regale alle nur möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl , wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolation jeden Buches in allen Büchern, den Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Angelsachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.[\Ende]
Vielleicht nicht das beste und charakteristischste Zitat, das man hätte wählen können, aber eines, das den Irrsinn (?) dieser Idee vielleicht am besten beschreibt.
Sequenzen wie diese findet man ständig in Borges Erzählungen. Auch wenn man, was den Hintergrund der Figuren betrifft, oft im Unklaren gelassen wird, gelingt es dem Autor in wenigen Wörtern, eine ganz eigene, fesselnde Stimmung aufzubauen, und die geschliffenen und auf Hochglanz polierten Sätze, oft Bandwürmern gleich, sind schlicht und ergreifend von einer nicht oft zu findenden Virtuosität.
Abgesehen vom hochwertigen Schreibstil punktet Borges im Bereich der phantastischen Kurzgeschichten mit überaus interessanten Ideen, beispielsweise in der Erzählung „Das Aleph“: unter der Kellertreppe eines x-beliebigen Menschen befindet sich das titelstiftende Aleph, ein Punkt, der in sich das gesamte Universum enthält. Erneut sind die Beschreibungen, was der Mann sieht, als er hineinblickt, gigantisch. Alternativ die Geschichte „Das Sandbuch“, das ein einziges Buch zur Handlung hat, welches allerdings unendlich viele Seiten besitzt und seinen Besitzer langsam in den Wahnsinn zu treiben scheint.
Es sei noch erwähnt, dass ich nicht allen seiner Geschichten einen Sinn abringen konnte. Damit ist ausdrücklich nicht auf das oben erwähnte fehlende Verständnis zu Argentinien verwiesen, sondern darauf, dass manche Erzählungen aufgrund ihrer Kürze und der „seltsamen Ereignisse“, die sich in ihr abspielen, ohne Erklärung bleiben und es zumindest mir nicht leicht machen, den Sinn oder die Absicht des Autors zu entschlüsseln.
Insofern sind die Kurzgeschichten sicherlich nichts für zwischendurch, man braucht seine Zeit, um sich auf Borges Schreib- und Erzählstil einzulassen. Wer dies allerdings tut, wird mit absolut einmaligen Geschichten belohnt.
Sonnige Tage und erholsame Nächte!
PS: Wem der Stil meiner Rezension bzw. die Auswahl der vorgestellten Bücher gefällt, findet auf meinem Blog (https://cynthor.wordpress.com) weitere „Bücherschätze“ und auch Infos zu meinem eigenen gesellschaftskritischen Fantasy-Roman „Ethopia – Erwachen“.