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glasperlenspiel13

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches Bäume (ISBN: 9783458193937)

Bewertung zu "Bäume" von

Bäume
glasperlenspiel13vor 10 Jahren
Cover des Buches Die Liebestäuschung (ISBN: 9783458175650)

Bewertung zu "Die Liebestäuschung" von Hernán Rivera Letelier

Die Liebestäuschung
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Hernán Rivera Letelier "Die Liebestäuschung"

Hernán Rivera Letelier ist in Deutschland vor allem durch sein Roman "Die Filmerzählerin" bekannt geworden. Ich habe mich vor kurzem seinem letzten auf Deutsch erschienenen Buch "Die Liebestäuschung" gewidmet.

Es ist eine Liebesgeschichte, die im Norden von Chile, genauer gesagt in den Gebieten der ehemaligen Salpeterminen, um die Jahrhundertwende angesiedelt ist. Als Kenner der Region schafft es Hernán Rivera Letelier den Leser in eine detailgetreue Welt zu entführen. Wer sich für das Land und seine Geschichte interessiert, ist mit dieser Lektüre auf jeden Fall bestens ausgestattet. Trotz meines Faibles für Chile bin ich von dem Roman aber leider etwas enttäuscht. Erst mit dem letzten Drittel gewann die Geschichte für mich an Substanz und nahm mich gefangen.

Golondrina, Tochter eines aufrührerischen Friseurs, der unter den Minenarbeiter in den Salpetermienen als Freund der Arbeiter geschätzt wird und einer früh verstorbenen Mutter, lebt mit ihrem Vater in der Stadt Pampa Unión. Sie hat sich durch ihre zahlreichen kulturellen Aktivitäten zu einer angesehenen Persönlichkeit und lokalen Größe entwickelt.

"Neben außergewöhnlicher Schönheit und einer fast durchsichtigen Blässe ihrer Haut hatte das Fräulein Golondrina del Rosario von ihrer Mutter ein feines künstlerisches Gespür geerbt. Sie gab einigen wohlhabenden Damen des Ortes Klavierstunden und unterrichtete außerdem, bei sich daheim und völlig kostenlos ein paar Kinder, die sich zum Morgenappell der kleinen Grundschule besonders hervortaten, in der schwierigen Kunst des Vortrags. Das Fräulein Golondrina del Rosario war die beliebteste Stummfilmbegleiterin weit und breit. Die Filmfreunde vor Ort waren sich einig, dass sie die Beste war, die je an dem einfachen Klavier im Arbeiterlichtspielhaus gesessen hat."

Bello, ein begnadeter Trompetenspieler, war für Musikerkollegen "ein Spinner, und sie hielten es für einen Spleen, dass er sein Instrument nie einpackte. Mit seinem stets unerschütterlichen, eiskalten Lächeln sagte er, die Trompete sei - wie gewisse Frauen auf dieser Welt - dazu geschaffen, ihr Leben nackt zu verbringen, vor allem nachts. Und mit einem fachmännischen Augenzwinkern trank er erst ein gutes Glas Wein - dieses Thema erörterte er ausschließlich mit der Kante eines Tresens vorm Bauch - schob dann seine schmale, gepunktete Flieg zurecht und fügte mit meisterhafter Nonchalance hinzu, in der Nacht würden die Frauen die Liebe aufs schönste vertonen und die Trompeten aus den Tönen umso schönere Harmonien weben ... das habe er ganz allein beim Spielen in den verruchtesten Hurenhäuser gelernt; weil das nämlich die einzigen Orte waren, wo sich ein echter Musiker genauso fühlen konnte: als echter Musiker."

Durch schicksalhafte Wendungen lernen sich die Golondrina und Bello in einer Nacht in Pampa Unión, "dem gefeiertsten Ort der Atacama-Wüste" kennen, lieben und trennen sich, um erst ein Jahr später wieder aufeinander zutreffen. Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte beginnt, die beide aber geheim halten. Erst durch den Umstand, dass der ungeliebte Präsident das kleine Städtchen am Ende der Welt besuchen soll, verdichtet sich die Geschichte. Golondrinas Vater sucht eine Möglichkeit sich gegen den Besuch des Diktators zu währen und Bello probt mit seiner Musikkapelle den gebührenden Empfang des Staatsoberhauptes. Am verhängnisvollen Tag des Präsidentenbesuches überstürzen sich die Ereignisse und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Wie schon erwähnt haben mir die letzten Kapitel besonders gut gefallen. Überraschende Wendungen und eine dynamische Handlung nahmen mir teilweise den Atem. Die tragische Entwicklung wird später im Epilog näher erklärt und der Leser erhält einen weiteren interessanten Einblick in das Leben der damaligen Salpeter-Siedlungen.

Cover des Buches Der bewaffnete Freund (ISBN: 9783936738278)

Bewertung zu "Der bewaffnete Freund" von Raul Zelik

Der bewaffnete Freund
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Raul Zelik "Der bewaffnete Freund"

Den Schriftsteller Raul Zelik habe ich letztes Jahr aufeiner Lesung in Frankfurt kennengelernt. Damals stellte er sein aktuelles Buch "Der Eindringling" vor, hatte aber auch noch ältere Titel im Gepäck und so entdeckte ich seinen 2007 erschienen Roman "Der bewaffnete Freund".

Die Geschichte eines Deutschen, der mit einem abgetauchten und gesuchten Basken befreundet ist, fesselte mich sofort. Nach der Lesung und einer näheren Beschäftigung mit der Person Raul Zelik war mir bewusst, dass das Buch eine gewisse Brisanz in sich bergen wird. Wie sehr es mich jedoch aufwühlte, war mir nicht klar. Hoch politisch und polarisierend thematisiert Zelik viele aktuelle Problematiken der heutigen europäischen Gesellschaft: Die Einwanderung der afrikanischen Völker über das Mittelmeer, die ausufernde Gewalt im Baskenlandkonflikt, die Frage nach kultureller und völkerrechtlichen Identität im immer stärker werdenden Europa. Das (meist positiv besetzte) klischeebehaftete Spanien a lá Olé, Stierkampf, Sonne, Flamenco, Wein und Oliven bekommt in diesem Zusammenhang einige wohltuende Risse:

"Spanien" fahre ich fort " hat nie mit der Diktatur gebrochen. Der König wurde von Franco eingesetzt und auch das erst, nachdem Zubietas Organisation Carrero Blanco, den ursprünglichen vorgesehenen Nachfolger, umgebracht hat. Die Verfassung wurde in der Region bei einem Referendum genauso abgelehnt wie der Eintritt in die NATO. Kein Franquist kam je ins Gefängnis, auf den Polizeiwachen wird heute noch gefoltert, und wenn es in den letzten Jahren eskalierte, hat man immer wieder damit gedroht die Panzer aus den Kasernen zu holen."

Kurz zur Geschichte selbst: Alex, wissenschaftlicher Mitarbeiter und in Berlin lebend, erhält den Zuschlag für ein Forschungsprojekt an der Universität von X (Die größte Stadt des Baskenlandes Bilbao wird im Roman konsequent X genannt). Er kennt die Stadt und die Umgebung sehr genau, da er zu Jugend- und Studentenzeiten viele Sommer in der Gegend verbracht hat. Dort machte er auch die Bekanntschaft mit Zubieta. Schon damals engagierte sich dieser für die Unabhängigkeit des Baskenlandes und befreite einen sehr bekannten baskischen Schriftsteller aus dem Gefängnis. In diesem Zusammenhang musste er aus Europa fliehen und nach Lateinamerika flüchten. Die Freundschaft mit Alex blieb aber über die Jahre bestehen. Nun sind beide zurück. Der eine mittlerweile Kopf der verbotenen Organisation, der andere auf dem besten Weg eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen. Alex wird über einen geheimen Kontakt Zubietas angesprochen. Seine Bitte: Alex soll Zubieta durch halb Spanien zu einem bestimmten Treffpunkt fahren. Die Reise gestaltet sich zu einer rasanten Fahrt durch das aktuelle Spanien, getragen von Fragestellung: Was macht eine Freundschaft aus und was hält sie aus?

Neben den gesellschaftlichen brisanten Sachverhalten und den Motiven der Freundschaft nimmt sich Zelik aber auch der komplexen wie emotionsgeladenen Thematik der Sprache (insbesondere des Baskischen) an. Dazu ein Interview mit dem bekannten Schriftsteller Bernado Atxaga, das im Buch wieder gegeben wird:

"Der Schriftsteller wird gefragt, warum er so viel Energie in die längst nicht mehr verbotene, nur noch überflüssige Sprache investiert.
 INTERVIEWER: ... mir wäre es, angenommen, ich könnte das Englische gut genug, egal, meine Muttersprache aufzugeben und ins Englische zu wechseln.
 ATXAGA:  Es kommt selten vor, dass jemand die Sprache, mit der er groß geworden ist, aufgibt. Da geht es um affektive, familiäre Dinge. Wenn Sie mir sagen, dass Ihnen die Beziehung zu Ihren Freunden nicht wichtig ist, mag das stimmen. Ich bin alt genug, um zu wissen, dass so etwas vorkommt. Aber genauso akzeptabel ist es, wenn es jemand anderem nicht so geht. Es gibt Menschen, die wegen einer Liebe 2.000 Kilometer reisen, während andere nicht einmal 1.000 Kilometer gehen würden.
Ich hatte vor kurzem Besuch von einem Schriftsteller, der als einer der renommiertesten englischsprachigen Autoren gilt, obwohl seine Muttersprache nicht Englisch ist. Warum schreibt er auf Englisch? Weil er aus einem Land der Peripherie stammt, und es einen Unterschied macht, ob du deine Autorenrechte in Dollars oder in namibischen Kronen beziehst. Dahinter steckt eine Machtbeziehung - zwischen Nord und Süden, zwischen Reich und Arm. Und dabei glaube ich nicht, dass eine Sprache eine transzendentale Angelegenheit ist. In ihr spiegelt sich kein verborgenes kollektives Bewusstsein, keine festgeschriebene Andersartigkeit. Es ist einfach eine Sprache, die man gerne spricht. Mehr nicht."

Immer wieder bindet Zelik Rückblicke aus der spanischen/europäischen Geschichte ein und gibt interessante Einblicke in das aktuelle spanische Konstrukt. Alex wird als Mensch mit all seinen Fehlern, Gefühlen und Ängsten sehr genau gezeichnet.
Mich hat die Radikalität der Aussagen teilweise überrascht aber auch zum Nachdenken gebracht. Solch Lektüre wünscht man/frau sich mehr und ich bin froh, dass ich dieses Buch für mich entdeckt habe.

Cover des Buches Die kreisende Weltfabrik (ISBN: 9783887472825)

Bewertung zu "Die kreisende Weltfabrik" von Else Lasker-Schüler

Die kreisende Weltfabrik
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Else Lasker-Schüler "Die kreisende Weltfabrik"

"Ich schreibe so selten über Bücher oder Städte, durch die ich spaziere und die einladen zu bleiben. Bücher bedeuten für mich Städte, Städte Bücher, leere und lebensreiche. Und da das Buch mir eine ganze Stadt entfalten kann, mit Straßen und Läden und Menschen, die vor ihrem Schaufenster stehenbleiben, genügt mir schon das Buchhändlerlexikon mit der Anzeige neuerschienener Bücher. Genau wie die Stadt veranlasst oft das Buch noch zu bleiben, alle seine mannigfachen Seiten zu durchstreifen."

Bevor ich mich inhaltlich diesem Buch nähere, muss ich dem Transit Verlag für die wunderschöne Ausgabe meine Anerkennung zollen. Atmosphärische Schwarz Weiß Fotos aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts und ein hoch interessantes Nachwort von Heidrun Loeper, selbst Autorin und Literaturwissenschaftlerin, die die Texte zeit- und literaturgeschichtlich einordnet, runden diese Prosasammlung von Else Lasker-Schüler ab. Die jüdische Autorin schreibt über Begebenheiten, Beobachtungen und Eindrücke aus ihrem Berliner Leben in den 10er und 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine Stadt, die damals wie heute Anziehungspunkt für Menschen unterschiedlichster Couleur ist.

Unter anderem schildert sie einen Zirkusbesuch, einen sehr liebevollen und tragischen Text widmet sie ihrem geliebten aber früh verstorbenen Sohn Paul Lasker-Schüler und bekundet in verschiedenen Briefen ihre Meinung zu tagesaktuellen Problemen. Eine herrliche Anekdote beschreibt sie in "Unser Café!"

"Sire, Sie möchten etwas aus unserem Café wissen, aber unser Café ist schon seit ungefähr Pfingsten nicht mehr unser Café. ... Früher war das Stelldichein all dieser Radikalen das Café Größenwahn. Aber eines Tages verbot der Besitzer der Dichterin Else Lasker-Schüler, die zu diesem Kreise gehört, das Lokal, weil sie nicht genug verzehre. Man denke! Ist denn eine Dichterin, die viel verzehrt, überhaupt noch ein Dichterin? Sie empfand das mit Recht als eine unerhörte Beleidigung, als schimpfliches Misstrauen gegenüber ihrer dichterhaften Echtheit. Ebenso dachten die anderen. Daher verließen sie empört das Lokal."

Besonders auffallend finde ich ihre außergewöhnliche Sprache, gespickt von Formulierungen, die farbenreiche Bilder vor dem geistigen Auge entstehen lassen. Zwei Beispiele: Der Tag vor dem Geburtstag wird als "der Vorabend eines Wiegenfestes" bezeichnet und die berührende Beschreibung von Möwen: "Die Möwen vom Zürchersee schreiben mir so sehnsüchtige Briefe und ich sehne mich nach den weißen Vögel, schreiender Schnee, wilde Bräute der Nordsee, weichgefiederte Abenteuerinnen."

Else Lasker-Schüler gelangt mit 25 Jahren durch die Vermählung mit dem Arzt Bertold Lasker nach Berlin. Dort mietet ihr Mann ein Atelier, damit sie ihre künstlerische Ader entsprechend entfalten kann. Sie nimmt zusätzlich Unterricht bei einem Maler und studiert des weiteren die Fotografie. Durch verschiedene Abendgesellschaften lernt sie viele angehende und bereits bekannte Schriftsteller kennen, wie den österreichischen Autor Karl Kraus, den sie verehrt:

"Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater, gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über den Raum - Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde, o, plastischer noch, denn alle seine Werke treten hervor, Reliefs in der Haut des Vorgangs."

Cover des Buches Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben (ISBN: 9783888976186)

Bewertung zu "Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben" von Sarah & Adolfo Kaminsky

Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Sarah Kaminsky "Adolfo Kaminsky Ein Fälscherleben"

"Wie wird man Fälscher?"
"Ich würde sagen ... per Zufall. Naja nicht ganz. Ohne es zu wissen, habe ich in den Jahren, bevor ich mich der Réstistance anschloss, alle Kenntnisse angesammelt, die ich afür brauche. Ich musste sie dann nur noch anwenden."

Das ist die Antwort, die Adolfo Kaminsky seiner Tochter Sarah auf oben gestellte Frage gibt. Ganz so knapp und einfach kann man diese sicher nicht beantworten. Sarah Kaminsky hat dazu ein ganzes Buch geschrieben. Es ist eine Biografie über ihren Vater, über einen Menschen, der sein eigenes Leben mehr als fünf Jahrzehnte für andere geopfert ja sogar viele Male selbst gefährdet hat:

"Wach bleiben. So lange wie möglich. Gegen den Schlaf kämpfen. Die Rechnung ist einfach. In einer Stunde kriege ich dreißig Blankopapiere fertig. Wenn ich eine Stunde schlafe, werden dreißig Personen sterben...
Den Atem anhalten, die Hand darf niemals zittern. Das Fälschen von Papieren ist Tüftelarbeit. Regelrechtes Filigranwerk. Mehr als alles andere fürchte ich technische Fehler, winzige Details, die mir entgehen könnten. Ein Sekundenbruchteil Unaufmerksamkeit kann sich als verhängnisvoll erweisen, von jedem Papier hängt Leben und Tod eines Menschen ab. Ich kontrolliere jeden Papierbogen wieder und wieder. Sie sind perfekt. Aber ich habe noch Zweifel. Ich kontrolliere sie noch einmal. Ich spüre keinerlei Spannkraft mehr. Schlimmer noch ich nicke ein."

Adolfo Kaminsky wurde als Sohn von russischen Juden in Buenos Aires geboren und kehrte als argentinischer Staatsbürger mit vier Jahren nach Frankreich in die Wahlheimat seiner Eltern zurück. Die Jahre des Zwangsexils, als die Familie nach einer vierwöchigen Schiffsreise von Buenos Aires nach Marseille von Frankreich ausgewiesen wurde und in der Türkei Zuflucht fand, prägten ihn sehr. Zwei Jahre lebten sie in furchtbarer Armut mit der Hoffnung, dass sie die gewünschten Passierscheine bekämen. Damals schon wurde Kaminsky die Bedeutung von Papieren bewusst und dass man ohne diese zur Immobilität verurteilt ist.

Selbstporträt Adolfo KaminskysSeine Tätigkeit als Fälscher begann er während des Zweiten Weltkrieges für die Réstistance aber noch im Sommer 1945 als viele seiner Mitkämpfer ihr altes Leben wieder aufgenommen hatten, blieb er Fälscher und produzierte deutsche Papiere für den Geheimdienst der französischen Armee. Als er aber nach Kriegsende Kartenmaterial von Indochina vervielfältigen sollte, verweigerte er den Auftrag, da er Antikolonialist aus Überzeugung war und ist. Er blieb jedoch nicht allzu lange untätig denn schon bald kontaktierten ihn alte Bekannte und so erhielt er einen neuen Auftraggeber: Alja Bet - die illegale Einwanderung von KZ-Überlebenden nach Palästina organisierte. Er erstellte in ihrem Auftrag falsche Kollektivvisa für die Flüchtlinge. Nach der Gründung des Staates Israel zog er für sich Bilanz:

"Ich war stolz darauf, dass ich die illegale Einwanderung von Zehntausenden Überlebenden unterstützt und zur Entstehung des Staates Israel beigetragen hatte. Aber nun rief ich Monsieur Pol an und sagte ihm, dass ich nicht dorthin wollte. Ich bliebe lieber in dem Land, dass sich für die Trennung von Staat und Religion entschieden und die Menschenrechte verkündete hatte, auch wenn sie noch immer nicht respektiert würden, auch wenn ich immer noch illegal sei. ... Mit dreiundzwanzig Jahren war ich also allein, hatte keine Papiere, kein festes Einkommen und keine offizielle Vergangenheit." Für einige Jahre fand er eine feste Stelle in einer Fotofirma bis sich die Ereignisse in Algerien überschlugen und er sich einem Netzwerk anschloss, dass sich für die Unabhängigkeit Algeriens engagierte. Zum Glück besaß er noch all seine seine Chemikalien und Farbstoffe, so dass er nach kurzer Zeit wieder als Fälscher einsteigen konnte. Doch auch nach diesem Konflikt gab es für ihn keine Ruhepause. Wiederum über Dritte wurde er Anfang der 60er gebeten sein Talent für weitere Aktionen einzusetzen.

"Überall in der Welt kämpften Völker um ihre Freiheit. Nach den Dominikanern und Haitianern fielen 1964 die Brasilianer unter das Joch einer Militärdiktatur. Während der Trikont-Konferenz in Havanna 1966 wurde die Solidaritätsorganisation der Völker Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gegründet, und Mattéi organisierte von Frankreich aus ein Unterstützernetz für die Revolutionäre Argentiniens, Venezuelas, Salvadors, Nicaraguas, Kolumbiens, Perus, Uruguays und Chiles, die gegen die Moskauer Linie vereint für die Revolution in Lateinamerikas kämpften. Nach und nach kamen all diese Länder auf meine Liste, aber das war noch nicht alles, denn über das Netz von Curiel half Mattéi auch der Anti-Apartheid-Bewegung Südafrikas. Hinzu kamen noch die portugiesischen Kolonien Guinea, Guinea-Bissau und Angola."

Was für ein Spektrum! Beeindruckend für mich war vor allem, dass er nicht nur Ausweise fälschte, sondern diese auch komplett neu herstellte. Das heißt er musste zunächst immer genau die Papierstruktur untersuchen, um diese danach exakt herstellen zu können. Mit den Jahren änderten sich natürlich auch die technischen Möglichkeiten, denen er sich immer wieder anpassen musste. Ja sogar die fälschungssicheren Schweizer Pässe konnte er nach langwierigen Experimenten produzieren. Neben Ausweisen und Pässen stellte er aber auch ganz alltägliche Dokumente (Führerscheine, Eintrittskarten, Beglaubigungen und vieles mehr) her, um die Identität von Flüchtlingen zu legitimieren. Auch vor Geld machte er nicht halt. Er fälschte französisches Papiergeld, um die Wirtschaft des Landes während des Algerienkrieges zu destabilisieren. Erst Anfang der 70er Jahre legte er nach einem Vorfall sein Amt nieder und begann mit 50 Jahren ein neues Leben in Algerien:

Sarah und Adolfo Kaminsky
Birgit Holzer"... plötzlich hatte ich den heftigen Wunsch, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Ich hatte ein unerhörtes Glück gehabt, dass ich Gefängnis und Tod entgangen war, das war mir klar. Nun zog ich Bilanz. Hatte ich alles in allem nicht genug Jahre im Schatten, im Untergrund damit verbracht, Leben und Freiheit zu schenken, ohne mich je um mein eigenes Leben, meine eigene Freiheit zu kümmern. Wir heirateten. Dein Bruder Atahualpa wurde geboren dann José, dann du, und es war, als hätte ich mit fünfzig Jahren eine zweite Chance bekommen."

Ein sehr interessantes Buch über einen Mensch, der nie an seinem Engagement gezweifelt hat und durch seine Taten unzähligen Menschen das Leben rettete. Uneigennützig, loyal gegenüber anderen und respektvoll gegenüber dem Leben steht Adolfo Kaminsky mit seiner Biografie für ein Ideal, das man sich in zumindest in der westlichen Welt kaum noch vorstellen kann. Sarah Kaminsky hat das Wesen ihres Vaters auf spannende und zugleich sehr liebevolle Art und Weise eingefangen. Mit eingeworfenen Fragen animiert sie ihn immer wieder zum Erzählen und schafft damit ein persönliches Portrait des Meisterfälschers des 20. Jahrhunderts. Eine kleine Perle unter den Biografien!

Cover des Buches Leise Musik hinter der Wand (ISBN: 9783257068610)

Bewertung zu "Leise Musik hinter der Wand" von Viktorija Tokarjewa

Leise Musik hinter der Wand
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Viktorija Tokarjewa "Leise hinter der Wand"

Als ich durch den Diogenes Newsletter erfuhr, dass ein neues Buch von Viktorija Tokarjewa erscheint, überkam mich die Lust dieses auch bald mein eigen nennen zu dürfen und es vor allem zu LESEN!  Schon allein der Buchtitel  "Leise hinter der Wand" und der Plot machten mich neugierig.

Adriana, kurz Ada genannt, liebt das Leben und die Liebe. Und ist ihr Verhalten für ihre Umgebung noch so unmoralisch, ihr Glauben an die Liebe rechtfertigt alles. Schon früh heiratet sie Ossja ihren ersten Ehemann und gründet mit ihm eine Familie. Doch schon wenige Jahre nach der Trauung fehlt ihr das kleine Quäntchen Glück und sie fragt sich, ob das nun alles gewesen sei. Natürlich nicht! Das Leben spielt ihr Leonard, ebenfalls verheiratet und mit Kind, in die Hände. Beide verlieben sich kurzerhand ineinander und nach vielen heimlichen Treffen und einer schmerzvollen Trennung, müssen beide erkennen, dass sie ohne einander nicht mehr weiterleben möchten. Sie beschließen das Wagnis einzugehen - und können nur gewinnen. Erst durch den plötzlichen Tod Leonards trennen sich ihre Lebens- und Liebeswege und Ada erfährt mit voller Wucht den Schmerz dieser Tragödie. Mit Swerjew, einem russischen Künstler, findet sie ihr spätes Liebesglück und erfährt dadurch, dass es in einem Leben mehrere Lieben geben kann. Tokarjewa zeichnet nicht nur die Liebesgeschichte von Ada und Leon (später dann Swerjew) nach, sondern schafft es auch mit wenigen Sätzen die Geschichte Russlands darzustellen, natürlich immer eng verwoben mit Adas Lebensgeschichte.

Beeindruckt hat mich mal wieder der besondere Schreibstil von Viktorija Tokarjewa: kurze einfache Sätze, prägnant, nichts Überflüssiges, keine Schnörkel, klar und deutlich; und doch so dicht und poetisch. Es gibt viele wunderschöne Textstellen, die verzaubern, bei denen man inne hält und auf den Nachklang der Wörter lauscht:

"Er sah ihr ins Gesicht. Sie hatte eine schöne Stirn und wunderschöne Augen, aber der größte Schatz eines Gesichts war der Pfad von der Nase zur Oberlippe. Man sagt, dass dieser Pfad die zarte Berührung eines Engels ist, der Engelspfad."

"In der ersten Zeit war Swerjew vierundzwanzig Stunden am Tag einfach nur glücklich. Das Glück war grell und stabil, wie die Hitze im Juli. Dann verging die Hitze, es blieb eine gleichmäßige seelische Wetterlage. Es war wie leise Musik hinter der Wand."

"Sie war glücklich, dass sie nicht in ein leeres Haus zurückkehrte. Jemand wartete auf sie und freute sich über sie. Alles, was er sagte, war für sie interessant und bedeutungsvoll. Sich mit einem interessanten Menschen auszutauschen, das ist nicht weniger wichtig, als sich gesund zu ernähren. Der gedankliche Austausch, das ist auch Nahrung, bloß seelische."

Ich möchte mich beim Diogenes Verlag ganz herzlich für diese wunderbare Buchperle bedanken und hoffe, dass wir noch viel von Viktorija Tokarjewa zu lesen bekommen.

Cover des Buches Die gerettete Zunge, Sonderausg. (ISBN: 9783446130692)

Bewertung zu "Die gerettete Zunge, Sonderausg." von Elias Canetti

Die gerettete Zunge, Sonderausg.
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Elias Canetti "Die gerettete Zunge" Die Geschichte einer Jugend

Seit längerem hatte ich mir vorgenommen mich Elias Canetti weiter zu nähern. Mit "Der Blendung" hatte er mich vor zwei Jahren überzeugt und nun wollte ich seine dreibändige Autobiografie im Rahmen des hiesigen Literaturkreises in Angriff nehmen. Den ersten Teil "Die gerettete Zunge" habe ich nun erfolgreich gemeistert und ich möchte meine Eindrücke sehr gern mit euch teilen.

Elias Canetti wurde 1905 in Rutschuk (Bulgarien) als Sohn einer Spaniolen-Familie (sephardisch-jüdischen Familie) geboren. Schon mit sechs Jahren erlebte er den ersten prägenden geografischen Wechsel als seine Eltern beschlossen sich vom dominanten Großvater zu lösen und nach Großbritannien zu ziehen.

Seine starke Bindung zum Vater, der schon früh verstarb, und die Dominanz der Mutter prägten seine ersten Lebensjahre und somit auch den ersten Teil seiner Autobiografie. Zu Hause wurde Spanisch und Bulgarisch gesprochen, die deutsche Sprache, die Sprache seiner Eltern, die sich in Wien kennen und lieben gelernt haben, erlernte er erst mit circa acht Jahren unter unwahrscheinlichen Druck der Mutter. "So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache." Hingegen er die Liebe zur englischen Sprache vor allem dem Vater zu verdanken hatte. Nach dessen Tod 1912 siedelte die Mutter mit den drei Söhnen nach Wien um. Doch schon vier Jahre später ging es weiter Richtung Schweiz, die Mutter die meiste Zeit dort zur Kur aufgrund von gesundheitlichen Problemen, die beiden jüngeren Brüder wurden im Internat untergebracht. Canetti selbst wohnte ebenfalls in einem Art Internat mit der Besonderheit, dass er ausschließlich von Frauen und Mädchen umgeben war. Der erste Teil endet 1921 mit dem Umzug nach Deutschland, genauer nach Frankfurt am Main, der von seiner Mutter vorangetrieben wurde. Und wieder die Mutter! Selten habe ich so eine starke Bindung zwischen Mutter und Sohn erlebt, die sich in Liebe aber auch in Abneigung äußerte. Elias war auf jeden männlichen Begleiter an der Seite seiner Mutter eifersüchtig und achtete strengstens darauf, dass es zu keinem körperlichen Kontakt kam. Die Mutter wiederum opferte ihr noch sehr junges Leben für die drei Kinder. Sie behandelte ihren ältesten Sohn Elias schon sehr früh als Gleichgesinnten und weckte in ihm das Interesse für Literatur und Theater. Besonders blieben ihm die gemeinsamen Leseabende mit der Mutter in Erinnerung. Wie viel Respekt und Hochachtung er dieser entgegen brachte, äußert sich an vielen Stellen im Buch. Exemplarisch dafür ein Auszug:

"Eine zweite Wohltat, die mir meine Mutter während dieser gemeinsamer Züricher Jahre erwies, hatte noch größere Bedeutung: sie erließ mir die Berechnung. Ich bekam nie zu hören, daß man etwas aus praktischen Gründen tue. Es wurde nichts betrieben, was nützlich für einen werden konnte. Alle Dinge, die ich anfassen mochte, waren gleichberechtigt. Ich bewegte mich auf hundert Wegen zugleich, ohne hören zu müssen, daß dieser oder jener bequemer, ergiebiger, einträglicher zu befahren sei. Es kam auf die Dinge selber an und nicht auf ihren Nutzen. Genau und gründlich musste man sein und eine Meinung ohne Schwindeleien vertreten können, aber diese Gründlichkeit galt der Sache selbst und nicht irgendeinen Nutzen, den sie für einen haben könnte."

Schlichtweg eine wunderschöne Liebeserklärung, eine Huldigung an die mütterliche Liebe, die ihm besondere Freiheiten gewährte. Besonders angetan bin ich aber von seiner Sprache, die Komplexes auf den Punkt bringt und für den Leser anschaulich macht. Wie genau er seine Gefühle und Gedanken in Worte fassen kann, ohne dabei ins Abstrakte abzurutschen oder in einen philosophischen Plauderton zu verfallen.

Seine Beschreibungen sind insgesamt sehr bildhaft, detailverliebt aber auch interessant und einnehmend. Die ersten sechs Lebensjahre Canettis in Bulgarien erinnern mich ein bisschen an die farbige bunte Welt der Rada Biller in "Melonenschale". Erstaunlich wie klar und deutlich er mit 74 Jahren dies alles aufs Papier bringt. Beeindruckt war ich auch von dem starken Einfluss der Schule, den Lehrern. Wie lebhaft er die einzelnen Facetten der Charakter noch schildern und beurteilen kann - nach all den Jahren.

Fazit: Eine vielschichtige Autobiografie eines Schriftstellers mit Eindrücken aus einem vergangenen Jahrhundert, einem Bekenntnis zur Literatur und Schriftstellerei und ausgeprägter Menschenkenntnis. Lesenswert für all jene, die sich einfühlen können und nicht vor einer sehr beschreibenden Darstellung des Lebens zurückschrecken.

Cover des Buches Die offenen Adern Lateinamerikas (ISBN: 9783872941626)

Bewertung zu "Die offenen Adern Lateinamerikas" von Eduardo Galeano

Die offenen Adern Lateinamerikas
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Rezension zu "Die offenen Adern Lateinamerikas" von Eduardo Galeano

Ich habe dieses Buch des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano lange nicht gekannt aber zum Glück wurde es mir noch rechtzeitig geschenkt. "Die offenen Adern Lateinamerikas" öffnet Augen in Bezug auf die Geschichte des Kontinents, zerstört romantische Illusionen (falls die jemand in Verbindung mit der spanischen Conquista in Lateinamerika haben sollte), nährt die Wut des Lesers in Bezug auf die verschiedenen ausländischen Interventionen der letzten Jahrhunderte und wirbt um Verständnis für die Situation vieler lateinamerikanischer Staaten.

Eduardo Galeano beschreibt Geschichte und komplexe Sachverhalte in einfachen Worten, da er mit den Menschen ins Gespräch kommen möchte. Als nicht spezialisierter Autor wendet er sich an ein nicht spezialisiertes Publikum mit der Absicht, gewisse Tatsachen zu verbreiten, die von der offiziellen Geschichtsschreibung, die eine Beschreibung der Geschichte der Sieger ist, verschleiert und verfälscht wurde.* Aufgrund dieser Ambition wurde es lange in verschiedenen Ländern Lateinamerikas verboten. So geschehen in Chile, Argentinien und Uruguay zu Zeiten der Militärdiktaturen. Galeano, Zeit seines Lebens als Schreibender unterwegs, beschäftigten viele Fragen, die er mit diesem Buch versuchte zu beantworten: "Ist Lateinamerika ein Teil der Welt, der zur Armut und Demütigung verdammt ist? Verdammt von wem? Hat Gott die Schuld oder vielleicht die Natur? Das erdrückende Klima, die minderwertige Rasse? Die Religion, die Bräuche? Oder ist unser Unglück ein Produkt der Geschichte, die von Menschen gemacht wurde und darum auch von Menschen verändert werden kann?"

Das Buch ist in verschiedene Teile untergliedert. Neuere Auflagen beginnen mit dem Einstieg "Sieben Jahre danach". Galeano beschreibt darin Reaktionen auf das Buch und die weitere Entwicklung Lateinamerikas der letzen sieben Jahre nach Erstauflage. Nach der relativ langen Einleitung "Hundertzwanzig Millionen Kinder im Mittelpunkt des Gewitters" folgt Teil 1 mit den Anfängen der Conquista. Teil 2 beschreibt vor allem die "derzeitige Struktur (in den 70er Jahren) der Ausplünderung".

Sicher hat sich seit 1978, als das Buch erschien einiges verändert aber viele angesprochene Probleme bestehen nach wie vor. Und über 30 Jahre später gelangte das Buch zu neuer Bekanntheit, als der venezualische Präsident Hugo Chávez beim fünften Amerika-Gipfel (2009) das Buch dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama überreichte.

Cover des Buches Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger (ISBN: 9783257067798)

Bewertung zu "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger" von Meir Shalev

Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger
glasperlenspiel13vor 11 Jahren
Rezension zu "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger" von Meir Shalev

Seit langem hat mich kein Buch mehr so berührt. Ich habe gleichermaßen gelacht und geweint und Meir Shalev schenkt mir mit diesem Roman eine literarische, eine dritte Großmutter: Großmutter Tonja. Es ist ein Buch über die Familie des israelischen Erfolgsautors, eine Geschichte über das Israel der frühen Jahre, über das Leben einer ganzen Generation, vor allem aber eine liebevolle Widmung an seine russische Großmutter und ihren amerikanischen Staubsauger "Sweeper".

Zu dieser Geschichte gibt es natürlich, wie in jeder Familie, verschiedene Versionen: "Die Sache war so" war die Eingangsformel für jede Geschichte, die sie erzählte. Sie sprach diese Worte unweigerlich in ihrem starken russischen Akzent, mit dem R, bei dem die Zungenspitze nur so am Gaumen ratterte. Auch ihre Kinder - meine Mutter und deren Geschwister - sagten "die Sache war so" mit demselben Akzent und demselben R, wenn sie eine Geschichte begannen und nicht nur sie. Bis heute benutzen wir diese Eröffnung und diesen Akzent, um zu sagen: Das ist die Wahrheit. Was ich gleich erzähle, entspricht den Tatschen."

Der Staubsauger war ein Geschenk ihres in den USA lebenden Schwagers. Hintergrund: Großmutter Tonia war von einem Putzwahn besessen, den man nicht besser beschreiben kann als dieser kleine Dialog zwischen Meir und einer damaligen Freundin:

"Sie hat einen Sauberkeitsfimmel", sagte ich.
"Macht nichts", erwiderte sie "meine Mutter auch."
Ich lächelte höflich. "Abigail" sagte ich, "glaub mir, du verstehst nicht, worum es geht, um welche Dimension und welches Niveau von Sauberkeit."
"Meine Mutter kratzt die Fugen zwischen den Küchenkacheln mit Zahnstochern aus, und zwar eigenhändig, weil sie der Putzfrau nicht traut", gab sie zurück.
"Abigail", sagte ich, "du kommst der Sache näher, aber du und deine Mutter liegen immer noch weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Meine Großmutter wäscht die Wände ab, und auf jede Türklinke und jeden Fenstergriff legt sie einen kleinen Lappen, damit man nicht mit schmutzigen Fingern dranfasst."
"Meine Mutter", konterte Abigail, "desinfiziert die Dusche nach jeder Benutzung."
Ich prustete los. "Bei euch duscht man in der Dusche? Bei meiner Großmutter ist das verboten. Wir haben einen Schlauch an der Wand des Kuhstalls, und das ist eine vorzügliche Dusche, wenn ich das anfügen darf."
"Meine Mutter", sagte sie, "fährt immer noch einen Buick aus den fünfziger Jahren, aber den Staubsauger wechselt sie jedes Jahr, weil das neue Modell womöglich besser saubermacht und noch drei Staubartikel mehr aus dem Teppich saugt."
"Abigail", sagte ich, "aus Liebe und aus Rücksicht auf dich hatte ich das Thema Staubsauger nicht anschneiden wollen, aber da du selbst damit angefangen hast, sollst du wissen, dass auch meine Großmutter eine Staubsauger besitzt."
"Ah ja?", fragte Abigail verwundert, was bedeuten sollte: Na und? Viele Leute haben ein Staubsauger. Dafür braucht man keinen Sauberkeitsfimmel.
"Sie hat einen Staubsauger, benutzt ihn aber nicht", erklärte ich.
"Weil er nicht richtig funktioniert?"
"Weit schlimmer. Sie benutzt ihn nicht, weil er davon schmutzig wird." "Was?!"
"Du hast richtig gehört. Weil er sich mit Staub und Dreck füllt und dann ebenfalls saubergemacht werden muss."
"Du hast gewonnen", gestand sie zu.

Seine Freude am Erzählen spürt man auf jeder Seite. Auf einer Lesereise in Russland wurde er sogar vom ansässigen Publikum als russischer Autor, aufgrund seiner wunderbaren Erzählkunst, betitelt. Seine Beschreibungen der Familienmitglieder, der Landschaften aber auch der damaligen Widrigkeiten der jüdischen Einwanderer aus aller Herren Länder sind so bildhaft dargestellt, dass man wahrhaftig Teil dieser Familie wird und nach Ende der Lektüre eine weitere Version der Geschichte mit "Die Sache war so" beginnen könnte. Gleich eingangs weist er aber daraufhin, dass er die große Geschichte seiner Familie in einem anderen Buch, nicht heute oder morgen auch nicht in den nächsten Jahren schreiben wird. Aber schon jetzt können wir uns auf dieses Buch freuen, denn es wird ein farbenfrohes Mosaik israelischer Geschichte in Verbindung mit einer ganz besonderen Familienchronik.

Schon sein Roman "Im Haus der Großen Frau" überzeugte mich vor wenigen Jahren. Aber erst jetzt verspüre ich Neugierde und Lust auf seinen ersten Roman "Ein Russischer Roman" und die vielen anderen Werke von ihm. Ich lege euch dieses Buch wirklich ans Herz. Es ist für mich die Perle des Jahres 2012!

Cover des Buches Die süße Einsamkeit (ISBN: 9783813503777)

Bewertung zu "Die süße Einsamkeit" von Irène Némirovsky

Die süße Einsamkeit
glasperlenspiel13vor 12 Jahren

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