Bewertung zu "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" von Adam Johnson
Einige Male habe ich überlegt, das Buch beiseite zu legen. Es schildert die absurde Brutalität und Hoffnungslosigkeit des Alltags in Nordkorea in einer ungewöhnlichen Weise, die mir sehr nahe ging. Was dem namenlosen Helden ganz normal vorkommt und „en passant“ beschrieben wird, ist für einen Mitteleuropäer nicht vorstellbar.
Ein „normales“ Leben scheint unter den geschilderten Bedingungen völlig unmöglich, weil es komplett fremdbestimmt ist. Nahrung wird (falls welche vorhanden ist) zugeteilt, Kinder und schöne Frauen werden willkürlich verschleppt, Angestellte von der Straße für mehrwöchige Ernteeinsätze eingesammelt. In den Arbeitslagern müssen die Menschen wegen geringster Verfehlungen bis zum Tod durch Erschöpfung schuften. Und in den Wohnzimmern rufen fest eingebaute Lautsprecher zur Denunziation auf, damit es Nachschub für die Lager gibt. Das System ist grotesk unmenschlich wie das in „1984“, aber wohl zu großen Teilen Realität, denn Johnson recherchierte auch vor Ort.
Als ich mich dann entschloss weiterzulesen, wandelte sich das Buch plötzlich. Ein Folterknecht wird zum Erzähler, der „Geliebte Führer“ tritt persönlich auf, und die allgegenwärtigen Lautsprecher werden von Johnson geschickt in die Erzählung eingebaut. Als hätte der Erzähler gerade noch rechtzeitig bemerkt, dass er dem Leser zuviel zumutet, kippt die Stimmung ins Groteske. Lustig wird es nicht, eher bringt der „Geliebte Führer“ eine neue, subtilere Grausamkeit ein. Doch Details und Handlung wirken immer verrückter. Vielleicht, um das unumgängliche (zumindest halbe) Happy End einzuführen.
Von der Handlung und dem Waisen Jun Do, dessen Name eigentlich nur ein Sammelbegriff ist, muss ich nicht viel verraten. Es ist keine klassische Romanhandlung, die einen über die Verknüpfung von Handlungssträngen und sympathischen Figuren einfängt. Andererseits macht Johnson dem „creative writing“ auch einige Zugeständnisse.
Vielleicht wird seine sprunghafte Erzählweise, gespickt mit unglaubwürdigen Wendungen, dem oben beschriebenen, ganz und gar fremdbestimmten Leben eines Nordkoreaners sogar gerecht. Trotzdem gibt es einen kleinen Punktabzug für den Autor, denn es hätte nicht 682 Seiten gebraucht, um diese Geschichte zu erzählen. Sie hat mich berührt, bestürzt, sogar in Gedanken verfolgt. Aber man hätte sie noch stärker konzentrieren können.