Der Albtraum einer jeden Frau: Gegen 4 Uhr morgens verlässt Katrina Marino, von allen nur Kat genannt, die Sportbar, in der sie arbeitet, und schließt ab. Dass ihr Wagen einen Platten hat, bemerkt sie erst auf dem Weg dorthin. Es ist stockdunkel. Kat ist sauer. Den Leser beschleicht ein eisiges Gefühl... Aber - noch nicht. Kat, jung, selbstbewusst, wechselt den Reifen. Hinter ihr ein Geräusch. Es sind nur Zeitungsseiten, die der Wind über den Asphalt treibt. Spätestens ab dieser Szene fiebert man gebannt mit, was nun alles noch passieren könnte, oder, besser: wie es passiert, denn der Klappentext verrät ja, dass die junge Frau überfallen wird, dass etwas Schreckliches passiert.
Und der Klappentexter hält, was er "verspricht". Ich will nicht zuviele Details verraten, denn genau diese machen diesen Roman zu etwas, das man so nicht allzuoft zu lesen bekommt. Nur soviel: Kat gelangt bis an ihre Wohnungstür. Erst dort, in der letzten Sekunde, bevor sie in Sicherheit wäre, stürzt sich der Angreifer auf sie und sticht sofort zu. Das Furchtbare: Es gibt Zeugen. Mehrere Nachbarn, die, jeder aus einem ganz persönlichen Grund, um diese Zeit noch wach sind und aus dem Fenster sehen, bekommen mit, dass etwas geschieht dort draußen, dort drüben, nebenan, im Dunkeln. Sie hören Kats Schreie. Und unternehmen, wiederum aus den unterschiedlichsten Gründen nichts. Oder zögern ...
Faszinierend, wie der Autor aus dieser Menge an Einzelschicksalen einen gewaltigen, albtraumhaften Roman komponiert. Begeisternd seine Sprache, sein lakonischer Stil: "Wenn du dreißig Dollar in der Tasche hast und die Miete achtzig Dollar beträgt, ist alle Sparsamkeit sinnlos. Trink, bis du betrunken bist, und zahl für die Taxifahrt nach Hause. Warum den Abstieg nicht auf die bequeme Tour genießen?"
Die Geschichte hört sich mächtig einfach an, aber sie ist es nicht. Es gibt Wendungen, die einen erwischen wie ein Fausthieb. Zum Beispiel, wenn der Mörder zuhause bei seiner Frau eintrifft, und es sich dann noch einmal anders überlegt, und erneut zum Tatort zurückkehrt ... Während Kat, mehr tot als lebendig, erneut versucht, in ihre Wohnung zu kommen. - Oder dieser Cop, der locker psychopathischer daherkommt, als sämtliche Psychopathen, die Richard Laymon je geschildert hat. Und einem wirklich Angst einjagt.
Ja, dieser Roman - das Debüt von Ryan David Jahn -, 2011 in Deutschland als Hardcover veröffentlicht, Ende 2012 als Taschenbuch, ist düster und fesselnd und überwältigend. Er hat Substanz. Genau wie R.J. Ellory lobte. Und er ist ein Schocker, von der ersten Seite an.
Das Allerschlimmste aber war für mich, zu lesen, dass diese Geschichte auf der wahren Geschichte der Kitty Genovese basiert, die 1964 ermordet wurde. Ein Mord, der auch aufgrund der besonderen Begleitumstände damals weltweit für Schlagzeilen sorgte und später unter dem Begrifff "Bystander-Effekt" in die Kriminalgeschichte einging.
Das hat mich - neben all der Spannung und präzise gesetzten Schockeffekte - noch lange nachgrübeln lassen: War das jetzt okay, dass ich den Roman mit diesem morbiden Schauder, dieser Faszination genossen habe? Oder war das nun eine besondere Art von Gaffen? War ich - als Leserin - nicht genau wie jene Menschen, die in dieser unheimlichen, scheinbar endlosen Nacht an irgend einem Fenster standen und hinaussahen, auf das, was dort mit mit der schreienden, kreischenden, verzweifelt davonkriechenden und bis zuletzt hoffenden Kat angestellt wurde?
Ein echter Pageturner. Böse und faszinierend und absolut fesselnd.