flokratisson
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flokratissons Bücher
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1955: der junge Student Valdemar zieht von der heimischen Idylle im Nordosten Islands in das lebendige Kopenhagen um an der dortigen Universität sein Studium in nordische Philologie fortzusetzen. Seine Vorfreude auf das Studium wird gedämpft, als er erstmals seinen Professor trifft. Ein rüder und verbitterter Mann mit einem augenscheinlichen Alkoholproblem. Nachdem es Valdemar jedoch gelingt, dem Professor von seinen Fähigkeiten im Lesen von Handschriften zu überzeugen, gewinnt er sein Vertrauen und erkennt hinter der harten Schale einen verwundeten Kern. Der Professor weiht ihn in ein erschütterndes Geheimnis ein: Unter Druck gab er einst den Codex Regius, das wichtigste Buch Islands, in die Hände der Nazis. Inzwischen, nach Beendigung des zweiten Weltkriegs, ist es verschollen, doch einige Altnazis, denen einst die Flucht gelang, möchten das isländische Heiligtum wieder an sich reißen. Der Professor hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, ihnen zuvorzukommen und den Fehler wieder auszubügeln. Der anfangs zögerliche Valdemar, der sich einen Studienalltag mit vielen Büchern in einer ruhigen Stube erhofft hatte, wird von seinem Professor in einen Strudel von unheilvollen Ereignissen hineingezogen, die sie nach Deutschland führt. Stück für Stück kommen sie dem Buch näher, doch damit auch ihren Feinden. Es kommt zum Showdown.
Um „Codex Regius“ wertschätzen zu können, empfiehlt sich eine gewisse Affinität zu nordischer Literatur und zur Graphologie. Denn bevor die Geschichte Fahrt aufnimmt und eines „Thrillers“ würdig wird, ist es die Geschichte eines Philologiestudenten, der mit einem vom Leben gezeichneten Professor mittelalterliche Literaturforschung betreibt. Langsam wird der Leser in den Forschungsalltag des Professors eingeführt, doch längere Abschnitte über Forschungsmethoden und Verwandtschaftsverhältnissen von Personen des Mittelalters machen die Lektüre zu einer zähen Angelegenheit.
Erst als der Professor und Valdemar aktiv zur Tat schreiten wird der Leser in den Sog der Geschichte gezogen. Bei ihren Nachforschungen im Nachkriegszeitdeutschland wird die Verzweiflung der vom Krieg geplagten Bewohner sehr authentisch dargestellt; Wie Detektive folgen die beiden Protagonisten jeden kleinsten Hinweis und nähern sich dem Buch der Begierde. Als erstmals Mordfälle ans Licht kommen finden Valdemar und der Professor sich in der ambivalenten Doppelrolle der Jäger und der Gejagten wieder – der Spannungsbogen erreicht den Höhepunkt. Das große Finale ist gut inszeniert, doch viele Geschehnisse sind vorhersehbar, nur selten wird der Leser in die Irre geführt. Hier ist man vom Krimiautoren Arnaldur Indridason besseres gewohnt. In einer Sache ist Indridason sich jedoch treu geblieben: Seine Liebe zum Makabren. Dies wird deutlich, wenn plötzlich Gräber geschändet werden.
Gelungen ist die Einbettung der fiktiven Geschichte in den realen Kontext, einem Vorhaben, bei denen sich schon viele Autoren die Finger verbrannt haben. Die Verstrickung des isländischen Literaturnobelpreisträgers Halldor Laxness in den Thriller ist charmant und wirkt nicht überzogen.
Ein zentrales Thema in dem Buch ist die Besessenheit, die kein anderer mehr verkörpert, als der alte Professor, ein vielschichtiger Charakter, der sein Leben für das Wohlergehen des Codex Regius opfern würde. Die Besessenheit für ein solches Buch lässt sich mit der Rolle der Literatur in Island erklären. Handschriften aus dem Mittelalter ist das größte Kulturgut der Isländer, einem Volk der Autoren, das sich historisch allein durch seine reiche Literatur und Mythologie definiert. Es ist kein Zufall, dass das bekannte Spruch „Lieber barfuß als ohne Buch“ seine Wurzeln auf der Vulkaninsel hat. Auf dem Papier ist Island ist zur Zeit der Handlung bereits seit 11 Jahren unabhängig – doch gefühlt sind sie es erst dann, wenn sich der Codex Regius in heimischen Gefilden befindet, dort, wo sein angestammter Platz ist.
Bei den Antagonisten handelt es sich um ein paar Altnazis, die das Buch mit derselben Besessenheit jagen, wie die Hauptprotagonisten. Ihre Besessenheit basiert auf der Rassenideologie des deutschen Reichs, in dem der nordische Mensch und seine Kultur zum Ideal erhoben wurde. Alles nordische, von Runen bis hin zu alten Mythen, waren für die Nazis, die sich die Kultur aneigneten und sie unter einem “großdeutschen Schirm“ stellten, von unschätzbarem Wert. Die tiefe Abneigung des Professors gegenüber den Nazis liegt in deren Missbrauch und Pervertierung der nordischen Mythologie begründet. Die Antagonisten sind somit glaubhaft, ihre Beweggründe klar ausgearbeitet.
Schön sind die Parallelen zur nordischen Mittelalterliteratur. Die Rolle des Codex Regius erinnert an die des Ringes „Andvaranaut“ im selbigen. Der Ring ist von solcher Pracht, das jeder hinter ihm her ist und über ihn verfügen will. Doch gleichzeitig ist er mit einem Fluch belegt und bringt den Besitzern den Tod. In diesem Werk sind es die Sucher des Codex Regius, die eine Blutspur hinter sich herziehen.
Indridason vermischt in „Codex Regius“ geschickt Fiktion und Realität, porträtiert die Identität einer jungen Nation und ihr Selbstverständnis, und gibt die Atmosphäre im Europa der Nachkriegszeit authentisch wieder. Die Geschichte kommt jedoch nur schwer in Fahrt, ist zum Teil sehr vorhersehbar und ein Interesse an den hohen Norden, so scheint es, ist eine Voraussetzung für den Lesegenuss.
Ein altes Sprichwort besagt: Mischt der Zufall die Karten, so verliert der Verstand das Spiel. Etwa so lässt sich das Schicksal Philips, der Hauptperson in Lukas Bärfuss‘ „Hagard“ zusammenfassen. Es ist eine Geschichte von Zufall und Obsession, einem Wechselspiel beider Elemente. Ein Eintauchen in die Psychologie eines Mannes, der beginnt, seinen Verstand zu opfern, um seinen Sinnen zu folgen. Dazu gesellt sich Kritik an der Gesellschaft und der Welt, dessen grässliche Visage „Hagard“ zu entblößen versucht.
Alles beginnt mit einemPaar Schuhe. Philip, ein Immobilienhändler, wartet in einem Café auf einen Kunden, als er ein blaues Paar Ballerinas erspäht. Die Trägerin: eine zierliche, junge Frau. Philip erkennt ihr Gesicht nicht, doch fasst den Entschluss sich unauffällig an ihre Fersen zu heften. Der zunächst bedeutungslose Zeitvertreib entwickelt sich zu einem Spiel. Die Neugier plagt ihn, er möchte mehr über die Frau erfahren. Schnell wird aus Neugier Hingabe und aus Hingabe Obsession. Philip verfolgt die Unbekannte überall hin, überwacht ihr Haus, gibt seinen Alltag vollends auf. Es folgt eine kräftezehrende Jagd, in der Philip hungert und verwahrlost, sogar Diebstahl begeht und schließlich ins Verderben rennt.
Das Geschehen in „Hagard“ wird primär aus der Perspektive Philips geschildert, eingeleitet wird sie jedoch von einem anonymen Ich-Erzähler, eine Art Verfolger des Verfolgers, der „als Zeuge vollständig und ungeschönt“ von Philips Taten berichten will, samt der „schmutzigen und kranken Momente“. Das Interesse des Lesers ist geweckt, das bizarre Treiben kann losgehen.
Gelingt es Bärfuss die Handlung zu Beginn noch interessant und fließend zu gestalten, verliert er sich zunehmend in belanglosen Beschreibungen und abschweifenden Gedankenströmen. Nahezu jede Beobachtung, die Philip macht, erzeugt Assoziationen und es entstehen langwierige Exkurse zu Gott und der Welt. So liegen nur wenige Sätze zwischen der Beschreibung eines Pelzes und der Erläuterung einer artistischen Sexualpraktik. Die Gedankengänge des Protagonisten mögen unterhaltsam, zum Teil erhellend sein, auf Dauer sind sie vor allem eines: Ermüdend. Zu oft verharrt die Handlung im Stillstand.
Abstrus wird es zum Ende hin, wenn Bärfuss über zehn Seiten vom Leben einer Person erzählt, die in der Handlung keinerlei Rolle spielt. Bärfuss hat, so scheint es, Spaß am Erzählen und es ist ein Handwerk, das er gut beherrscht. Doch in zu vielen Passagen des Buches stellt sich die Frage, worauf er hinaus und was er dem Leser vermitteln möchte.
Bärfuss ist sehr um Zeitkritik bemüht. Ob Vogelgrippe, Krim-Krise oder die verschwundene Boeing 777 der Malaysia Airlines – zahlreiche Katastrophen der Gegenwart sind in der Erzählung eingestreut und so ergibt sich eine düstere Grundstimmung. Der Titel „Hagard“ mag je nach Aussprache so klingen wie der Wandschrank eines schwedischen Möbelhauses, doch es handelt sich hierbei um den französischen Begriff für „verängstigt“ - ein klares Statement zu unserem Zeitgeschehen.
Zu diesem gehören auch die Menschen, über die in Hagard der Stab gebrochen wird. Philips Abneigung gegen alles und jeden ist unübersehbar. „Zwei Spießgesellen in gelber Weste, grinsend und gefräßig“, ist nur eine von vielen spöttischen Personenbeschreibungen. Vielleicht liegt gerade in der Aversion gegen seine Mitmenschen die Ursache für seine Handlungen. Die Abneigung gegen den farblosen Alltagstrott, die Konformität der Gesellschaft und ihre Oberflächlichkeit. Vielleicht projiziert er auf die unbekannte Frau seinen Wunsch, dem Alltag zu entfliehen und sieht in ihr einen Freigeist, der über jenem Alltag steht.
Als Philip eine Meldung von der Polizei erhält, erkennt er, dass er zu seinem normalen Leben zurückkehren muss. Doch ist es allein die Meldung, die seinen Entschluss evoziert oder die Tatsache, ein Geheimnis gelüftet zu haben? Philip hat ihr Antlitz gesehen, er hat herausgefunden, welcher Arbeit seine „Göttin“ nachgeht, dass auch sie nur eine von vielen ist. „Solange sie ein Geheimnis ist, so lange kannst du glauben“, heißt es an anderer Stelle. Nun hat Philip Gewissheit – und das Spiel seinen Reiz verloren.
Die Antwort auf die Fragen des Werks kann sich der Leser nur selbst geben. Der Autor beantwortet sie nicht, sondern stellt stetig mehr Fragen in den Raum. Bärfuss‘ Erzählweise ist gut, zuweilen spöttisch und bissig. Das breite Repertoire an Themen regt zum Nachdenken an, doch zu oft verliert er sich in Abschweifungen, entfernt sich vom Pfad der Handlung und somit auch vom Leser, der am Ende des Werkes ratloser scheint, als zu Beginn.
Nach zweieinhalb Jahren voller schlafloser Nächte und 862 Packungen Zigaretten ist es vollbracht. Giorgio Volpe, seines Zeichens der erfolgreichste Schriftsteller Italiens, hat sein Meisterwerk fertig. Einen achthundert Seiten umfassenden Wälzer über die schicksalhafte Geschichte seiner Familie zur Zeit des Faschismus. Erwartungsvoll schickt er das Manuskript an Fiorella, die Lektorin seines Vertrauens. Längst jedoch hat sich das Verlagswesen gewandelt. Die drei großen Verlage Italiens wurden von Investoren zum Riesenkonzern Sigma fusioniert, der allein auf Umsatz und Zufriedenstellung der Massen bedacht ist. Die Literatur als solches ist abgeschafft, sie heißt nun „Kommunikation in heimischer Mundart“.
Bald stehen zwei unbekannte Herren vor Giorgios Tür, fest entschlossen, seine Familienchronik in eine platte Heldenstory mit klischeehafter Liebesgeschichte umzuschreiben. Giorgia hat genug und wendet sich an kleinere Verlage – für die Bewahrung künstlerische Freiheit ist er bereit, finanzielle Einbußen in den Kauf zu nehmen. Doch schnell stellt er fest: Sigma ist überall und schreckt für die eigenen Ziele vor keinen Mitteln zurück.
Kritik an Gesellschaft und System
„Spitzentitel“ ist eine bissige Gesellschaftssatire, die sich hauptsächlich drei Themen zum Gegenstand nimmt: Die Dekadenz der Gesellschaft, die Mechanismen des Kapitalismus und damit verbunden die Unterdrückung von Freiheitsrechten. Der Autor tischt uns eine Gesellschaft auf, für die anspruchsvolle Literatur keinen Wert mehr hat. Schließlich soll alles verständlich und leicht verdaulich sein. Rezeptbücher von TV-Sternchen und die Autobiografie eines Fußballtorwarts sind folgerichtig bessere Investitionen als etwa ein Roman von Thomas Mann. Der Erfolg eines Buches misst sich obendrein an der Häufigkeit von Sexszenen. In Zeiten von “Adam sucht Eva”, einer Flirtshow, dessen Konzept allein auf die Nacktheit der Teilnehmer basiert, ist die Darstellung der oberflächlichen Gesellschaft in “Spitzentitel” nicht allzu realitätsfern.
Die Kritik an den Kapitalismus verdeutlicht sich in der Monopolisierung der Verlagsbranche. Vielfalt und Diversität werden in den Boden gestampft. Sigma wird zur Großmacht, mit einer überdimensionierten und mächtigen Verlagszentrale. Investoren aus China haben das Kommando und Lektoren aus Russland, die nur gebrochen italienisch sprechen, dürfen die Werke nach bestimmten Vorgaben umschreiben. Auch vor Spitzentiteln macht Sigma keinen Halt, und da die Würze in der Kürze liegt, wird etwa Tolstois Krieg und Frieden auf 300 Seiten gekürzt. So sind bald alle Bücher gleichförmig und vorhersehbar und Autoren plötzlich nur noch “Produktcodes”, die für jedes ihrer Bücher die gleichen, vorher festgelegte Verkaufszahlen erzielen müssen.
Wie einst schon bei Kafka und zahlreichen dystopischen Romanen gibt es auch hier mit Giorgio Volpe eine Person, die sich gegen das System auflehnt, um für individuelle Freiheit und Recht zu kämpfen, sich in Gefahr begibt und an Grenzen stößt. Giorgio Volpe offenbart sich die deprimierende Erkenntnis, dass kritiklose Unterordnung die beste Option ist.
Kurz und durchgehend unterhaltsam
Manzini verwendet eine direkte und schnörkellose Sprache. Die Protagonisten nehmen kein Blatt vor dem Mund, sind dabei erfrischend authentisch. Das Werk ist dialoglastig, verzichtet auf Hintergrundgeschichten, Wendungen und ausgefeilte Charakterisierungen. Dabei punktet es mit unterhaltsamen Dialogen, hohem Erzähltempo, skurrilen Einfällen und einer Handlung, die sich fortlaufend in eine Art Spionagethriller verwandelt. Selbst als Thriller nimmt das Werk sich indessen nicht allzu ernst, verleitet es doch immer wieder zum Schmunzeln. Da sich in dem Szenario jedoch viele Parallelen zu unserer Lebensrealität finden, bleibt einem das Lachen gelegentlich im Halse stecken.Mit 77 Seiten ist “Spitzentitel” recht kurz geraten und lässt sich in einem Zug lesen. Allein der Länge nach zu urteilen, könnte es also glatt ein Werk des Sigma-Verlags sein.
Das Motiv der Spionage hat in Kriminalromanen und Thrillern eine lange Tradition. Insbesondere in Politthrillern, deren Handlungen nicht selten im kalten Krieg stattfinden, gehört Überwachung und Bespitzelung der Verdächtigen zur Tagesordnung. Die österreichische Jugendbuchautorin Ursula Poznanski nimmt sich dieses Motivs an und stellt es in einen ungewohnten Kontext.
Statt Geheimdienste und politische Konflikte von globalen Großmächten bietet Poznanski der Leserschaft eine beschauliche Kleinstadt, in der ein hochbegabter Jugendlicher durch sein ganz besonderes Forschungsprojekt verblüffende Beobachtungen macht. Schnell entsteht eine unheilvolle Geschichte voller seltsamer Begebenheiten und dunklen Geheimnissen.
Jona Wolfram ist 17 Jahre alt und hochbegabt. Seine Intelligenz verschafft ihm ein Stipendium für eine renommierte Universität im fiktiven Rothenheim, in der größtenteils Söhne von reichen Geschäftsmännern und Oligarchen immatrikuliert sind. Was Naturwissenschaften und Mathematik angeht, ist Jona über jeden Zweifel erhaben, doch an sozialer Kompetenz mangelt es ihm gehörig. In seinem Umfeld eckt er stets an und erhält schnell den Ruf eines „Klugscheißers“.Auch das Verhältnis zu seiner neuen Gastfamilie ist eher unterkühlt. Um mehr über sein Umfeld zu erfahren (und aus reiner Neugier), schickt Jona bald sein liebstes Spielzeug auf die Reise: Elanus, eine hochwertig ausgestattete und selbstgebaute Drohne. Als wäre die Spionage auf eigene Faust noch nicht unterhaltsam genug, steckt er seinen Mitstudenten heimlich kleine Zettel mit bedrohlichen Inhalten zu. Aus einem vermeintlich harmlosen Spaß wird Ernst, als eines Morgens ein Universitätsprofessor tot aufgefunden wird – Selbstmord die Todesursache – und Jona sich dafür verantwortlich wähnt.
Der Selbstmord und weitere mysteriöse Geschehnisse, Verwicklungen und Auffälligkeiten in dem beschaulichen Dorf veranlassen Jona, seine Drohne noch öfter loszuschicken, um der Sache selber auf den Grund zu gehen. Schon bald stellt er fest, dass er nicht nur stiller Beobachter ist, sondern viel mehr selbst in großer Gefahr schwebt. Die vermeintliche Gefahrenquelle lauert aber nicht nur in der Universität, sondern auch in den eigenen vier Wänden.
Jona, der Anti-Held
Trotz auktorialer Erzählform begleitet der Roman durchweg den Alltag von Jona, wobei vor allem seine Gedankenwelt und seine Emotionen in den Vordergrund treten. Seine Gefühle – von Verärgerung über Genugtuung bis hin zu Gewissensbissen – sind den Situationen angemessen, glaubwürdig und überzeugend dargestellt. Die Handlungen Jonas erscheinen nicht immer nachvollziehbar, stehen aber durchaus im Einklang mit seinem impulsiven Charakter. Er repräsentiert einen typischen Anti-Helden, der aber an seinen Herausforderungen wächst und an Reife gewinnt.
Die wichtigsten Protagonisten neben Jona ist die Mitstudentin Marlene und der Nachbar Pascal, mit denen Jona sich anfreundet und die mit der Zeit essentielle Rollen im Roman einnehmen. Während Marlene die gewissenhafte und moralische Instanz darstellt, ist Pascal der humorvolle Kumpeltyp. Die drei Freunde ergänzen sich prächtig und durch ihre gegensätzlichen Wesenszüge ergeben sich immer wieder unterhaltsame Situationen.
Clevere Geschichte und guter Spannungsbogen
„Elanus“ erinnert zeitweise an einen Krimi, in dem Jona unbewusst die Rolle des Detektivs übernimmt. Der Leser tappt lange im Dunkeln, denn es werden ihm viele Puzzleteile vorgelegt, die nicht ineinander zu passen scheinen. Die letztlich entscheidenden Hinweise sind subtil in der Geschichte eingebaut und die Auflösung dementsprechend für den Leser überraschend.
Der Roman kommt eher langsam in Fahrt, wird dann aber sukzessiv spannender und hält diese Spannung konsequent bis zum Ende. Die Kapitel, in denen die Geschichte etwas entschleunigt wird, stören nicht, weil sie einen Einblick ins Innenleben Jonas bieten und somit nie ein Gefühl der Stagnation entsteht. Das Ende des Romans ist unerwartet und versetzt den Leser ins Staunen, wenngleich ein paar Fragen offenbleiben und sich kleinere Logikfehler einschleichen.Etwas enttäuschend ist die Darstellung vieler Nebencharaktere, die eher farblos und unzugänglich bleiben. Insbesondere über die Gasteltern, die – wie sich herausstellt – eine Leiche im Keller haben, werden zu wenig Hintergrundinformationen preisgegeben.
Auf der Höhe der Zeit
Ein Grund dafür, warum der Roman insgesamt gut funktioniert, liegt in der interessanten, weil aktuellen Thematik. Die Drohnentechnologie entwickelt sich stetig weiter und die Anwendungsbereiche für Drohnen dehnen sich aus. Der Roman verdeutlicht die Schattenseite der Technologie, die Möglichkeit der Überwachung und Nachstellung anderer Zivilisten. Da Poznanskis Beschreibungen der technischen Prozesse und Zusammensetzung der Drohne nachvollziehbar ist, werden auch technikinteressierte Leser Freude an dem Roman haben können. Die Zielgruppe, an die sich das Werk richtet, ist breit gefächert: Krimi- und Thrillerfreunde,ob jugendlich oder erwachsen, sollten „Elanus“ einen Platz in ihrer To-Read-Liste zugestehen.
Bewertung zu "Kann mein Chemielehrer Crystal Meth herstellen?" von Andrea Gentile
Wie viel Realismus und wie viel Fiktion steckt in allseits beliebten Fernsehserien wie „Game of Thrones“ oder „Breaking Bad“? Diese Frage stellte sich auch der italienische Journalist Andrea Gentile, der sein akademisches Know-How nutzt, um die beliebtesten Fernsehserien genauer unter die Lupe zu nehmen – aus der Perspektive eines Wissenschaftlers.
„Kann mein Chemielehrer Crystal Meth herstellen?“ lautet der Titel des Buches und referiert dabei natürlich auf die preisgekrönte Serie „Breaking Bad“, die von dem am Krebs erkrankten Walter White handelt. Walter entschließt sich, sein trostloses Lehrerdasein an den Nagel zu hängen und ein Drogen-Imperium zu errichten, um seiner Familie nach seinem Ableben eine gute finanzielle Rücklage hinterlassen zu können. Der Titel ist gleichzeitig eine der im Werk thematisierten Fragen.
Serien aller Art und wissenschaftliche Vielfalt
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis genügt bereits, um festzustellen, dass sich Gentile einem breiten Publikum zuwendet. In den insgesamt dreizehn Kapiteln widmet er sich Fantasy-Serien (Game of Thrones, True Blood) gleichermaßen wie Dramaserien (Breaking Bad) und selbstverständlich Science-Fiction-Serien (Star Trek, Doctor Who). Mit „The Big Bang Theory“ hat es auch eine Sitcom in den Fokus des Autors geschafft. Was an der Stelle wenig überrascht, ist „The Big Bang Theory“ doch geradezu prädestiniert dafür, auf wissenschaftliche Exaktheit hin überprüft zu werden. Durch den breiten Fokus sollte jeder Serienfan auf seine Kosten kommen.
Gentile deckt mit seinen Überlegungen ein weites Spektrum an naturwissenschaftlichen Disziplinen ab. Von der Neurobiologie („Was spielt sich im Gehirn eines Zombies ab?“) über die Gesetze der Physik („Kann man durch die Zeit reisen?“) und fremden Lebensformen („Werden wir jemals Außerirdischen begegnen?“) bis hin zur Kosmologie (der Urknall). Zur Auflockerung gibt es zum Ende eines jeden Kapitels zehn teils amüsante, teils faszinierende Fakten über die jeweilige Serie. Ein netter Einfall.
Einfach, informativ und fachlich überzeugend
Eine solche Auflockerung wäre nicht einmal notwendig gewesen. Gentile gelingt es, schwierige und komplexe Themen durch bildhafte Beispiele und einiger Anekdoten simpel darzustellen, sodass alle Hobbywissenschaftler und jene, die es mal werden wollen, die Zusammenhänge verstehen können. Gleichzeitig geht er nie tief ins Detail und schneidet viele Themen nur an, weshalb der gemeine „Wissenschaftsnerd“ etwas enttäuscht sein könnte. Die Kapitel sind folglich kurz gehalten und wissenschaftliche Fachtermini sind zwar vorhanden, werden aber ausführlich erklärt. Einige Sätze sind unnötig verschachtelt, doch das ist zu verschmerzen. Fachlich ist das Buch jedenfalls makellos und stets auf dem neusten Stand der Forschung.
Gentiles Argumente sind durchdacht und nachvollziehbar. Häufig nimmt er Bezug auf die Forschungen berühmter Wissenschaftler wie Albert Einstein oder Werner Heisenberg und bietet damit Einblicke in die Forschungsgeschichte verschiedener Fachdisziplinen. Immer wieder bringt er dabei auch Theorien oder Modelle zur Sprache, die nicht jedem geläufig sind (beispielsweise die „Milankovic-Zyklen“). Damit schafft er neue Perspektiven und Sichtweisen auf die Sachverhalte und bietet dem Leser genug Input, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Gentile zieht seine Kenntnisse auch aus der experimentellen Wissenschaft. Etwa Gruppen von Mathematikern, die Modelle für die Ausbreitung einer Zombie-Epidemie entwickelten oder die sogenannten „MythBusters“, die unter anderem Szenen aus „Breaking Bad“ nachgestellt haben.
Nicht ganz ausgereift
Gentile hat dennoch ein bisschen Potenzial verschenkt. Denn so überzeugend das Werk auch ist: Man hätte es noch größer aufziehen können. Nur ein Bruchteil der wissenschaftlichen Phänomene aus den Serien werden tatsächlich behandelt, einige Aspekte, die Aufmerksamkeit verdient hätten, bleiben unerwähnt. Näher eingehen können hätte man unter anderem auf die Geräte und Maschinen, die in den Laboren oder im privaten Gebrauch der Nerds in „The Big Bang Theory“ zur Anwendung kommen, oder auf die mathematischen Formeln, die stets im Hintergrund auf den Whiteboards prangen. Ein weiterer Kritikpunkt: An einigen Stellen im Werk tauchen leider kleinere Spoiler auf, hier wäre die eine oder andere Warnung nützlich gewesen.
Bei „Kann mein Chemielehrer Crystal Meth herstellen?“ handelt es sich nichtsdestotrotz um ein interessantes und massentaugliches Wissenschaftsbuch, bei denen die Serien selber nicht im Vordergrund stehen, sondern vor allen Dingen als Inspiration herhalten – in dem Sinne, dass sie jeweils ein wissenschaftliches Fundament beanspruchen, auf dem ihre Realitäten aufgebaut sind. Fundamente, deren Authentizität auf die Probe gestellt wird. Es ist folglich nicht notwendig, jede einzelne Serie zu kennen. Der Leser benötigt für den Genuss des Werkes keinerlei wissenschaftlicher Vorkenntnisse – ein grundsätzliches Interesse an der Wissenschaft sollte aber schon gegeben sein.
Eines scheint zudem sicher: Mit den Erkenntnissen aus „Kann mein Chemielehrer Crystal Meth herstellen?“ kann man beim Small-Talk über Fernsehserien oder Wissenschaft ordentlich Eindruck schinden.
Bewertung zu "Das Mädchen, das die Welt veränderte" von Alfonso Pecorelli
Marie ist erst acht Jahre alt, als sie von Krankheit gezeichnet in den Armen ihres Großvaters stirbt. Sie erwacht an einem warmen, paradiesischen Ort, wo sie auf einen alten Mann trifft, der sich als Gott herausstellt. Marie nennt ihn Elvis. Elvis ist erbost über die Menschheit und will ihrem Wandeln auf Erden ein Ende bereiten. Einzig Marie habe es verdient, im Paradies zu verweilen. Die kleine Marie kann Elvis überzeugen, der Menschheit eine letzte Chance zu geben. Er schickt sie auf eine Reise durch die Weltgeschichte. Mit dabei: eine magische gelbe Blume. Ihre Blätter verleihen den Menschen Weisheit. Nun liegt es allein an Marie, den einen Menschen zu finden, der die Antwort auf die Frage aller Fragen kennt und die Menschheit rettet.
Stelldichein mit historischen Personen
Auf ihrer Reise begegnet Marie Philosophen aus den unterschiedlichen Epochen der Weltgeschichte. Angefangen mit Platon aus dem antiken Griechenland, über den französischen Wissenschaftler Blaise Pascal bis hin zu Artur Schopenhauer. Alle erzählen dem Mädchen von ihren Errungenschaften und Erkenntnissen, beantworten ihr Fragen über Gott, die Menschheit und die Welt mit Worten, die auch ein Kind versteht. Doch keiner vermag es, die Frage aller Fragen richtig zu beantworten. Um welche Frage es sich hierbei handelt, offenbart sich erst am Ende des Buches, der Leser wird lange im Dunkeln gelassen und muss eigene Überlegungen anstellen.
Das Buch bietet einen großartigen Lerneffekt, da die Positionen der unterschiedlichen Größen der letzten Jahrhunderte dargestellt werden und der Leser damit in gewisser Weise in einen philosophischen Diskurs eingebunden ist. Aus dramaturgischer Sicht erlahmt die Geschichte, da die Prozedur der Begegnung Maries mit den Berühmtheiten stets dieselbe ist und die Reise wenig Höhen und Tiefen bietet.
Auch Hitler darf nicht fehlen
Das ändert sich, als Marie niemanden geringeren als Adolf Hitler trifft. Hitler als die Personifikation des Bösen abzubilden ist gleichermaßen nachvollziehbar wie abgedroschen. Eine Geschichte, die offensichtlich ein kritisches Menschenbild zu zeichnen versucht, hätte die Rolle des Bösen auf mehrere Schultern verteilen können. Hitler ist noch ein Kind, als Marie ihn erstmals trifft. Bereits hier sind von „dunklen Schatten“ die Rede, die von Hitler ausgehen. Dies ist insofern problematisch, als dass es suggeriert, das Böse läge in der Veranlagung eines Menschen. Dagegen repräsentiert Marie die reine Unschuld, den idealen Menschen. Viel schwarz und weiß – doch wenig Platz für Grautöne.
Die moralische Instanz des Werkes ist zweifellos Elvis. Er definiert in aller Deutlichkeit, was richtig und falsch ist. Die Menschheit wird ganz pauschal als schlecht dargestellt. Es entsteht der Eindruck, als gäbe es nur ein einziges moralische Wertekorsett, das sich alle Menschen anziehen müssen. Der moralische Diskurs wirkt so sehr unreflektiert. Die Vermittlung erfolgt nicht subtil, sondern eher mit dem Vorschlaghammer.
Das Werk erreicht seine düstersten Momente, als die kleine Marie in Kriegsszenen involviert wird. Die Beschreibungen sind bedrückend und wirkungsvoll, auch wenn der Umschwung von einer friedlichen Geschichte über die Fragen des Lebens zu einem bitterbösen Buch über die Abgründe des Menschen recht überraschend und unvermittelt kommt.
Poetische Bildsprache
Dass „Das Mädchen, das die Welt veränderte“ trotz einiger Schwächen in der Darstellung und Handlung gut zu lesen ist, lässt sich auf Pecorellis poetischen und bildhaften Schreibstil zurückführen. Highlights sind die fantasievoll beschriebenen Momente, in denen Marie zu ihrem nächsten Ziel reist. Wenn Marie beispielsweise im „Lichtstrom des Regenbogens aufgeht“ oder das Gefühl hat „in einem Himmel voller Bunter Ballons zu schweben“. Trotz einer weitestgehend kindgerechten Sprache und Aufmachung ist die Zielgruppe sicher eher unter den Jugendlichen und junge Erwachsenen zu finden – die philosophischen Gespräche sind recht abstrakt und das letzte Drittel viel zu düster, als dass Kinder mit dem Werk zurechtkämen.
„Das Mädchen, das die Welt veränderte“ ist eine poetische und fantasievolle Umsetzung einer guten Idee und bietet dem Leser obendrein ein Crashkurs in die Grundlagen der Philosophiegeschichte. Vorlieb nehmen muss der Leser allerdings mit dramaturgischen Schwächen, einer ausgeprägten Schwarz-Weiß-Mentalität und etwas zu dick aufgetragener Moral.
Inmitten von Berlin führt der erfolglose, hochverschuldete Musiker Benjamin Rühmann ein trostloses Einsiedlerleben. Von seiner Frau geschieden, gilt seine Liebe allein der körperlich behinderten Tochter Jule. Ben versinkt im Kummer, als Jule einen Suizidversuch unternimmt und fortan nur noch künstlich am Leben gehalten wird. Mit seiner Vermutung, Jule sei das Opfer eines versuchten Mordes gewesen, steht Ben alleine da.
Derweil macht ein neues Internetphänomen die Runde: AchtNacht. „Stell dir vor, du dürftest einen Menschen straffrei töten, wen würdest du auswählen?“ Mit dieser Frage begrüßt die Website seine Besucher. „AchtNacht“ ist ein Spiel mit denkbar einfachen Regeln. Jeder ist dazu angehalten, eine Person auf die Todesliste zu setzen. Alle Nominierten landen in einem Lostopf, aus dem anschließend zwei Namen gezogen werden. Die „Gewinner“ der Auslosung sind am 8. August von 8:00 abends bis 8:00 morgens vogelfrei. Der Clou: Dem „Jäger“, dem es gelingt, einen der Nominierten zur Strecke zu bringen, winkt eine Belohnung von 10 Millionen Euro.
Bens Sorge um seine Tochter weicht einer grenzenlosen Verwirrung, als er sein Gesicht und Namen auf einer Videoleinwand wiedererkennt – als Kandidat der AchtNacht. Wer sollte ihm den Tod wünschen? Als er auf seinem Handy die ersten Nachrichten eines Erpressers empfängt, erkennt er den Ernst der Lage. Ben wird zur Figur auf dem Spielbrett eines anonymen Mannes, der Bens Schwächen kennt und sie sich zu Nutze macht. Die Lage gerät schnell außer Kontrolle und aus einem Feind werden Tausende. Eine Hetzjagd beginnt. Zufällig trifft Ben schließlich auf seine einzige Verbündete: Arezu, die zweite Kandidatin in dem Todesspiel.
Inspirationsquellen und Unterschiede
Das Konzept von „mörderischen Spielen“ ist gewiss keine Schöpfung Fitzeks. Im japanischen Kult-Thriller Battle Royale von 1997 werden Schulklassen auf eine evakuierte Insel gebracht, auf der sie sich gegenseitig umbringen sollen, bis nur ein Überlebender übrig bleibt – das alles als staatliche Maßnahme gegen die steigende Jugendkriminalität. Auch die Hungerspiele aus der bekannten Tribute-von-Panem-Reihe dienen primär zur Einschüchterung der Distriktbewohner.
Die unmittelbarste Inspirationsquelle fand Fitzek in der amerikanischen Filmreihe The Purge, die er im Vorwort sogar namentlich erwähnt. In der von The Purge dargestellten Zukunftsvision gibt es eine staatlich festgelegte Nacht im Jahr, in der alle Gesetze aufgehoben sind.
Was AchtNacht jedoch von den vorangegangen Beispielen unterscheidet: Die Regierung ist nicht involviert. Die AchtNacht, so stellt sich bald heraus, ist von der Idee her nichts weiter als ein massenpsychologisches Experiment, das die Verbreitung von Lügen und Gerüchten im Internet zum Untersuchungsgegenstand hat. Ein Experiment, das ausartet und die Kehrseite der Menschen zum Vorschein bringt.
Die Macht des Internets
Es sind vor allem die sozialen Medien, die ein sozialpsychologisches Experiment in eine blutige Hetzjagd verwandeln. Auf der AchtNacht-Website erscheinen im Minutentakt persönliche Informationen über die Gejagten. Als Fakten getarnte Gerüchte und Verleumdungen. Beweise sind nicht wichtig, denn die Leute glauben, was sie glauben wollen. Es taucht ein Video auf, in der Ben eine Frau vor einem Schläger beschützt – eigentlich. Denn die Bearbeitung lässt Ben als einen Täter erscheinen. Der Hass wird weiter geschürt.
Die Tageszeitungen und Fernsehsender verfolgen gute Absichten, tragen aber eher zur Eskalation bei. Die ausführliche Berichterstattung ruft noch mehr potentielle Täter auf den Plan.
Im Medienzeitalter, auch das zeigt das Werk, ist es schwer, unentdeckt zu bleiben. In dystopischen Visionen, in denen ein Überwachungsstaat herrscht, sind die Bewohner gläserne Menschen. Auch auf Ben ist das zutreffend. Seine Jäger wissen, was er tut, und sie wissen, wo er es tut. Es genügen belanglose Apps auf Bens Handy, die GPS-Signale aussenden, durch welche der Mob in der Lage ist, ihn zu orten. Ben ist sich dem erst nicht bewusst – und steht damit stellvertretend für viele Menschen, die Apps nutzen, ohne sich über Nebeneffekte im Klaren zu sein.
Die Dynamik der Massen
Obwohl das makabere Spiel auf nur zwei Gewinner ausgelegt ist, beginnen fremde Menschen miteinander zu kooperieren und gehen gemeinsam auf die „Jagd“. Damit ein Individuum sich als Teil einer Gemeinschaft fühlt, braucht es zur Identitätsstiftung nur einen kleinen gemeinsamen Nenner. Nach wenigen Stunden verbreitet sich das Gerücht, Ben sei ein pädophiler Triebtäter. Von seinen Erpressern unter Druck gesetzt, nimmt Ben ein Video auf, in dem er genau das bestätigt. Es ist von da an also der Hass, der die Leute vereint und darüber hinaus fühlen sie sich in dem Glauben bestärkt, im moralischen Recht zu sein.
Interessanterweise ist die Identifikation als Gruppe nicht nur auf den Zweck beschränkt, sondern bald schon symbolbeladen und auf Repräsentation bedacht. So treten die Jäger mit einheitlicher Gesichtsbedeckung auf – simple Mülltüten mit Löchern für Augen und Mund –und schmieren Achten auf die Wände. Die Darstellung der Menschenmasse bewegt sich irgendwo zwischen dem selbstjudizierenden Mob in Fritz Langs‘ Krimi M – Eine Stadt sucht einen Mörder und der Schulklasse in Morton Rhues Die Welle.
Sensationsgier und menschliche Abgründe
Die Macht der Massenpsychologie entschuldigt nicht die menschlichen Abgründe, die in dem Roman offen zu Tage treten. Hinter den Erpressungen Bens stecken die kleinkriminellen Nebencharaktere Nikolai und Dash. Tod, Gewalt und Demütigungen ist ihr Geschäft. Sie produzieren Videoaufnahmen von Gewaltexzessen und Verfolgungsjagden, veröffentlichen sie in den dunklen Ecken des Internets und generieren damit hohe Geldsummen. Für Videos dieser Art gibt es einen Markt. Leute, die Massenschlägereien anregend und ästhetisch genug finden, um für ihren Anblick zu zahlen.
In der medial aufgebauschten AchtNacht wittern Nikolai und Dash ein großes Geschäft, da ihre Videos nun nicht nur für Sadisten, sondern auch für Medienanstalten von großem Interesse sind. In der Gesellschaft, die Fitzek porträtiert, ist die Gier nach Sensationen so tief verankert, dass es einem beim Lesen die Nackenhaare aufstellt.
Ben und die unsichtbare Bedrohung
Der Spielleiter bleibt über weite Strecken der Handlung ein nicht greifbares Mysterium. Arezu kennt den Leiter, der die Seite programmiert hat, unter den Namen „Oz“. Jedoch gibt sie an, ihn niemals gesehen zu haben, da er sich hinter dem Schutz der Anonymität verstecke.Ben und seine Leidensgenossin Arezu sind in der Achtnacht permanent auf der Flucht. Die Erpresser wissen um die Schwäche Bens: Seine Tochter Jule. Mit der Androhung, ihr etwas anzutun, machen sie Ben gefügig. Sie verfolgen das Ziel Ben zu diffamieren, zum Feindbild und Zielscheibe der Massen zu machen. Ben kann sich also nicht verstecken, wie jeder es in seiner Lage tun würde, sondern muss sich der Gefahr stellen.
Für Ben sind sowohl die Erpresser als auch Oz unsichtbare Bedrohungen, gegen die er nichts ausrichten kann. Ein kafkaeskes Gefühl der Ohnmacht.
Fitzek hält den Charakter Oz bis kurz vor dem Ende geheim und lässt die Leser im Dunkeln tappen. Wie immer bei Fitzek lohnt es sich auf jedes Detail zu achten, denn frühzeitig finden sich Hinweise auf die spätere Auflösung – natürlich sehr geschickt versteckt.
Verblüffende Wendungen – Frage nach dem Widerstand
Es gibt drei Kernfragen, die sich im Laufe des Buches ergeben: Wer ist der sogenannte Oz, der das Spiel entwickelt hat? Wer ist für die Nominierungen von Ben und Arezu verantwortlich? Und was steckt wirklich hinter dem vermeintlichen Suizidversuch Jule zu Beginn des Buches?
Bei der Auflösung einiger Fragen bedient Fitzek sich eines für Psychothriller typischen Motives, das durch seine routinierte Inszenierung trotzdem schockierend wirkt. Vermeintliches Vorwissen wird auf den Kopf gestellt – hier beweist Fitzek sein ganzes Können und führt den Leser wieder an der Nase herum. Zu kritisieren ist, dass ein Teil der Auflösung so simpel erscheint, dass man sich fragt, warum die Frage derart lange offen im Raum stand.
Was der Leser in der Handlung vergeblich sucht, ist eine Widerstandsfront oder einzelne Bündnisse, die sich gegen die Hetzjagd stellen und den Gejagten den Rücken frei halten. Die meisten Kapitel sind aus der Perspektive Bens geschrieben und spiegeln seine Gedanken wider, daher wundert es, dass nicht wenigstens die potentielle Existenz eines solchen Widerstands je zur Sprache kommt. Dem Faktor Angst zum Trotz, ist es überraschend, dass nicht zumindest eine kleine Gruppe den Versuch startet, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Letztlich fügt sich das jedoch gut ins zutiefst negative Gesellschaftsbild Fitzeks ein. In einem vorherigen Werk zitierte er Martin Luther King: „Unsere Generation wird eines Tages nicht nur die ätzenden Worte und bösen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten.“ Dieses Zitat ist auch hier mehr als zutreffend.
AchtNacht – realistisch oder nur Dystopie?
Bleibt also die Frage danach, wie realistisch ein derartiges Szenario ist. Fitzek verlegt das Geschehen bewusst nicht in die Zukunft, sondern ins Berlin der Gegenwart. Er ist davon überzeugt, seine Vision könnte heute schon eintreten.
Das gesellschaftliche Bild das Fitzek in dem Thriller zeichnet, wirkt sehr düster und negativ. Um sich zu solchen Taten hinreißen zu lassen, wären bei den meisten Bürgern die Skrupel wohl zu groß, genau so wie Achtung vor den Grundgesetzen, die durch einen Internethype nicht an Gültigkeit verlieren. In Zeiten, in der die terroristische Bedrohung zunehmend in den Mittelpunkt rückt, wäre bei einer AchtNacht wohl auch mit einer erhöhten polizeilichen Präsenz zu rechnen.
Nichtsdestotrotz ist Manipulierbarkeit gepaart mit Verrohung vor dem Hintergrund der heutigen Medienvielfalt eine gefährliche und explosive Mischung. Man kann nur an jeden appellieren, die Fähigkeit zur selbstständigen Meinungsbildung zu bewahren, Dinge kritisch zu hinterfragen, dabei aber zu erkennen, dass die einfache Antwort nicht immer die richtige Antwort ist. Gleichzeitig muss man sich im Klaren sein, dass eine funktionierende Gesellschaft letztlich auf dem Verständnis von Empathie fußt.
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- 23.02.2018