Bewertung zu "Immanuel Kant | Wissenswertes über Leben und Wirken des großen Philosophen | Reclam 100 Seiten" von Claudia Blöser
Claudia Blöser: Immanuel Kant – 100 Seiten
Reclam Verlag Stuttgart, Ditzingen 20213
Rezension von Dietrich Pukas 14.01.2024
Die Autorin Claudia Blöser, Professorin für Philosophie an der Uni Augsburg, versteht es meisterhaft, uns Immanuel Kants vielseitige, anspruchsvolle Philosophie in ihrer einmaligen Vielfalt und Einheit zu erschließen, ohne dass wir dafür über besonderes Vorwissen verfügen müssen, so wie es die volkstümliche Reclam-Reihe der 100 Seiten anstrebt. In diesem Sinne können wir uns Kants maßgeblichen Fragen „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ hingeben und uns anhand seiner Methode der Kritik über unser Menschsein, unsere Freiheit und Verantwortung, Gott und die Welt aufklären lassen. Die Erkenntnisse, die wir dabei für unser Selberdenken gewinnen können, mögen uns auch in der aktuellen Krisensituation richtungsweisend sein, denn Kants Philosophie reicht bis zum politischen Ideal ewigen Friedens.
Nach der eindrucksvollen Schilderung von Kants persönlichem, unstetigen Werdegang zum Philosophen und schließlich als Professor für Logik und Metaphysik an der Uni Königsberg geht es zur Hauptsache: zur Methode der Kritik, und zwar der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft stellt Kant die klassischen Probleme der Metaphysik wie der Frage nach Gott, der Unsterblichkeit der Seele sowie der Freiheit des Menschen auf eine neue Basis. Und zwar bestreitet er den herkömmlichen Wissensanspruch für diese Begriffe, weil sie die Erfahrung mit sinnlicher Wahrnehmung überschreiten und deshalb reine Vernunfterkenntnis sein müssen, was jedoch nicht „die Lizenz zum Glauben“ aufhebt. Zur weiteren Bestimmung dieser Erkenntnisarten führt er das zentrale Begriffspaar „a priori“ und „a posteriori“ ein. So sind Urteile a posteriori gültig, weil ihre Begründung aufgrund von Erfahrung erfolgt, während Urteile a priori unabhängig von Sinneseindrücken geschehen, also vor der Erfahrung stattfinden. Im Rahmen seiner Transzendental-Philosophie stellt Kant dann fest, dass die Gegenstände unserer Erfahrung mit unserer Erkenntnis zusammenhängen, und untersucht die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. So ergibt sich: Die Sinnlichkeit liefert die Anschauung der Gegenstände und unser Verstand die Begriffe, sodass aus deren Kombination die Erkenntnis folgt und Kant den berühmt gewordenen Satz geprägt hat: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Sinnlichkeit und Verstand des Menschen müssen zusammen wirken, um Erkenntnis von Gegenständen zu produzieren, womit sich die jeweils einseitigen Positionen von Empirismus und Rationalismus versöhnen lassen.
Die Sinnlichkeit vermittelt uns die Anschauungsformen von Raum und Zeit, der Verstand liefert uns die reinen Verstandesbegriffe von Raum und Zeit, die sogenannten Kategorien a priori. Insofern existieren Raum und Zeit in Abhängigkeit von unserem Erkenntnisvermögen, sie gehören zur Art und Weise und fungieren sozusagen als Brille, wie wir die Welt betrachten. Raum und Zeit sind Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt und als solche nicht selbst Erfahrung, sondern Voraussetzungen oder Formen a priori. Dazu gehört gleichfalls die Kausalität als Verstandesbegriff. Die Ereignisse in der Welt erfahren wir als kausal nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung bestimmt. Das entsprechende Urteil a priori als ein Grundsatz des reinen Verstandes lautet daher: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“. In dem Zusammenhang greift Kant das Problem der transzendentalen Deduktion auf, wie wir von den empirischen Begriffen der Erfahrungsgegenstände, die wir selbst in Auseinandersetzung mit denselben gebildet haben, zu einheitlichen Erfahrungen im Rahmen der Kategorien gelangen. Kants Argumentation dazu: Objektive Erfahrungserkenntnis entsteht, indem wir subjektive Wahrnehmungen einer Vielfalt miteinander zu einer Erfahrungseinheit verknüpfen und die Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes hervorbringen. Die verknüpften Wahrnehmungen müssen Erfahrungen ein und derselben Person sein, die sich durch Selbstzuschreibung ein Urteil bildet und die einheitliche Erfahrung zu Bewusstsein bringt. Das Fällen von Urteilen als Gebrauch der Kategorien ermöglicht wiederum einheitliche Erfahrung von Gegenständen und eine grundlegende Art des Selbstbewusstseins als eigene Identität über die Zeit hinweg. Somit erweist sich die einheitsstiftende Tätigkeit eines erkennenden Subjekts oder Ichs als Grundvoraussetzung des Erkennens, Denkens, Gestaltens der Gegenstände und der Welt.
Des Weiteren befasst sich Claudia Blöser mit den Grenzen unseres Wissens als „Erscheinung und Ding an sich“ nach Kant. Nach den bisherigen Überlegungen erweist sich die Grenze möglicher Erfahrung als Grenze möglicher Erkenntnis. Erscheinungen sind die Gegenstände der Erfahrungen, die wir durch die „Brille der Anschauungsformen und Verstandesbegriffe“ sehen, notwendig in Raum und Zeit gegeben und durch die Kategorien determiniert sind. Das berühmte „Ding an sich“ ist irgendetwas außerhalb unserer Erkenntnisbedingungen, das sich unserem Wissen entzieht, wie die klassischen Gegenstände der Metaphysik „Gott, Unsterblichkeit, Freiheit“. Einzig die Grundsätze unseres Verstandes wie „Jede Veränderung hat eine Ursache“ oder mathematische Formeln und grundlegende physikalische Gesetze können beanspruchen, (synthetische) Urteile a priori zu sein und damit das zentrale metaphysische Kriterium zu erfüllen. Aber die Struktur der menschlichen Vernunft verlange, nach dem „Unbedingten“ zu suchen. Eine „Zwickmühle der Vernunft“ demonstriert Blöser am Beispiel der Freiheit: Es gibt keine Kausalität aus Freiheit, sondern nur ihre logische Möglichkeit und den Trost, dass unser freies Handeln nicht naturwissenschaftlich widerlegt werden kann. Aber es besteht noch die praktische Wende der Metaphysik: die Fortsetzung von Kants Kritik der reinen oder theoretischen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft. Erstere wendet sich an uns als erkennende Wesen und macht darüber Aussagen, was der Fall ist und warum, während die praktische Vernunft sagt, was sein soll, und unser Handeln leitet.
Mit Letzterer zeigt uns Kant, dass wir tatsächlich frei sind, und zwar aufgrund seiner Moralphilosophie. Diese basiert auf der zentralen Idee, dass a priori ein gültiges Moralgesetz existiert, das notwendig und ausnahmslos, also kategorisch gilt. Das enthaltene unbedingte Sollen setzt nach einem grundlegenden Satz der Metaethik Können voraus. Das heißt, wir müssen fähig sein, dieser Verpflichtung auch prinzipiell nachzukommen. Wenn für uns ein Sollen verbindlich gilt, können wir demnach sicher sein, dass wir die Sollensforderung befolgen können. Also können wir uns bewusst sein, unabhängig von allen natürlichen Bestimmungen und Ursachen das moralisch Richtige zu tun, und das macht einen wesentlichen Aspekt unserer Freiheit aus. Dass moralische Gesetze kategorisch für uns gelten, nennt Kant das „Faktum der Vernunft“. Nach unserem Selbstverständnis als moralische Wesen sind wir uns folglich unserer Freiheit bewusst; auch wenn wir nichts über sie wissen, können wir an sie glauben und sie postulieren. So hebt Kant am Beispiel der Freiheit das Wissen auf, um zum Glauben vorzudringen. Praktische Gründe stützen den Glauben, der uns erlaubt, an der Idee der Freiheit festzuhalten, obwohl wir nicht beweisen können, dass wir frei sind.
Mit dieser auf praktischen, moralischen Gründen fußenden Argumentation erklärt Kant ebenfalls, wieso der Glaube an Gott und Unsterblichkeit vernünftig ist. Demnach ist die praktische Vernunft auf ein Idealbild einer perfekt gerechten Welt ausgerichtet, in der alle Menschen so glücklich sind, wie sie es nach ihren moralischen Verhaltensweisen verdienen. Dieses nach Kant „höchste Gut“ müssen wir aufgrund unserer real existieren Welt für unmöglich halten. Dennoch dürfen wir das erhabene Moralgesetz nicht als Trugbild abtun und die Moral ins Wanken bringen, weil wir ihr unbedingt verpflichtet sind, sie grundsätzlich erfüllen und nach besten Kräften befördern können. Und wenn wir voraussetzen, dass Gott existiert, können wir auf unser verdientes Glück hoffen. Hier erwägt Kant verschiedene Varianten: Entweder teilt Gott jedem das Seine zu oder er hat die Welt so geschaffen, dass jedem das Seine zukommt. Für die Annahme der Unsterblichkeit gibt Kant zwei Gründe an: Zum einen können wir darauf vertrauen, dass irgendwann (auch nach dem Tod) alle ihren Anteil am Glück erhalten oder wir andererseits unendlich viel Zeit brauchen, um moralisch perfekte Personen zu werden. Insofern das zutrifft, sind der Glaube an Gott und Unsterblichkeit eng mit unserem praktischen, moralischen Selbstverständnis verbunden. Die Lizenz an diesen Glauben schließt das Prinzip der Hoffnung ein. Die beiden fundamentalen Ziele des menschlichen Lebens – Glück und Moral – können in Konflikt miteinander geraten, sodass sich ihre Vereinbarkeit als unsicher erweist und wir auf ihre Harmonie als höchstem Gut hoffen müssen. Das ist für Kant die Hoffnung auf die eigene Glückseligkeit, die alle Menschen teilen. Die kritische Nachfrage, ob wir für die Umsetzung davon den göttlichen Beistand brauchen, berührt nach Autorin Blöser nicht Kants Grundidee des Zusammenspiels von theoretischer und praktischer Vernunft, wobei er Letzterer die Führung einräumt. Als wesentlich handelnde Personen müssen wir uns in der Welt orientieren und wissenschaftliche, theoretische Erkenntnisse gewinnen, die sich oft nicht bestätigen, aber auch nicht widerlegen lassen. Daher können unsere praktischen, moralischen Belange dafür entscheidend sein, was wir über die Welt glauben.
Im vorliegenden Buch über Kants umfangreiches Werk geht es im Folgenden weltlicher zu
und die höchste Zielvoraussetzung wartet nicht erst nach dem Tod auf uns, sondern zum Beispiel als politische Hoffnung, der wir als politisches Ideal konkret näher kommen wie Verbesserung durch Bekämpfung von Armut und Unterdrückung. Zunächst befasst sich Claudia Blöser mit Kants Moralphilosophie „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und betrachtet diese aus der Perspektive „Freiheit und moralisches Gesetz“. Und zwar setzt Kant mit seiner Ethik beim Subjekt an, welches das Sollen, das für alle verbindlich gelten soll, selbst zustande bringt. Dafür setzt er den guten Willen der Person voraus, die nicht nur pflichtmäßig, sondern aus Pflicht handelt. Das heißt, moralisches Handeln wird aus richtigen Gründen, ein Gesetz achtend, jedoch auch aus Neigung vollzogen. Das Moralgesetz tritt immer als Imperativ auf, und zwar kategorisch als moralisches Prinzip a priori, das rein formal ist ohne empirische Bedingungen: Handle nur nach derjenigen Maxime als Grundsatz, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Das menschliche Handeln nach Maximen begründet unsere Freiheit und macht unseren Charakter aus, indem wir selbst entscheiden, ob und wann eine Neigung handlungswirksam wird, statt einfach impulsiv zu sein. Indes müssen wir unsere Maximen kritisch auf Widersprüche prüfen, wenn sie allgemeine Handlungsregeln sein sollen. In der weiteren Differenzierung der Problematik geht es noch um die Zweckformel, nämlich Gebrauch einer Person als Mittel und Zweck, sowie die menschliche Autonomie der Selbstgesetzgebung und gleiche Würde aller Menschen zu freien moralischen Entscheidungen. Kants Ethik ist als leerer Formalismus oder ebenfalls als Rigorismus z. B. vom Philosophen Hegel kritisiert worden, jedoch beispielsweise von Jürgen Habermas für seine Sozialtheorie als Anknüpfpunkt aufgenommen worden.
Nachdem Kant in seinen Kritiken die Reichweite und Grenzen der menschlichen Vermögen oder Hauptfähigkeiten bestimmt sowie deren Prinzipien a priori aufgezeigt hatte – nämlich für die Sinnlichkeit die Anschauungsformen, den Verstand die Verstandesbegriffe, die Vernunft das Moralprinzip a priori –, widmete er sich der Kritik der Urteilskraft und suchte dafür gleichfalls Prinzipien a priori, was Blöger in einem Kapitel „Das Schöne und Erhabene, das Lebendige und die Brücke zwischen Natur und Freiheit“ abhandelt. Für seine Kritik der Urteilskraft entwarf Kant eine ästhetische Theorie über das Schöne und das Erhabene, eine Theorie über das Lebendige als Beitrag zur Forschungslogik der Biologie sowie eine Theorie über die Verbindung zwischen Natur und Freiheit. Die Urteilskraft bedeutet für Kant die Fähigkeit, das Besondere im Allgemeinen zu denken und zu erkennen. Er unterscheidet die bestimmende Urteilskraft als Vermögen, die Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit oder Anschauung unter die allgemeinen Ordnungsmuster, Begriffe und Grundsätze des Verstandes zu ordnen, sowie die reflektierende Urteilskraft, zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine als je eigenes Prinzip a priori zu finden. Und das ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit, und zwar in dem Sinne einer gewissen Harmonie, dass Teile zu einem einheitlichen Ganzen zusammenstimmen. In Kants Ästhetik und Naturteleologie ist es die Idee, dass die Natur und unser Erkenntnisvermögen zueinander passen. Wohlgefallen und Interessenlosigkeit des Subjekts sind der Schlüssel zu einem Schönheitsurteil. Wenn dieses Geschmacksurteil von allen geteilt werden soll, müssen Verstand und Einbildungskraft bei Betrachtung des Gegenstandes in Harmonie Lust entfalten als allgemeines Lebensgefühl, das einem Gemeinsinn entspricht, was beispielsweise für die Üppigkeit der Gegenstände verschwenderischer Natur oder geniale Kunstwerke gilt. Dabei vergnügen sich Verstand und Einbildungskraft im ungezwungenen Spiel frei von begrifflichen Zwängen und ihrer Aufgabe, Erkenntnis zu erzeugen. Kant bringt den Bezug zwischen Geschmacksurteil und Freiheit bzw. Moral nach Blöser auf die Formel „Das Schöne ist Symbol des Sittlich-Guten“. Wir erleben nämlich aufgrund der „ästhetischen Beurteilung im Medium der Anschaulichkeit und gefühlsmäßig die Freiheit, deren Begriff in der Moral vorausgesetzt wird“. Mit dem Urteil über das Erhabene ist es ähnlich: Im Fall der Schönheit kommt es auf das zweckmäßige Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand an und beim Erhabenen von Einbildungskraft und Vernunft. Der wesentliche Unterschied zum Schönheitsurteil besteht darin, dass die Erfahrung des Erhabenen durch ein gemischtes Gefühl aus Lust und Unlust charakterisiert wird. Als Beispiel kommt die Erfahrung der Machtlosigkeit angesichts von Naturgewalten in Frage, die einerseits Unlust erzeugt und gleichzeitig eine Kraft in uns anregt, uns einer Überlegenheit über die Natur bewusst zu werden. Das ist unser moralisches Vermögen, nämlich die Freiheit, uns Menschen von der Naturordnung unabhängig zu machen. Es handelt sich dabei um subjektive Zweckmäßigkeit der Erkenntniskräfte des Subjekts.
Eine objektive Zweckmäßigkeit schreibt Kant den Objekten selbst zu und erklärt die Natur teleologisch oder zielgerichtet in dem Sinne, dass wir Organismen nur als Naturzwecke verstehen. Das heißt: Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es in sich Ursache und Wirkung zugleich ist, z. B. wenn ein Baum einen anderen erzeugt, wodurch sich Organismen von rein mechanischen Gegenständen wie einer Uhr unterscheiden. Ein organisiertes Wesen ist nicht bloß Maschine, sondern hat bewegende und sich fortpflanzend bildende Kraft. Insofern liegt es in der Eigenart des menschlichen Verstandes, in seiner Naturbetrachtung sowohl mechanisch-kausale als auch als auch teleologische Erklärungsmuster anzuwenden. Und deshalb führen Kants Reflexionen über Organismen zur Zielvoraussetzung eines „nach Absichten handelnden Wesen als Weltursache, also zu Gott und wir können nach der Zweckmäßigkeit der Natur als Ganzes fragen und schließlich, ob die Welt als Ganzes einen Zweck hat. Dieser letzte Zweck der Natur oder die zweckmäßig eingerichtete Welt ist unter der Bedingung möglich, dass sie ein geordnetes System als Hierarchie von Zwecken bildet. Und dieser Endzweck der Welt ist nach Kant der Mensch als „Krone der Schöpfung“. Hier stellt Blöser von heutiger Warte zurecht fest, dass man dies hinsichtlich der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur als Ausdruck menschlicher Selbstüberschätzung oder Versuch philosophischer Legitimation werten und gegenüber diesem Anthropozentrismus mit dem Menschen als Maß aller Dinge im Zentrum eine bescheidenere Haltung anmahnen könnte, die der gebeutelten Natur zu ihrem Recht verhilft. Jedoch stellt die Autorin klar, dass der Mensch „nicht per se Endzweck“ ist, „sondern nur als moralisches Wesen“, was Kants Position die Spitze nimmt und sie für uns annehmbarer macht. Der Mensch als moralisches Wesen steht nicht außerhalb der Natur, sondern ist als ihr Teil zu verstehen ist. Daher ist die Natur von ihrer eigenen Struktur her der Moral zuträglich und die Moral wird durch Natur befördert und kann in der Welt verwirklicht werden.
All das, was ich hier im verkürzten Umfang und Zusammenhang dargestellt habe und im Original differenzierter, anschaulicher und verständlicher dargelegt ist, kann man als Erkenntnis-Grundlage nehmen, um philosophisch überzeugend das Kapitel zu betrachten, das Claudia Blöser dankenswerter Weise ins Buch aufgenommen hat und uns in der krisenhaften , von grausamen Kriegen erschütterten Gegenwart wahrscheinlich am meisten interessiert oder in der Seele brennt: „Politik und Fortschritt – Der Weg zum ewigen Frieden“. Kant nahm regen Anteil am politischen Geschehen seiner Zeit, die Französische Revolution von 1789 war ein Lieblingsthema in seinen Tischgesprächen, weil er sie als „Geschichtszeichen“ für den moralisch-politischen Fortschritt verstand, allerdings schwor er jeglicher Gewaltanwendung ab und setzte sich in seinen Schriften für den Frieden ein. Dieser durfte für ihn kein Waffenstillstand sein, sondern musste in einer dauerhaften Friedensordnung bestehen, die auf gesetzförmig geregelter Freiheit beruhte und im Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht verankert ist. Die tragende Säule seines Staatsverständnisses stellt das angeborene Recht auf Freiheit dar und insofern kann Kant als Vordenker für die Menschenrechte gelten. Denn aus dem Recht auf Freiheit folgen unmittelbar die Gleichheit und Selbstständigkeit der Staatsbürger sowie die Meinungsfreiheit. Und dem Freiheitsrecht entspricht die republikanische Verfassung, die unserer heutigen Auffassung von repräsentativer Demokratie mit der Selbstgesetzgebung der Bürger nahekommt. Kants Staatstheorie war wegweisend für den politischen Liberalismus, indem Herrschaft auf Freiheit als angeborenem Recht gegründet wird und sich der Staat dadurch legitimiert, dass er individuelle Freiheitsrechte sichert. Indes legte Kant dem Volk bei ungerechter Herrschaft ein Widerstandsverbot auf, da Rebellion und Anarchie schlechter seien als jede Form staatlicher Organisation. Das Völkerrecht enthält Normen, die den Krieg regeln, bis er vollständig abgeschafft ist. Den eigentlichen Kern dieses Rechts bildet die beständige rechtliche Ordnung zwischen den Staaten, die ein Völker- oder Friedensbund gewährleisten soll. Ein solcher bestand vom Ersten Weltkrieg 1919 bis zum Zweiten 1944, als Nachfolgeorganisation versucht seitdem die UNO im Sinne Kants die Erhaltung der Freiheit der Mitgliedsstaaten, friedliche Streitschlichtung sowie den Schutz der Menschenrechte zu sichern. Dazu ist ein schwieriger Balanceakt zu vollführen: Einerseits bedarf es genügender Verbindlichkeit, um Staaten am Krieg zu hindern, andererseits darf die innere Autonomie der Staaten nicht eingeschränkt werden und eine Zusammenschmelzung zu einer globalen Supermacht muss verhindert werden. Über das Staats- und Völkerrecht hinaus hatte Kant die Idee des Weltbürgerrechts, dass Individuen auch noch Mitglieder einer globalen Rechtsgemeinschaft sind und ein Besuchsrecht auf fremden Boden haben sollten. Laut Blöser begründet Kant de facto ein Asylrecht, wenn er fordert, dass ein Besucher nur abgewiesen werden kann, wenn dies nicht seinen Untergang bedeutet. Gleichzeitig soll mit der Beschränkung des Gastrechts auf bloßes Besuchsrecht kein Recht der Ansiedlung auf dem Boden eines anderen Volkes erworben werden, um ausufernden Kolonialismus und ausdrücklich Sklaverei zu verhindern.
Schließlich fragt Blöser, ob es unhaltbarer Optimismus ist, wenn Kant seine Friedensschrift mit der Beteuerung endet, dass der ewige Frieden keine leere Idee, sondern eine Aufgabe ist, deren Erfüllung wir uns annähern können und müssen. Denn Kant nimmt an, dass die menschliche Geschichte ein Ziel hat und gibt die Bedingungen an, unter denen wir dies erwarten können, womit er die Grundlage für die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus schafft. Zwar sagt er, dass wir den Fortschritt nicht erkennen können, jedoch dürfen wir hoffen, dass wir auf dem Weg zum ewigen Frieden sind. Seinen Fortschrittsglauben gründet er zum einen auf den negativen Eigenschaften und dem zwiespältigen Verhältnis der Menschen zueinander wie Neid, Eifersucht, Habsucht, Arroganz und gewinnt ihnen als positive Seite Antriebskraft für die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und Talente ab, insofern Kampf und Not zu ihrer eigenen Überwindung drängen. So unterstütze die zwiespältige Naturanlage des Menschen die Bildung staatlicher Gemeinschaften, in denen das Gegeneinander derart geregelt werde, dass die aufbauenden Effekte zum Wirken kommen. Außerdem führt Kant weitere natürliche Mechanismen für den Fortschritt ins Feld: 1. die friedensfördernde Struktur von Republiken, da die Staatsbürger sich gegen Kriegsleiden entscheiden; 2. die Tendenz des Handels zur Friedensbegünstigung; 3. die Funktion der Kontrolle durch die politische Öffentlichkeit. Zwar bergen die Veränderungen auch Sprengstoff für Konflikte, aber das ist kein Beweis gegen die Möglichkeit des ewigen Friedens und wir können unser Bestes geben, um ihn Schritt für Schritt zu realisieren. Denn wenn wir ein Ziel verfolgen, müssen wir vernünftiger Weise annehmen, dass seine Verwirklichung nicht unmöglich ist, und das heißt hoffen und gibt uns mentale Stärke. Das gilt heutzutage für unser Handel angesichts der Klimakatastrophe: Die Menschheit muss hoffend kooperieren, um für das Gelingen und unsere Zukunft kollektiv erfolgreich zu sein. Indes ist das nach Kants Ethik des guten Willens auch moralisch von uns allen gefordert.
Kants Leitidee zur Umsetzung: Aufklärung und die Befreiung von Vorurteilen, Selbstdenken und selbstbestimmte Lebensführung in funktionsfähigen Demokratien. Dazu kann das Buch von Claudia Blöser beitragen und ich hoffe als Neukantianer, dass ich mit dieser Rezension dazu anregen kann.