idxx03
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Bewertung zu "The Picture of Dorian Gray" von Oscar Wilde
Joseph Roth hielt sich zu Anfang seines schriftstellerischen Daseins in linksliberalen bis sozialistischen Kreisen auf. Er schrieb sogar für das sozialdemokratische Parteiblatt „Vorwärts!“ und war als „Der rote Joseph“ bekannt. Während er sich früher linientreu gern monarchiekritisch geäußert hatte, idealisierte er später die k. u. k.-Monarchie und galt daraufhin als romantischer Verklärer eines Österreichs, das in Augen der Kritiker nie existiert habe. „Hiob – Roman eines einfachen Mannes“ ist die konservative Kehrtwende im Schrifttum Joseph Roths und erlangte schon früh nach dem Erscheinen 1930 große Bekanntheit. Es verkauften sich bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten 30.000 Exemplare.
Er ist also auch als explizit jüdischer Roman geradezu prädestiniert für den Schuldkult-Lektürekanon der gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen. Was die grüne „Ministerin für Schule und Weiterbildung“ Sylvia Löhrmann wohl übersehen hat, ist die identitäre Botschaft, die sich in diesem Roman verbirgt (und das ist nicht die Anlehnung an den biblischen Hiob):
Mendel Singer, „ein ganz alltäglicher Jude“, lebt mit seiner Frau Deborah und seinen Kindern Schemarjah, Jonas und Mirjam im Judenviertel des kleinen, fiktiven galizischen Schtetls1 Zuchnow. Im ersten Teil des Romans (Kapitel 1-9) porträtiert Joseph Roth, der ebenfalls einem solchen Schtetl entstammt, anschaulich das Leben der osteuropäischen Juden mit all seinen Vorzügen und Nachteilen und spart dabei nicht mit Verweisen auf das orthodoxe Judentum. Die Andeutungen sind zwar durchaus interessant, sollen uns an dieser Stelle allerdings weniger beschäftigen. Denn von viel größerem Belang ist für uns der zweite Teil des Romans, insbesondere der Übergang zu diesem (Kapitel 10-16).
Mendel entschließt sich – nicht nur wegen des kirchlich propagierten Antisemitismus und der wachsenden Armut – dazu, ins amerikanische Exil bei einem Geschäftspartner seines zuvor von der Musterung geflüchteten Sohnes Schemarjah zu gehen. Seine Tochter Mirjam führte sexuelle Beziehungen mit schnell wechselnden Partnern unter den Kosaken. Anders als Mendel weiß sie jedoch von den amerikanischen Verhältnissen und hofft auf noch mehr Freizügigkeit. Schemarjah, der sich nun Sam nennt, ist vollkommen amerikanisiert und hat seine ethnokulturelle Identität bereits aufgegeben. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst:
„Sie sahen Schemarjah und Sam zugleich, als wenn ein Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre“ (S.99).
Die moderne Welt Amerikas widert Mendel, der zuvor das traditionelle Leben eines Melámed² geführt hatte, an.
„Der Wind war kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, es war ein wehender Lärm. Er setzte sich zusammen aus einem schrillen Klingeln von hundert unsichtbaren Glocken, aus dem gefährlichen metallenen Dröhnen der Bahnen, aus dem tutenden Rufen unzähliger Trompeten, aus dem flehentlichen Kreischen der Schienen an den Kurven der „Streets“ […] Er hätte lieber geweint, wie ein kleines Kind. Er roch den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen und spröden Staub in der Luft, den ranzigen und fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizenden Geruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus Fischhallen, […] Alle Gerüche vermengten sich im heißen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. […] Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn.“ (S102-103)
Schon bald beginnt auch Mendel an seiner Identität zu zweifeln:
„ ‘Was gehen mich diese Leute an?’ – dachte Mendel. ‘Was geht mich ganz Amerika an? […] Bin ich noch Mendel Singer? Ist das noch meine Familie? Bin ich noch Mendel Singer?’ “ (S. 103-104)
Und auch der Individualismus schlägt mit all seiner Härte zu:
„Schon war er einsam, Mendel Singer: schon war er in Amerika.“ (S. 104)
Mendel packt kurz darauf die Sehnsucht nach der galizischen Heimat. Joseph Roth schneidet hier, indem er das Heimweh Mendel Singers ausführlich und mehrfach darstellt, bereits ein Thema an, das für ihn bereits Realität geworden ist. Mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie verlor auch er seine Heimat. Roth, der sich nun bald zum Katholizismus bekennen sollte, versucht selbst noch auf die katholische Kirche und monarchistische Kreise Einfluss zu nehmen, was in einer Forderung an Bundeskanzler Schuschnigg gipfelt: Er solle zugunsten des Thronprätendenten Otto von Habsburg abdanken.
Nachdem Mendel sich nun vorerst mit seiner derzeitigen Situation abgefunden hatte, bricht der Erste Weltkrieg aus und Sam fällt als Kriegsfreiwilliger. Sohn Jonas, der in der russischen Armee dient, ist verschollen. Seine Frau Deborah bricht nach diesen „Hiobsbotschaften“ tot zusammen. Die Tochter Mirjam wird daraufhin wahnsinnig und muss in eine Anstalt gebracht werden. Der Glaube des vormals gottesfürchtigen Mendel wird erschüttert und er steht kurz davor, seine Gebetsutensilien ins Feuer zu verwerfen. Sein Glaubensverlust hängt aber offenkundig nicht nur mit diesen Schicksalsschlägen zusammen, denn auch der Glaube seiner Nachbarn im jüdischen Viertel ist vom Liberalismus Amerikas stark gezeichnet.
Amerika symbolisiert hier den Lebensstil, der alles als möglich ansieht und keine technischen oder moralischen Grenzen kennt; bekannt geworden als der „American way of life“. Die westliche Zivilisation, die Moderne schlechthin. Amerika ist „God’s own country“, das einst gottesfürchtige Personen wie Mendel Singer in die Gottlosigkeit treibt. Joseph Roth greift diese Daseinsweise rücksichtslos an, auch wenn er sie selbst nur aus Erzählungen kennt. Aber dass mündliche Überlieferung hin und wieder überraschend korrekt sein können, wissen wir seit Karl May.
Der Ausgang soll an dieser Stelle (der dafür wichtigste Handlungsstrang wurde bislang auch gar nicht erwähnt) noch nicht verraten werden. Nur so viel: Mendel wird als einziges Mitglied der Familie durch die Erfahrung einer metaphysischen Begebenheit vom Materialismus geheilt. „Hiob“ stellt also am Beispiel der Familie Singer exzellent dar, wie liberale, moderne Gesellschaften traditionelles Leben Schritt für Schritt, aber dennoch nachhaltig, vernichten. „Hiob“ ist weit mehr als nur ein Unterhaltungsroman (was er zweifelsohne auch ist), wie es selbst schon Marcel Reich-Ranicki feststellte.
[1] Jiddische Bezeichnung für eine kleine Ansiedlung mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil[2] Einfacher Laien-Lehrer, der den Kindern der jüdischen Gemeinde Thora und Talmud nahebringen soll
http://www.identitaere-generation.info/hiob-buch/