Bewertung zu "Alles, was wir geben mussten" von Kazuo Ishiguro
Dieses Buch ist so unfassbar gut. Genauso wie der dazugehörige Film!
Aber lest selbst, was mir so gut gefallen hat.
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Meine Meinung:
„Alles, was wir geben mussten“ war mein erster richtiger Erwachsenenroman. Ich habe festgestellt, dass dieses Buch sehr viel mehr, emotional und intellektuell, von mir gefordert hat als die Jugendbücher, die ich sonst so lese. Und das war sehr schön.
Die Geschichte um Kathy, Ruth und Tommy ging mir durch und durch. Sie war erschreckend und bedauernswert und gleichzeitig so schön.
Bevor ich weiter auf die Charaktere und ihre Beziehungen und Handlungen eingehe, muss ich aber dem Autor danken für diese großartige Geschichte. Die Idee ist so realistisch, dass sie einem Angst machen kann. Ich würde nicht darauf wetten, dass dieses schreckliche Szenario niemals in die Wirklichkeit umgesetzt werden würde. Klone zur Organspende. Eine einfache und effektive Lösung. Und so menschenverachtend und grausam.
Die Geschichte kommt weitestgehend ohne Spannung aus. Aber die braucht sie meiner Meinung nach auch nicht. Kathy in ihrem Leben zu begleiten ist so interessant und die Dinge, die zwischen den Zeilen stehen so bewegend, dass man immer weiter lesen will. Bis zum Ende ist einem nicht klar, was hier eigentlich passiert. Und warum.
Ich war froh, dass ich durch den Film bereits grob wusste, worum es überhaupt geht, denn so konnte ich alles viel besser nachvollziehen und war nicht die ganze Zeit verwirrt oder gelangweilt. Im Buch erfährt man natürlich aber noch viel mehr über das „große Geheimnis“, das hinter allem steckt. Es ist schön, am Ende alles so detailliert zu erfahren.
Zur Erzählweise muss ich sagen, dass sie perfekt war, um sich in Kathy hineinversetzen zu können. Man durchlebt mit ihr gemeinsam noch einmal ihr Leben und als Leser versteht man die Dinge meist auch nur aus dem Blickwinkel und mit dem Wissen, das sie selbst zu dem damaligen Zeitpunkt hatte. Man wächst mit ihr auf. Man lernt mit ihr. Man reift mit ihr. Man lebt mit ihr.
Kathy ist ein ganz besonderer Mensch. Sie ist mir so sehr ans Herz gewachsen. Ich habe auf den 350 Seiten mit ihr gelacht, verstanden, geweint und gelitten. Sie ist nicht besonders selbstbewusst oder mutig oder lustig. Und doch ist sie so besonders. Ich habe das Gefühl, sie sieht die Dinge einigermaßen klar, auch wenn sie nie aufhört, an diese „Welt“, in der sie aufgewachsen ist, zu glauben.
Ruth hingegen hat einen alles andere als klaren Blick. Sie ist gemein und selbstsüchtig. Und Kathy bleibt doch immer ihre Freundin, was man mit Selbstlosigkeit oder Dummheit begründen kann. Ich setze auf ersteres. Sie kann verzeihen. Irgendwie kann ich Ruth auch verstehen, obwohl ich sie die meiste Zeit des Buches hätte schlagen können. Aber wie soll sich ein Kind, das unter solchen Umständen aufwächst, auch zu einem klar denkenden und fairen Menschen entwickeln. Deshalb finde ich es umso bemerkenswerter, dass sie sich am Ende ihres Lebens ihre Fehler eingestehen und über ihren eigenen Schatten springen kann, um Kathy und Tommy die Beziehung zu ermöglichen, die sie immer hätten führen sollen.
„[D]ass ich dich und Tommy voneinander ferngehalten habe. […] Das war das Schlimmste, was ich getan habe. […] Ihr beide hättet zusammengehört.“ ~ Ruth, S. 282
Tommy. Oh Tommy. Er ist menschlich und schwach, emotional und intelligent. Und das macht ihn zum allergrößten Opfer dieses Systems. Er hat eine Seele, eine so gute, dass das System ihm wohl das meiste Leid zufügt. Er ergibt sich seinem Schicksal nicht, nimmt die Dinge nicht ungefragt hin, ist kritisch und so liebenswert zu anderen Menschen, dass er selbst ganz auf der Strecke bleibt. Er ist so selbstlos, dass er sich für Ruth entscheidet, ohne sich je wirklich bewusst geworden zu sein, dass er Kathy liebt. Doch er liebt sie. Und sie liebt ihn. Sie sind füreinander gemacht. Sie können einander stützen, sodass das System sie nicht kaputt kriegt. So wie es Ruth kaputt gemacht hat. Und ich bin Ruth so dankbar für die kurze aber wunderschöne Beziehung, die Tommy und Kathy führen konnten.
Ich kann gar nicht all die Details, schöne und schreckliche zugleich, aufzählen, die ich an diesem Buch so lieben gelernt habe. Abgesehen vom Inhalt ist auch das Cover wunderschön.
Doch eine Sache habe ich ganz fest in mein Herz geschlossen: Never let me go von Judy Bridgewater. Auch wenn das Lied nicht real ist, gibt es den extra für den Film komponierten Song, der sich fast komplett mit den Beschreibungen im Buch deckt. Und ich liebe das Lied. Weil es sehr schön klingt, aber vor allem wegen der Bedeutung, die es für Kathy hat.
Und auch Norfolk ist wie für die Hailshamer auch für mich etwas besonderes geworden. Weil es ein so geheimnisvoller Ort ist, aber vor allem weil Tommy und Kathy gemeinsam, nur zu zweit, ganz friedlich, die Judy Bridgewater Kassette dort gefunden haben.
„Eines Tages gehe ich nach Norfolk und finde sie dort“ ~ Tommy, S. 206
Das Ende des Buches ist so schön, so tiefsinnig und doch holt der letzte Satz einen in die eiskalte, grausame, unaufhaltsame Wirklichkeit zurück. Das Buch lässt einen verzaubert und in seinem Glauben an die Menschheit erschüttert zurück.
…“Wir wussten es und wussten es doch nicht“ ~ S. 104 ……………………………………………………. „Aber für uns ist es unser Leben“ ~ S.323
Fazit:
Ein ruhiger aber doch so gewaltiger Roman, der berührt und gleichzeitig verstört. Ein großartiges Werk.