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hundertwasser

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches 9mm Cut (ISBN: 9783518473993)

Bewertung zu "9mm Cut" von Sybille Ruge

9mm Cut
hundertwasservor 12 Tagen
Kurzmeinung: Eine Bereicherung für die deutsche Krimilandschaft!
Eine Bereicherung für die deutsche Krimilandschaft!

Quasi aus dem Nichts kam Sybille Ruge, als sie mit ihrem Krimidebüt "Davenport 180 × 90" gleich einmal auf die Krimibestenliste schoss, den Glauser-Krimipreis erhielt und sich auf Platz 3 des Treppchens des Deutschen Krimipreises 2022 wiederfand. Nun, zwei Jahre später, gibt es mit "9 mm cut" den zweiten Krimi aus der Feder Ruges, in dem sich ihre Erzählerin im Auftrag ihres K2 (Kunde 2) in die Schweiz begibt. Dort soll sie sich die wohltätige Stiftung "Interni" ansehen, in der die Geschäftsführer im Halbjahrestakt wechseln. Doch kaum dass die Protagonistin unter Pseudonym in die Schweiz reist, um einen genauen Blick auf das Geschäftsgebahren dort zu werfen, wird der letzte Geschäftsführer erschossen aufgefunden...
Sybille Ruge ist ein schneller, sprachlich wilder und mehr als direkter Thriller gelungen, der in das Milieu der Reichen in der Schweiz entführt. Man muss bei dieser verdichteten und temporeichen Sprache dranbleiben, um die Übersicht über die schnell geschnittene Handlung zu behalten. Wem dies gelingt, wird mit einem schwarzen Thriller in ganz eigenem Sound irgendwo zwischen Simone Buchholz und Kim Koplin belohnt, der die deutsche Krimilandschaft bereichert.

Cover des Buches ruh (ISBN: 9783753001005)

Bewertung zu "ruh" von Şehnaz Dost

ruh
hundertwasservor 14 Tagen
Kurzmeinung: Mich hat "ruh" leider noch nicht ganz überzeugt.
Noch nicht ganz überzeugend

Eigentlich klingt es nach einem spannenden Text. Ein Lehrer mit türkischen Wurzeln, der sich von seiner Frau getrennt hat und nun mit einem Mann zusammenlebt. Sein Beruf, seine Prägung, seine Herkunft. All das sind Themen in Şehnaz Dosts Debütroman "ruh", der mich aber leider alles andere als zufrieden zurückgelassen hat.

Das liegt in meinen Augen an der Überfrachtung ihres Textes, der mit dem Thema der Seelenwanderung ein eigentlich starkes Unterthema hat, das hier aber den Text oftmals überfachtet oder zur Seite schiebt. Die Lebenswelt der verstorbenen Urgroßmutter Süveyde, viele türkische Floskeln und Einsprengsel, die zunehmende Überlagerung der Gegenwart mit Gelebtem, all das mag in meinen Augen nicht so wirklich funktionieren. Für dieses Debüt wäre etwas weniger mehr gewesen, verbunden mit einem klareren erzählerischen Fokus. So bleibt das Gefühl von Talent zurück, das hier noch zu keiner überzeugenden literarischen Reifung gefunden hat.

Cover des Buches Der Sturm: Vergraben (ISBN: 9783499013188)

Bewertung zu "Der Sturm: Vergraben" von Karen Sander

Der Sturm: Vergraben
hundertwasservor einem Monat
Kurzmeinung: Der spannende Auftakt zu einer weiteren Darß-Trilogie
Vergraben und freigelegt

Schon einmal bescherte uns Karen Sander eine Trilogie, die am Darß an der Nordsee spielte. In "Der Strand" galt es das Verschwinden der jungen Lilli Sternberg aufzuklären. Damals arbeiteteten der Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und die vom LKA entsandte Mascha Krieger zusammen, um die Spuren im Fall des Verschwindens des jungen Mädchens gemeinsam aufzuklären.
Nun gibt es mit "Der Sturm - Vergraben" den Auftakt zu einer weiteren Darß-Trilogie, in der das aus den vorherigen drei Bänden bekannte Team wieder zusammenfindet.
Der Anlass ist diesmal ein Skelett - beziehungsweise derer gleich zwei - die ein Sturm an einem Abschnitt der Steilküste freilegt. Der mögliche Zusammenhang zu den damaligen Taten des Darß-Rippers ist genauso Thema wie der Fund einer CD, die in der Nähe der Toten gefunden wird und deren Entschlüsselung Maschas Aufgabe wird. Dass ihr zudem noch die letzte Nachricht eines Verschwundenen zugespielt wird, macht die Sache nicht einfacher.

"Der Sturm - Vergraben" ist ein spannender Auftakt zur neuen Trilogie. Karen Sander legt schon einige erzählerische Fäden aus, deren ganzes Geflecht dann hoffentlich im Laufe der weiteren Bände noch verstrickt und entknotet wird. Mir hat es schon einmal gut gefallen!

Cover des Buches Paris Requiem (ISBN: 9783518473733)

Bewertung zu "Paris Requiem" von Chris Lloyd

Paris Requiem
hundertwasservor einem Monat
Kurzmeinung: Eddie Girals zweiter Einsatz überzeugt einmal mehr.
Zurück im besetzten Paris

Zweiter Einsatz für Eddie Giral im von den Nationalsozialisten besetzten Paris. Chris Lloyd gelingt mit Paris Requiem abermals ein souveräner und traumwandlerisch sicher erzählter Kriminalroman mit einem unangepassten Helden, der diesmal nicht nur zu einem Pakt mit dem Teufel gezwungen ist.

Vor zwei Jahren erschien mit Die Toten vom Gare d’Austerlitz der erste Roman des Briten Chris Lloyd, den Herausgeber Thomas Wörtche für seine Krimiedition bei Suhrkamp aufgetan hatte. Gleich zum Einstand gelang Lloyd ein überzeugender Kriminalroman, der seinen Helden Eddie Giral hervorragend einführte. Nicht einmal vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris ließ sich der bei der Pariser Polizei angestellte ehemalige Jazzclub-Rausschmeißer von der Arbeit abhalten. In einem komplexen Fall rund um eine Gruppe ermordeter Polen bewies er seinen kriminalistischen Riecher und sein Talent für Ironie und Aufrichtigkeit in schweren Zeiten.

Im zweiten historischen Krimi gelingt es Lloyd nun, das Begonnene auf großartige Art und Weise fortzuführen. Denn die Nazis sind noch immer in Paris präsent. Während die Vichy-Regierung unter General Pétain die Kollaboration anstrengt, regt sich in Paris langsam subtiler Widerstand gegen die Abwehr, Gestapo und SD, die die Straßen der Hauptstadt kontrollieren.

Eddie versieht seinen Dienst mit viel Widerwillen gegenüber den neuen Machthabern in der Stadt, allen voran Major Hochstetter von der Abwehr, der ein genaues Auge auf ihn hat. Zwischen Nazis und organisiertem Verbrechen versucht er irgendwie die Ordnung aufrechtzuerhalten und bangt zudem auch noch um seinen Sohn, den er im ersten Band der Reihe zur Flucht aus Paris verholfen hat.

Tod im Jazzclub

Als er nun an einen Tatort in einem von den Besatzern stillgelegten Jazzclub gerufen wird, ist Giral mehr als irritiert. Denn der Tote, der mit Anglergarn gefesselt auf einem Stuhl sitzt, sollte sich eigentlich nicht in dem Club, sondern hinter Gittern befinden. Schließlich hat Eddie selbst für seine Inhaftierung gesorgt. Doch irgendwie scheint es das Mordopfer aus dem Gefängnis geschafft zu haben, um sich nun mit zugenähten Lippen im Jazzclub wiederzufinden. Wer hatte mit dem Toten noch eine Rechnung offen?

Bei seiner Suche bewegt sich Eddie auf vertrautem Terrain. Halbseidene Gestalteten, Kaschemmen und Jazzclubs, in denen sich Nazis und Unterweltgrößen die Klinke in die Hand geben, sind Stationen seiner Suche, die er immer unter genauer Beobachtung Major Hochstetters vorantreibt. Dabei stößt er auf die Spur anderer Gefangener, die offenbar widerstandslos aus der Haft entlassen wurden und die sich nun zusammengetan haben scheinen – aber mit welchem Ziel? Dass ihm bei seiner Suche in Paris immer wieder der Name „Capeluche“ begegnet, ohne dass er der Lösung des Mordfalls im Jazzclub nennenswert näherkommt, all das macht die Sache nicht unbedingt einfacher.

Eddie Giral vs. Major Hochstetter

Paris Requiem ist ein starkes stück Kriminalliteratur, bei dem die schnodderige und von ironie geprägte Haltung des Ich-Erzählers Eddie mit einem guten Timing, einem ebenso gut entwickelten Plot und einem hochinteressanten Kapitel französischer Geschichte zusammenfallen.

Gekonnt lässt Lloyd, der bereits zur Geschichte der Résistance forschte, sein Wissen in den Roman einfließen, ohne diesen damit zu beschweren. Die Deals der Unterwelt mit den neuen Herren in der Stadt, der Mangel der Stadtbevölkerung und der erstarkende Widerstand gegen die Nationalsozialisten sowie das Kompetenzgerangel zwischen Sicherheitsdienst, Abwehr und Gestapo sind nur einige Punkte, die den Hintergrund zu Paris Requiem ausmachen.

Im Duell Eddies gegen den faszinierend mephistophelischen Hochstetter hat der Roman seine stärksten Szenen. Großartig etwa die Begeisterung des deutschen Majors ausgerechnet für Beethovens Freiheitsoper Fidelio, was ihn in einen Konflikt mit Eddie bringt, der als gebildeter Franzose die Volkserziehung der Deutschen überhaupt nicht schätzt. Dieser Tanz mit dem Teufel, der schon im ersten Band der Reihe begann, er geht hier in eine neue Runde und wird noch einmal ein ganzes Stück komplizierter.

Leben im besetzten Paris

Daneben macht Paris Requiem auch das Leben im besetzten Paris erfahrbar. Lloyd zeigt in starken Szenen den Vernichtungswillen der Deutschen, der sich von jüdischen Bewohnern der Stadt bis hin zu den sogenannten Frontstalags erstreckt. Das mühselige Anstehen für Essensmarken der einfachen Bevölkerung und der im Gegensatz dazu florierende Schmuggel von Whisky oder Pervitin, die kleinen und großen Deals, sie sind stetes Thema in Lloyds Welt.

Während sich Eddie immer wieder seinen Entwachern entzieht, auf eigene Faust sogar bis in die nachtschwarzen Wäldern Compiègnes vordringt, verstrickt er sich immer mehr in Abhängigkeiten und Versprechungen. Eine zusehends komplizierter und gefährlicher werdende Gemengelage, die er französische Ermittler nur durch sein Talent für Ironie erträglich macht (und sich damit in guter Gesellschaft ähnlich angelegter Ermittlungsfiguren wie Adrian McKintys Sean Duffy oder Ben Aaronovitchs Peter Grant befindet).

Fazit

Viele Fronten und Sorgen, ein raffinierter Mörder, eine Stadt im Ausnahmezustand und mittendrin Eddie zwischen Abwehr, Gestapo, Jazzkneipen und alten Versprechungen, das kennzeichnet Paris Requiem. Abermals gelingt Chris Lloyd ein toll gesetzter Krimi, der historische Kulisse und einen Krimiplot vorzüglich zu verbinden weiß. Ebenso wie der erste Band der Reihe ist auch dieser neue Krimi wieder ein hervorragendes Stück historischer Kriminalliteratur, das sich neben französischer Stimmen wie Didier Daenickx vorzüglich ausnimmt!

Cover des Buches Der flüsternde Abgrund (ISBN: 9783518473665)

Bewertung zu "Der flüsternde Abgrund" von Veronica Lando

Der flüsternde Abgrund
hundertwasservor einem Monat
Kurzmeinung: Ein düsterer Trip in den australischen Regenwald...
Wenn der Regenwald ruft…

Veronica Lando nimmt uns in ihrem Debüt Der flüsternde Abgrund mit nach Granite Creek, einem kleinen Dorf im australischen Regenwald. Hier ist ein Junge verschwunden – und das nicht zum ersten Mal. Der Regenwald habe ihn wie viele Menschen zuvor in seine Fänge gelockt, heißt es. Der Journalist Callum Haffenden mag das nicht glauben und steht bei seiner Suche nach dem Verschwundenen schon bald vor der Frage, welche Abgründe hier gefährlicher sind – die des Waldes oder die der Menschen?

Für Menschen wie ihn ist der australische Regenwald nicht gemacht. Das muss der preisgekrönte Journalist Callum Haffenden schnell feststellen, als er wieder in seine Heimat nach Granite Creek zurückkehrt. Der Anlass ist ein bestürzender. Denn wie schon einige Male zuvor ist erneut ein Junge im Regenwald verschwunden. Man munkelt von der Legende des flüsternden Waldes, der die Menschen zu sich lockt und sie dann im steinernen Abgrund seiner Felsen zerschellen zu lassen. Kinder wappnen sich mit klingelnden Armbändern, um der Versuchung des Waldes zu widerstehen. Und auch Callum spürt die Anziehung des Waldes, als er sich der Suche nach dem verschwundenen Jungen anschließt.

Dabei sind dauerbeschlagene Brillengläser noch das kleinste Hindernis. Undurchdringliche Fauna, mörderische Kasuare, giftige Pflanzen – und dann auch noch das lockende Felsenmeer, das immer wieder zu rufen scheint, wenn der Wind günstig steht. Sie alle erschweren Callum und den Freiwilligen die Suche. Die wahren Motive Callums, die ihn für die Suche die lange und sehr beschwerliche Reise aus dem tasmanischen Hobart antreten lassen, enthüllt Veronica Lando allerdings erst langsam.

Verschwunden in Granite Creek

Vor Ort versucht Callum Licht ins Dunkel zu bringen. Warum war der Junge im Wald campen, wo doch ein Hurrikan aufzieht und Dauerregen und die menschenfeindliche Umgebung des Regenwaldes doch eigentlich keinen Grund für einen längeren Aufenthalt im Freien liefern? Hat eventuell Callums alter Feind, der Vater des Jungen seine Hände im Spiel? Als dann auch noch in Callums Hotelzimmer eingebrochen wird, mehren sich die Zeichen, dass jemand überhaupt nicht daran gelegen ist, dass die Wahrheit über den Jungen und die Geheimnisse von Granite Creek ans Tageslicht gelangen.

Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando ist ein Krimi, der für ein Debüt einen hohen Formwillen an den Tag legt (dem die Autorin literarisch tatsächlich auch entsprechen kann). So ergänzt sie die Handlung um Callums Suche nach der Wahrheit mit Rückblenden, die aus Ich-Perspektive Geschehnisse vor dreißig Jahren erzählen. Diese Rückblenden verschmelzen langsam mit der Gegenwart, ehe alles in einem sturmumtosten Showdown kulminiert, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig überlagern.

Während sie Callums Sicht auf den verschwundenen Jungen Stück für Stück dekonstruiert, indem immer mehr dunkle Flecken auf seiner in eigentlich so reinen Weste auftauchen drängen dazu gegenläufig immer mehr familiäre Geheimnisse und Wahrheiten in Granite Creek ans Tageslicht. Das ist alles wohldosiert und aufeinander abgestimmt. Mehrere, gut eingearbeitete Wendungen halten die Spannung hoch und lassen mit Callum miträtseln.

Vermisstensuche, Nature Writing und Familiengeheimnisse

Mit der Figur des ornithologisch begeisterten Callum bringt Lando zudem eine gehörige Prise Nature Writing ins Buch, ist die Natur des australischen Regenwaldes doch neben Callum der zweite große Hauptdarsteller. Von Säulengärtnern bis zur Flecken-Rußeule gibt es jede Menge Vögel zu entdecken, mit der man auch gut in Elizabeth Hargreaves‘ Spiel Flügelschlag punkten könnte.

Diese Verschmelzung von Natur, Suche nach einem vermissten, dörflichen Legenden und familiären Geheimnissen erinnert in dieser Kombination etwas an ihren australischen Landsmann Kyle Perry. Mit dessen Debüt Die Stille des Bösen ist dieses Debüt ebenbürtig (was deutlich für beide Autor*innen aus Down Under spricht und wieder einmal kriminalliterarisch deutlich das übertrifft, was sich hierzulande so auf den Bestsellerlisten tummelt). 

So gelingt Herausgeber Thomas Wörtche hier erneut eine tolle Entdeckung für das von ihm kuratierte Krimiprogramm bei Suhrkamp. Hier ist eine kriminalliterarische Stimme aus Australien zu lesen, deren reifes und souverän gestaltetes Krimidebüt auf weitere Werke diesen Kalibers hoffen lässt. 

Von dem Flüstern dieses Buchs kann man sich gerne in die Seiten hineinlocken lassen – man wird es im Gegensatz zu einigen Figuren im Buch nicht bereuen!

Cover des Buches Wellness (ISBN: 9783492072144)

Bewertung zu "Wellness" von Nathan Hill

Wellness
hundertwasservor einem Monat
Kurzmeinung: Literarische Wellness und eine überzeugende Erkundung, wie eine moderne Ehe heute aussehen könnte.
Eine moderne Ehe

Wie kann sie aussehen, die moderne Ehe? Nathan Hill unternimmt in seinem zweiten Roman Wellness einen vielschichtigen Erkundungsversuch und spürt ihr in den Weiten Kansas‘, im gentrifizierten Chicago und sogar im Swingerclub nach. Ein großartiges und abwechslungsreiches Leseerlebnis, trotz seines Umfangs keineswegs zu lang!

Kommst du? Mit diesen Worten beginnt die Liebesgeschichte, die im Mittelpunkt von Nathan Hills neuem Roman steht.

Erwies sich Hill mit seinem Erstling Geister als hellsichtiger Prophet, der noch vor der Wahl Donald Trumps am Rande seines Romans von einem egoistischen und wenig präsidialen republikanischen Präsidentschaftsbewerber erzählte, so hat er sich für seinen zweiten Roman die Gabe des genauen Blicks bewahrt. Dies stellt er unter Beweis, indem er von Jack Baker und Elizabeth Augustine erzählt, die sich schon seit geraumer Zeit als anonyme Beobachter ihrer gegenüberliegenden Wohnungen im Chicagoer Stadtviertel Wicker Park vertraut waren. 

Aber erst ein Abend im Jahr 1993 sorgt dafür, das aus den Voyeuren ein wirkliches Paar wird. Denn Jack fotografiert in der vielfältigen Musikszene, als er an einem Abend bei einem Gig aufstrebender Bands seine so häufig beobachtete Nachbarin Elizabeth entdeckt. Mit einem „Kommst du?“ lockt er diese zunächst in die Chicagoer Nacht hinaus und wenig später in ein gemeinsames Leben hinein.

Dieses Leben steht im folgenden reichlich wilden, aber erzählerisch höchst durchdachten Montagegewitter im Mittelpunkt und wird von Hill von allen Seiten betrachtet. Dafür springt er in der Zeit nach vorne, zeigt Elizabeth und Jack als Eltern eines Sohnes, um dann auf die Herkunft der beiden zu blicken und vom Aufwachsen Jacks als schwächlichem Farmerkind in Kansas und Elizabeth als Erbin alten Geldes zu erzählen. So geht es in diesem Roman hin und her, der auch wie schon in Hills erstem Roman mit seinem Formenreichtum und den erzählerischen Einfällen überzeugt, wodurch sich die 730 Seiten deutlich kurzweiliger anfühlen, als es die schiere Zahl glauben machen will.

Die Frage nach der modernen Ehe

Die Widersprüchlichkeit in der Herkunft ist in Wellness genauso Thema wie die allesüberlagernde Frage, wie eine Ehe heute aussehen kann und wie das überhaupt gelingt, ein Paar zu sein.


Elizabeth hörte zu, während Kate sagte, das Problem moderner Ehen sei eigentlich das ständige Zusammensein, all die Vertrautheit, dieser dumme Drang, vollständig mit dem anderen zu verschmelzen, dabei könne eine Ehe nur die Jahrzehnte überdauern, wenn man ihr etwas Mysterium, Distanz und Eigenständigkeit injiziere, und als Elizabeth das hörte und sich ein Leben in völliger Unabhängigkeit ausmalte, gelegentlich gewürzt mit einer vergnüglichen und ethisch vertretbaren Affäre mit einem gut aussehenden Fremden in einer von allen Verantwortungen der Ehe oder der Elternschaft befreiten Nacht, wusste sie augenblicklich: Das war endlich eine Geschichte, die sie glauben konnte.

Nathan Hill – Wellness, S. 452


Wie Umgehen mit Routine und Vertrautheit? Welchen Konzepten als Paar kann man folgen und wie viel Freiheit bedarf das eigene Zusammensein? Soll es eher das Konzept der offenen Ehe sein, wie von Bekannten praktiziert, oder gleicht das eigene Miteinander eher dem Konzept, wie es etwa der Maler Grant Wood in seinem ikonischen Werk American Gothic zeigt? 

Nicht nur an diesem Punkt müssen Elizabeth und Jack erkennen, dass sie eigentlich an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen und dass sie trotzdem zusammengefunden haben.

Wie zu einem Konsens finden, wie leben?

Als sich die beiden entschließen, ihr Erspartes in den Traum eines gemeinsamen Zuhauses zu stecken, treten auch hier große Differenzen und Herangehensweisen zutage. Während Elizabeth offene Fronten in der Küche und zwei verschiedene Eingänge in die Wohnung präferiert (eine gemeinsames Zuhause hat man ja schließlich für immer, die gemeinsame Beziehung nicht automatisch), ist Jack von einem solchen Ansinnen und solchen Überlegungen vollkommen befremdet. 

Dabei stehen seine beiden Figuren nicht nur qua Herkunft für Antipoden. Während sich Jack in seiner Tätigkeit als wenig erfolgreicher Künstler und Dozent eingerichtet hat, strebt seine Frau nach mehr, nicht nur in der Erziehung des Sohnen, den sie als Psychologin studiengestützt bestmöglich erziehen will. Sie die neugierige und experimentierfreudige Placeboforscherin, er der Stoiker, den nur der Chat mit seinem verschwörungsgläubigen Vater in Rage zu versetzen vermag. Wie können die beiden zu einem Konsens finden – und geht so etwas überhaupt?

Immer tiefer bohrt sich Nathan Hill in die Psyche und die Beziehung seiner beiden Hauptfiguren hinein, lotet ihr Zusammensein aus und legt Schicht um Schicht die beiden gegensätzlichen Charaktere und deren Formungsgeschichte offen. Neben diesen achronologischen Tiefenbohrungen gelingen ihm darüber hinaus auch immer wieder grandiose Pointen und ebenso grandiose Passagen wie die Nacherzählung des Abgleitens des eigenen Vaters in die Verschwörungswelt des Internets, dargeboten in  Form von sieben Algorithmen. Hier blitzt wieder die Aktualität und Passgenauigkeit für unsere Tage auf, die Hill schon in Geister an den Tag legte. 

Fazit

Schrieb ich vor acht Jahren im Rahmen meiner Kritik zu Geister, dass sich hier ein verheißungsvoller junger Literat am Spielfeldrand aufwärme, um den altgedienten Recken des Great American Novel bald den Rang abzulaufen, so ist er mit Wellness für meine Begriffe nun wirklich im Spiel und mischt vollends bei den Großen des Genres mit. 

Seine höchst unterhaltsame Schilderung der Ehe eines gegensätzlichen Paars vermag durch genaue Beobachtungsgabe, literarischen Formenreichtum und eine klug gewählte Montagetechnik zu überzeugen. Das ist Literatur auf der Höhe der Zeit, die Herz und Hirn gleichermaßen anspricht und nur so durch die Seiten fliegen lässt. Eine echte literarische Wellness-Behandlung, und das garantiert Placebo-frei!

Cover des Buches Die Erfindung des Lächelns (ISBN: 9783462003284)

Bewertung zu "Die Erfindung des Lächelns" von Tom Hillenbrand

Die Erfindung des Lächelns
hundertwasservor 5 Monaten
Kurzmeinung: Eine tolle Mischung aus Kunstkrimi, Parisroman und Kulturgeschichte.
Die verschwundene Mona Lisa

Mona Lisa, du musst wandern. Tom Hillenbrand schildert in Die Erfindung des Lächelns den Raub der Mona Lisa als voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich, das für viel Chaos und Verwicklungen sorgt. Polizei, Okkultisten, eine Tänzerin, eine Bande Gesetzloser und sogar Pablo Picasso, sie alle jagen hinter „La Joconde“ her, die erst ihr Diebstahl zum Mythos werden lässt, wie Hillenbrand in seinem zweiten historischen Roman zeigt.

Am späten Abend des 31. Dezember überquerte die Mona Lisa die französische Grenze. Sie hatte den Louvre als Gemälde verlassen, nun kehrte sie als Mysterium zurück.“
Florian Illies – 1913, S. 296

So ist es in Florian Illies‚ 2012 erschienenem Bestseller 1913 zu lesen, in dem der Raub der Mona Lisa fast schon zum Running Gag wird. In seinem erzählenden Sachbuch schaltet er wie der Reporter einer Fußballkonferenz immer wieder nach Paris in den Louvre, wo Monat für Monat das Ausbleiben von Leonardo da Vincis berühmtesten Gemälde zu beklagen ist, ehe es nach seinem Diebstahl 1911 erst über zwei Jahre später nach Hause findet.

Tom Hillenbrand verwandelt nach seinen Ausflügen in die kriminelle Welt der Kulinarik (seine Xavier Kieffer-Krimis), die der Science Fiction (QUBE) und der Kryptowährung (Monte Crypto) nun nach Der Kaffeedieb nun in seinem zweiten historischen Roman die Leerstelle, die durch den Raub der Mona Lisa entstand, in einen turbulenten Reigen, der von Anarchisten, Künstlern und Ermittlern bis hin zu Okkultisten reicht.

Zwischen Anarchisten und Okkultisten

Es ist eine verhängnisvolle Leerstelle, die sich im Salon Carré des Paris Louvre offenbart, als dieser am 22. August des Jahres 1911 seine Pforten öffnet. Inmitten der erschlagenden Fülle von Meisterwerken ist es das kleinformatige, auf Holz gemalte Bild der Mona Lisa alias „La Joconde“, das nicht mehr an der Stelle hängt, an der es sich eigentlich befinden sollte.
Tom Hillenbrand - Die Erfindung des Lächelns (Cover)

Der Aushilfsmaler und Handwerker Vincenzo Peruggia hat das Gemälde Leonardo da Vincis an sich genommen, was eingedenk der laxen Sicherheitsmaßnahmen im Louvre ein Kinderspiel war. Während der Diebstahl zunächst noch unbemerkt bleibt, entspinnt sich bald schon ein Hype um das fehlende Gemälde, der sich in Kinofilmen, wild titelnden Zeitungen und der Entlassung des bisherigen Galeriedirektors äußert. Ganz Paris scheint elektrisiert – und Hauptkommissar Juhel Lenoir von der Sûreté Générale macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Schönheit.

Dies ist allerdings nur einer von zahlreichen anderen Erzählstränge, die Tom Hillenbrand umeinander webt und deren Gemeinsamkeit das Kunstwerk der Mona Lisa ist, der alle Figuren in diesem Roman begegnen werden. Da ist zum Beispiel der Okkultist Aleister Crowley, der in einem heruntergekommenen Paris Hotel die Anrufung dunkler Mächte versucht, die skandalumwitterte Tänzerin Isidora Duncan, die wie einst Anita Berber mit ihrer freizügigen Tanzdarbietungen ganz Paris in Ekstase versetzt. Die Anarchistin Jelena, die unter ihrem Pseudonym Voltairine für einen Umsturz bestehender Verhältnisse eintritt oder eben Vincenzo Peruggia, der irgendwo zwischen Pechvogel, umnachteten Süchtigen und tumben Patrioten changiert.

Pablo Picasso als Retter der Mona Lisa

Sogar Pablo Picasso ist eine der Figuren, die den Plot des Romans erheblich trägt und der einer der Fixpunkte des künstlerischen Lebens ist, der am Montmartre und dem Atelier Picassos seine größte Ausprägung findet. Tom Hillenbrand zeigt ihn in seiner kubistischen Phase im Clinche mit Henri Matisse – und als entscheidender Faktor in Sachen Wiederauftauchen der Joconde (eine teilweise sogar historisch verbürgte Episode, wurde Picasso mitsamt dem Kunstkritiker Guillaume Apollinaire doch tatsächlich des Diebstahls der Mona Lisa verdächtig, da er sich im illegalen Besitz von Kunstschätzen aus dem Louvre befand).

Es ist ein munteres und höchst voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, das sich um die Mona Lisa entfaltet und das Hillenbrand durchaus auch mit Sinn für Komik zu gestalten weiß. So wird das Gemälde immer wieder geklaut und fällt auf teils abstrusen Wegen in die Hände seiner verschiedenen Protagonisten. Daneben zeichnet Hillenbrand auch ein Bild des immensen kulturellen Lebens, welches Paris zu einem wahrhaften Kreativquartier kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte. Braque, Duchamp, Picasso, Matisse, sind nur einige der Figuren, die den Leser*innen hier begegnen. Tanz, Malerei, Kunstkritik – alles strebt nach neuem Ausdruck und künstlerischer Entfaltung.

Mona Lisa – vom Gemälde zum Mythos

Nicht zuletzt blickt Die Erfindung des Lächelns ähnlich wie Florian Illies in 1913 auch hier auf den entscheidenden Wendepunkt, der aus der der Mona Lisa den Mythos machte, der sie heute zu einem der wohl bekanntesten Kunstwerke überhaupt machte.

Ein Ehepaar mittleren Alters nähert sich. Es handelt sich um Briten. Pablo versteht nicht, was sie sagen. Aber er erhascht das Wort „Gioconda“. Vermutlich erklärt der Mann seiner Frau unnötigerweise, was inzwischen jeder auf der Welt weiß: dass hier einst das berühmteste Gemälde der Welt hing.

Wobei das nicht ganz korrekt ist. Solange es hier hing, war das Gemälde bestenfalls mittel berühmt. Einer wie Pablo kannte es, natürlich. Aber der Großteil der Menschheit hatte noch nie von dem Bild gehört. Erst als die Joconde verschwand, wurde sie zu dem, was sie jetzt ist.
Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns, S. 221

War Leonardo da Vincis Porträt zuvor nur eines unter vielen Werken, das in der erschlagenden Fülle der Hängung im Louvre so kaum auffiel und selbst vielen Pariser*innnen unbekannt gewesen sein dürfte, so machte der Diebstahl aus der Joconde ein Gemälde, das die Massen faszinierte und nach seinem kurzzeitigen Ausflug in die florentinischen Uffizien dann in Paris zu einem Phänomen wurde, das sie bis heute darstellt.

Fazit

Diese Verschmelzung von Malereigeschichte, Heist-Coup mit einer Hommage an Arséne Lupine, Fantomas und Co, Parisroman, Kulturgeschichte und Kunstkrimi macht aus Die Erfindung des Lächelns einen historischen Roman, der gut zu unterhalten weiß und der das brodelnde Paris um 1911 hervorragend zum Leben erweckt.

Cover des Buches Zeiten der Langeweile (ISBN: 9783446278042)

Bewertung zu "Zeiten der Langeweile" von Jenifer Becker

Zeiten der Langeweile
hundertwasservor 5 Monaten
Kurzmeinung: Jenifer Becker gelingt in ihrem Debütroman eine interessante und sehr zeitgemäße Kartierung unserer digitalen Gegenwart.
Kartierung unserer digitalen Gegenwart

Wie sieht es aus, wenn man die Forderung der Münchner Kapelle Moop Mama ernst nimmt, die einst forderte: Lösch das Internet? Jenifer Becker exerziert es in ihrem Roman Zeiten der Langeweile durch, in dem sie ihre Protagonisten immer mehr Abschied von der (digitalen) Welt nehmen lässt. Ein Roman, der die Frage nach dem „echten“ Raum stellt und der davon erzählt, was passiert, wenn man nicht passiv sondern ganz bewusst durch die gesellschaftlichen Raster fällt. Und nicht zuletzt gelingt Becker eine präzise Kartierung unserer digitalen Gegenwart.

Fast jeder von uns pflegt ein zweites Ich in Form einer digitalen Repräsentanz im Internet. Das kann man in ausgeprägterer Form auf diversen Plattformen in aktiver Form stattfinden, ebenso kann man sich aber auch dem digitalen Raum kaum entziehen, wenn man passiv bleiben möchte. Wohl jeder von uns hat eine eigene Mailadresse, taucht in Sucheinträgen oder Online-Artikeln auf und ist damit irgendwie auffindbar. Gar nicht vorhanden ist wohl kaum jemand von uns – schon alleine, wer diese Zeilen hier liest, hat irgendwo Spuren im Netz hinterlassen. Und doch versucht Jenifer Beckers Protagonistin Mila Meyring eben das – sich so gut es geht elbst aus dem Internet zu löschen. Sämtliche Spuren im Internet zu beseitigen und so der digitalen Welt abhanden zu kommen, das ist ihr Ziel.

Während ihr Bruder zur Hochphase der Corona-Pandemie, zu der dieser Roman spielt, das Zuhause seiner Großmutter mit Maschendraht gesichert und seine Großmutter und sich so in einer Art Festung eingesperrt hat, lebt Mila zunächst noch das gegensätzliche Leben. Sie trifft sich mit Freunden, lässt sich impfen und bewegt sich in ihrem Neuköllner Kiez. Die Zeit an der Universität geht für sie zu Ende, angesichts des baldigen Ausscheidens aus dem akademischen Betrieb hält sich ihr Engagement in nunmehr digitalen Besprechungen in sehr überschaubarem Rahmen.

Von Digitalverweigerinnen und Querdenkern

Mit ihrem Bruder streitet sie über dessen Impfskepsis und das Querdenkertum, in das sich dieser sukzessive verabschiedet hat. Aber auch Mila wird gleich zu Beginn des Romans einen eigenen Weg in die Isolation und die Verabschiedung aus der Gesellschaft antreten. Zunächst ist es die Computerkamera, die sie bei Meetings deaktiviert, bald folgen Apps und soziale Plattformen. Immer mehr löscht sich Mila aus dem Internet und entwickelt eine an Paranoia grenzende innere Notwendigkeit, nicht mehr auffindbar zu sein. Das geht soweit, dass sie sich sogar aus einem verwaisten Literaturblog löschen lassen will, in dem sie früher einmal Textbeiträge veröffentlicht hatte.

Immer mehr kapselt sie sich von der Welt ab, löscht App um App, schränkt ihre Kontakte mit Freund*innen immer weiter ein, geht vermehrt nurmehr nachts aus dem Haus, sucht die analoge Selbstbestimmung.

War der Zusammenbruch nicht schon gewesen? Ich hatte Instagram, Facebook, TikTok gelöscht. Ich hatte beschlossen, keinen Content mehr zu posten. Meine Vergangenheit aus dem Netz zu löschen. Aus der Wissenschaft auszusteigen. Erst mal keine Dates zu haben oder keine schädlichen Kurzzeitbeziehungen zu priorisieren, die mich immer wieder aus meinem Alltag rauswarfen, weil sie entweder zu euphorisch waren oder ich regelmäßig anfing, needy zu werden, und dann früher oder später abserviert wurde.
Jenifer Becker – Zeiten der Langeweile, S. 70

Verloren im Tunnel

Während sie sich im Tunnel der digitalen und zunehmend auch weltlichen Isolation verliert, sind es andere Aussteiger, Asketen und Ermit*innen, denen sie bei ihrer Beschäftigung begegnet, angefangen bei Emily Dickinson über Hildegard von Bingen bis hin zu Christopher McCandless, dessen Rückzug aus der „Normalität“ auch der Philosoph Jürgen Goldstein in seinem Buch "Die Entdeckung der Natur" beleuchtete.

Jenifer Becker beobachtet ihre Heldin auf ihrer Reise in die Isolation, die sie folgerichtig bis in die Einsamkeit Norwegens führt. Doch ist es wirklich Freiheit, die sie durch ihre Digital-Diät erlangt? Und was macht uns überhaupt aus, wenn wir auf das Internet und die damit verbundenen Darstellungsformen und Möglichkeiten verzichten? Diese Fragen thematisiert Zeiten der Langeweile en passant, während Becker Milas sukzessiven Ausstieg aus der Gesellschaftsordnung beschreibt und ihr bewusstes Schlüpfen durch das gesellschaftliche Raster intensiv verfolgt.

Dabei gelingt der am Literaturinstitut Hildesheim lehrenden Autorin durch die Beschreibung der Wegnahme der digitalen Möglichkeiten eine Art des Negativ-Drucks, der durch die Skizzierung des Wegfalls der Dinge eben auch zeigt, was vorher vorhanden war. Sie entwirft auf diese Art ein Panorama der Vielfalt des Digitalen, das von der Frühform Sozialer Medien wie etwa StudiVZ bis hin zu den neuesten süchtig machenden Entwicklungen wie TikTok oder Beziehungsapps wie Tinder reicht.

Es sind auch die scheinbar unentrinnbaren Verflechtungen von analogem Leben mit digitaler Welt, die Beckers Buch offenlegt, sei es auch nur bei der Buchung eines Coronatest-Termins der ohne eigene Mailadresse so gut wie nicht möglich ist. Immer wieder scheint die Frage auf, was überhaupt noch real ist und was man an Mechanismen und Entwicklungen auch hinterfragen könnte, wenn es etwa auf einer Party realer scheint, mithilfe einer regulatorischen App namens BeReal das Feiern auf der Party im Digitalen zu inszenieren, denn die Party im Realen zu feiern.

Fazit

Das macht aus Zeiten der Langeweile einen sehr zeitgemäßen Roman in dem Sinne, dass er unser digitales Leben in all seiner Fülle und Ausprägungen zeigt, die Welt der Apps und Plattformen in die Literatur holt und darüber hinaus die Frage nach dem Entzug dieser Möglichkeiten aufwirft. Die Lebenswelt der Generation Y zwischen Neukölln und Frankfurt fängt Jenifer Becker ebenso gut ein, wie sie auch den Geist der Corona-Pandemiejahre mit all seinen Ausformungen treffend in Worte gießt. Von daher ein wirklich spannender und sehr heutiger Roman!

Cover des Buches Hinter der Hecke die Welt (ISBN: 9783351041731)

Bewertung zu "Hinter der Hecke die Welt" von Gianna Molinari

Hinter der Hecke die Welt
hundertwasservor 6 Monaten
Kurzmeinung: Ein Buch vom Verschwinden und dem Leben inmitten der Klimakatastrophe.
Wie wir verschwinden

Eine allesüberragende Hecke, dahinter ein Dorf, das zu verschwinden droht und Menschen, die immer mehr schrumpfen. Kinder, auf denen die Hoffnung des Dorfs ruht. Und dazu eine Forscherin in der Einsamkeit des ewigen Eises. Klingt nach einer wilden Mischung? Ist aber im Falle von Gianna Molinaris Roman Hinter der Hecke die Welt ein spannender Erzählansatz, um vom möglichen Leben inmitten der Klimakatastrophe zu erzählen.

Wie wir verschwinden

Auf den ersten Blick wählt Gianna Molinari für ihren Roman einen Erzählansatz, der auf dem deutschen Büchermarkt eigentlich schon für eine völlige Übersättigung gesorgt hat: die Rede ist vom Dorfroman. Auch in Molinaris Fall ist es schon wieder ein Dorf, vor dessen Hintergrund Molinaris Geschichte hauptsächlich verhandelt wird und in dem die beiden Kinder Lobo und Pina leben.

Auf den zweiten Blick aber wird dieses auserzählte Setting interessant – denn das Dorf steht kurz vor dem Verschwinden. Hinter einer Hecke in Übergröße gelegen schrumpft das Dorf – und mit ihm seine Bewohner. Jeder, der da über 1,50 Meter groß ist, zählt schon zu den Hoffnungsträgern. Neben dem Dorfhund Pilaster sind das eben Pina und Lobo, auf denen die Hoffnung der Dorfgemeinschaft ruht. Sie sollen das Dorf dem Vergessen entreißen und für eine Zukunft sorgen, die aktuell recht düster aussieht.

Ab und an finden noch Touristenbusse in das Dörfchen, um die Hecke zu bewundern und das Dorfmuseum zu besuchen, ansonsten ist das Dorf aber keineswegs ein Aspirant für den Wettbewerb Unser Dorf hat Zukunft.

Eine Welt in Auflösung

Die Welt des Dorfs, sie befindet sich in Auflösung. Und mit ihr auch die Welt da draußen, die hinter der Hecke in einem diffusen Prozess des Verschwindens inbegriffen ist.

Es gibt Stellen, sagte Pinars Vater, die von der Landkarte verschwinden. Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.

Pinas Vater war der Meinung, dass hinter der Hecke das Dorf liege und dieses darum besser geschützt sei als andere Orte.

Pina war der Meinung, das hinter der Hecke die Welt liege. Die Welt und irgendwo auch die Arktis.
Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt, S. 27 f.

Die Arktis ist der zweite Handlungsstrang, den Gianna Molinari in ihrem Roman einführt. In diesem Strang steht die Arktisforscherin Dora im Mittelpunkt, die zugleich auch im ewigen Eis ebenjene Untergangsstimmung spürt, die auch das Dorf und seine Welt ergriffen hat. Dora, die auch die Mutter von Pina ist, schickt ihrer Tochter Sprachnachrichten, die von der schwindenden Schönheit des Eises erzählen.

Wuchernde Hecken, schmelzende Gletscher

Sie berichtet über Gletscher und Eisberge, die zerfallen, denkt über die Einsamkeit von Grönlandhaien nach und beschreibt durch kleine Momentaufnahmen die zerstörerische Kraft des Anthropozäns. Immer ist es der Mensch als Erdbewohner, der alles zerstören muss, was diese Erde eigentlich ausmacht. Ergänzt werden diese Impressionen durch kleine Skizzen, die das Erzählte in Shilouetten noch einmal nachzeichnen.

Es sind Szenen, die von ebenso still wie eindrücklich vom allmählichen Ende dessen künden, was Dora aktuell noch dort hoch oben im Eis beobachten kann.

Damit ist Hinter der Hecke die Welt eine kraftvolle Meditation über die Vergänglichkeit und den Klimawandel, in den wir sehenden Auges reichlich fatalistisch steuern. Ähnlich wie zuletzt bei T. C. Boyle fällt auch bei Gianna Molinari die menschliche Antwort auf die Klimakatastrophe reichlich fatalistisch aus.

Irgendwie arrangiert man sich mit den schmelzenden Gletschern und dem Schrumpfen der Menschen – es geht ja doch irgendwie weiter – und Aufgeben wäre eh keine Option, und so lebt man einfach weiter, von Tag zu Tag. Dieses Gefühl trifft Hinter der Hecke die Welt sehr genau.

Fazit

Gianna Molinari gelingt mit ihrem Roman Hinter der Hecke die Welt ein ungewöhnlicher Dorfroman mit Parabelcharakter, eine Erzählung übers Verschwinden und Artensterben – und den Fatalismus der Menschen, die sich auch von Schrumpfen, übergroßen Hecken und dem Schmelzen der Gletscher und Eisberge nicht aus dem Konzept bringen lassen. Obwohl das Buch nur aus kurzen Szenen und Momentaufnahmen montiert ist, gelingt der Schweizer Autorin ein tiefgreifender Eindruck dieser Prozesse, den sie in ihrer schwebenden und wie hingetupft wirkenden Prosa präsentiert.

Cover des Buches Die Akte Madrid (ISBN: 9783462003895)

Bewertung zu "Die Akte Madrid" von Andreas Storm

Die Akte Madrid
hundertwasservor 7 Monaten
Kurzmeinung: Ein toller Kunstkrimi, der ein unbekanntes Kapitel spanischer Kunstgeschichte beleuchtet.
Niveauvoll und kenntnisreich

"Die Akte Madrid" ist bereits der zweite Fall für den Kunstsachverständigen Lennard Lomberg, der hier durch die Bitte des deutschen Verteidigungsminister in ein dunkles Stück Kunstgeschichte und deutsch-spanischer Vergangenheit hineingezogen wird.

"Tormentas en cierne" ist ein verschollenes Kunstwerk der spanischen Surrealistin Alma Arras, das lange als verschwunden galt. Nun taucht es wieder auf - und ist sogleich verschwunden. In einem sogenannten Deposito - einer Art Ferienwohnung - in der Alhambra in Granada wurde das Bild von der Wand entfernt und befindet sich nun in den Händen eines Erpressers, der den Eigentümer, in dessen Besitz sich das Bild unwissentlich befand, nun in die Mangel nimmt. Jener Besitzer ist der deutsche Verteidigungsminister, dessen Vater einst in Spanien umtriebig aktiv war. Da der Verteidigungsminister für höhere Weihen im Gespräch ist, kann er folglich einen Skandal um Beutekunst und einen Erpresser nicht brauchen - und aktiviert Lennard Lomberg, der sich in Spanien nun umtut.
Dabei stößt er in diesem toll montierten und erzählten Roman auf ein dunkles Kapitel Kunstgeschichte zur Zeit Francos - und lehrt damit den Leserinnen und Lesern viel Wissenswerte über eine Zeit, die hierzulande noch reichlich unbekannt ist.

In diesem Sinne unterhält "Die Akte Madrid" niveauvoll und kenntnisreich - was für einen Krimi beileibe keine schlechte Kombination ist. Exzellent!

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