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katkaesk

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches Kaltes Herz fast Eis (ISBN: 9783740812423)

Bewertung zu "Kaltes Herz fast Eis" von Michaela Kastel

Kaltes Herz fast Eis
katkaeskvor 2 Jahren
Kaltes Herz, fast Eis - schnelle, krasse Geschichte!


„Ich bleibe stehen und verschnaufe. Ich habe die Teufelsmauer erreicht. Zwei Stunden bin ich bereits unterwegs, zwei Stunden nichts als Frischluft, Kälte und das Ausschöpfen dieser Kraft, die sich in den quälenden Tagen des Nichtstuns wie etwas Fauliges in meinem Körper aufgestaut hat und dringend ausgeschieden werden muss. Manchmal komme ich mir vor wie ein weit geöffnetes, tiefes Gefäß vor, das jeden Sonnenstrahl, jedes Molekül in sich auffängt und in pure elektrifizierende Energie verwandelt.“


Caro versteht nicht, was ihren Verlobten Alex immer wieder in die Berge gezogen hat. Selbst nach seinem baldigen Tod in den Bergen versteht sie es nicht. Mit ihrem Bruder Ben begibt sie sich in seinen Ferien nach Schirau, der Ort, an dem ihr Verlobter gestorben ist. Alte Wunden klafften hier erneut auf, genauso wie die schroffe und kantige Oberfläche der Berge rund um sie: Das Sterben ihrer Eltern hat sie und ihren Bruder in ein tiefes Loch gezogen, genauso wie der unerklärliche Tod von Alex, der als versierter Kletterer nie hätte umkommen dürfen. Mit dem Profikletterer Samuel Winterscheidt kommen endlich Antworten in ihr Leben, war er es doch, der bei der Rettungsaktion für ihren Verlobten beteiligt war. Samuel zeigt sich dabei zunächst alles andere als zugänglich. Abweisend und herrisch weist er jede:n in seine Bahnen, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Caro schafft es dennoch und bekommt Sami dazu, ihr das Klettern beizubringen. Was Caro nicht weiß, ist, welche Geheimnisse der Kletterer vor ihr verbirgt.




Es ist furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt, die dich genauso schnell begeistert, wie sie dich umbringt.


Kastels Roman ist ebenso furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt tut sich da auf: Sie blickt in menschliche Abgründe und stellt die Lesenden vor Dilemmata: Darf man sich zugunsten von anderen retten? Geht Eigenschutz tatsächlich immer vor Fremdschutz? Welche Zugeständnisse muss man machen, wenn man in der Schuld von jemand anderen steht?


So muss es sich anfühlen, wenn man auf dem Weg ins Paradies ist. Oder in die Hölle. Ich schon immer, dass eines wie das andere ist. Nur durchs Klettern erreicht man den wahren Himmel. Und genau das werde ich jetzt tun.


„Kaltes Herz fast Eis“ liest sich wie eine Hymne an das Klettern, ist jedoch mehr als nur ein Bergsteigerroman, sind die Berge als rahmengebende Handlung zu verstehen und die Beziehungen der Figuren untereinander viel wesentlicher für das Fortkommen der Geschichte. Neben Caro und Samuel sind vor allem die Oliver, Samuels Bruder und Jana, Freundin und Angestellte von Samuel und Oliver wesentlich für den Roman. Manfred, als jüngste und manipulativste Figur, sowie der Wolf entpuppen sich als netter, wenn auch nicht nötiger Sidekick für die Geschichte.


Es war dumm zu glauben, meine Welt gegen seine eintauschen zu können, bloß weil meine in Trümmern liegt. Die Teile passen nicht zueinander, und versucht man sie gewaltsam zusammenzustecken, wird nur alles zerbröckeln.



Dieser Roman entscheidet sich nicht gewaltsam, was er sein möchte: Zwischen Thriller, Liebesgeschichte und Krimi eingebettet wird hier eine Geschichte erzählt, die trotz all der Kälte und dem Eis, es zumindest ein bisschen schafft, das Herz warm werden zu lassen für die gute Ausgestaltung der Charaktere. Liebhaber:innen von schnell erzählten Romanen und dem unbändigen Bedürfnis, von Literatur unterhalten und zeitgleich informiert zu werden, finden mit Kastels „Kaltes Herz fast Eis“ eine Erzählung, die dies mit Sicherheit abdeckt. Wer handlungsgetriebene, perspektivreiche Romane mag und gern einmal in die Thematik des Kletterns einsteigen möchte, erklimmt dieses Buch so einfach wie die im Roman beschriebene, fiktive Teufelsmauer.

Cover des Buches Erbgut (ISBN: 9783218013291)

Bewertung zu "Erbgut" von Bettina Scheiflinger

Erbgut
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Vielschichtige und meisterhafte Erzählung über familiäre Traumata in drei Generationen!
Erbgut, oder die Suche nach dem Ich



Diese Sprache lässt die Hände ihrer Mutter und der Nachbarinnen tanzen. Es ist die Sprache der Mutter, die Rosa nicht versteht.




Multiperspektivisch konzipiert, erzählt dieses Buch die Geschichte von vier Frauen und einem Mann, der das Bindeglied für die unterschiedlichen Biografien dieser Frauen darstellt. Rosa ist dabei eine von fünf Stimmen, die sich in Bettina Scheiflingers Debütroman „Erbgut“ erhebt. Sophia und Johanna bilden dabei die älteste Erzählriege, bei der auf drei Generationen angelegte Geschichte. Trotzdem gleicht ihr Leben der jeweils anderen nicht:


Sophia kämpft mit Rassismus aufgrund ihrer Ehe mit einem Schweizer namens Emil. Mehr als nur einmal hören Sophia, Emil und ihre Töchter Maria und Rosa, dass sie eine Tschinggenfamilie sind – im Dialekt eine abwertende Bezeichnung für Familien, in denen ein Teil davon ItalienerInnen sind. Das Suchen nach Identität und Ruhe führt die Familie an verschiedene Orte, genauso wie die Verweigerung seitens Sophia ihren Töchtern Italienisch beizubringen.


Johanna lebt auf einem Hof, der gleichsam ein Gasthaus ist. Sie führt allein gemeinsam mit ihren Kindern Frieda, Ilse und Arno den Betrieb, da sich ihr Ehemann Franz aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit in einem Gefangenenlager befindet. Mit Johanna erlebt man das Schicksal einer tapferen, unabhängigen, alleinstehenden Frau, die trotz der Rückkehr ihres Ehemannes separat und isoliert bleibt.


Arno entkommt im Laufe des Romans dem Vater-Sohn-Konflikt nicht. Häufig physisch schwer vom Vater misshandelt, kämpft er Zeit seines Lebens mit seinen Rollen als Sohn von Franz und Sophia, Ehemann von Rosa, als auch Vater von der Anna und der Ich-Erzählerin. Arno und Rosa erzählen jeweils als zweite Generation im Buch über die eigene Biografie, die zweifelsohne um die Suche nach Zusammenhalt, Krankheit, familiäre Beziehungen und Selbstverwirklichung dreht.


Frieda, als Schwester von Arno, Schwägerin von Rosa und Tochter von Sophia, zeigt sich dabei wesentlich für die Erzählung. Sie stellt in diesem Roman mit ihrer Lebensgeschichte einen weiteren Erzählstrang dar, an dem das Thema Abtreibung, Unabhängigkeit und Verlust von Lebensentscheidungen abgearbeitet wird.


Das Ich, das als Tochter von Arno und Rosa Platz in der Erzählung findet, durchwandert im Laufe der Erzählung die Phasen der Abnabelung ihres Elternhauses, des eigenständigen Wohnens in Wien und der Suche nach einer Liebe, die sich gut anfühlt. Als jüngste Erzählstimme in den Roman eingeflochten, erfährt man über die Suche einer jungen Frau nach dem Verständnis für ihren Körper, der häufig von einer Hassliebe begleitet wird, auch in Zeiten einer unerwarteten Schwangerschaft:




Ich stehe nackt vor dem Spiegel im Bad. Ich frage mich, ob dieser Körper, mein Körper, gut genug ist. Ich suche Stellen, die es mir beweisen. Ob es möglich sein wird, ihn zu akzeptieren, irgendwann, frage ich mich. Er verändert sich dauernd, innen und außen.





Scheiflingers Roman „Erbgut“ benötigt Durchhaltevermögen, Anstrengung und Konzentration beim Lesen, aber: Es lohnt sich. Wenn man davor nicht zurückscheut und sich auf die vielen Perspektivenwechseln einlassen kann, wird man mit einer Geschichte belohnt, die facettenreicher nicht sein könnte.


Wenngleich der Konflikt zwischen Arno und Franz sich wiederholt auflädt und nie zu einer Entladung kommt und dieser bedauerlicherweise keine Entwicklung widerfährt, wird diese den Frauenfiguren immerhin auf sehr vielen Ebenen zugestanden.


Sehr beeindruckend ist der Umgang mit dem Thema Körper und Schwangerschaft, die nicht nur als etwas Positives beschrieben wird. Alle Körper, ob alt, jung, dick, dünn, gesund, krank, schwanger oder nicht, werden thematisiert und jede Erzählfigur bekommt Raum und Zeit, diesen auszuverhandeln:




Meine Haut kräuselt sich wohlig unter meiner Berührung und es rieselt in meiner Brust.




Bettina Scheiflinger verwebt in die Geschichte dreier Generationen, die unterschiedlicher nicht sein können, krass schöne Sätze, die hängen bleiben und für sich alleinstehen können:




Dabei berühre ich mich und ihn mit meinen Händen, an den Schülern, am Hals, bis zu den Beinen. Wir sind ein Knäuel aus Haut und Gliedern und Atemstößen.




Die Hürde, personale und auktoriale Perspektive zu vermischen und dabei noch Sinn zu ergeben, wurde meisterhaft genommen. Die Dynamiken im konzipierten Figurenensemble sind spannend, vielschichtig und gut erzählt. „Erbgut“ von Bettina Scheiflinger, im Verlag Kremayr & Scheriau kürzlich erschienen, gliedert sich damit mehr als verdient in die Reihe gelungener Debütromane ein.

Cover des Buches heute graben (ISBN: 9783218012959)

Bewertung zu "heute graben" von Mario Schlembach

heute graben
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Der dritte Roman nach Nebel und Dichtersgattin erweist sich als weiterer Beweis dafür, wie eng Schlembach mit dem Tod ist.
Heute Graben, übermorgen ausgraben

Alles beginnt und endet bei A. Jeder Gedanke, jede kleine Erzählung, jede Aufzeichnung im Notizbuch. Nur lässt sich Liebeskummer von der Seele schreiben? Mario Schlembach lässt sich in Form eines Tagesbuch auf diesen Versuch ein. Wer A. ist, erfährt man am Anfang nicht. Man ahnt: es muss die große Liebe sein. Man vermutet: Sie könnte auch gestorben sein. Es würde zum Beruf passen, den das literarische Ich ausübt: Totengräber. Er schaufelt Gräber für Hoffnungen genauso wie für Romanzen und wenn jemand im Dorf stirbt, dann natürlich auch. Ein bisschen wird am eigenen Grab geschaufelt: Das Ich trinkt viel, ernährt sich ungesund und bekommt zu allem Überdruss auch noch dieselbe Lungenkrankheit diagnostiziert wie Thomas Bernhard, natürlich nicht, ohne ironischerweise darauf hinzuweisen. Zwischen fünf Heften entwickelt sich die Tragik des Ichs: Mehrere Frauen, die getroffen und nie wieder gesehen werden, während Bild und Gedanke stets um A. kreisen. Das Ich sucht nach Sprache, dem Schreiben und der Leere in sich, die Selbstvergewisserung im Blick:


Schreiben? Ich spreche nicht darüber und wenn, dann nenne ich es Kritzeln oder Herumbasteln. Es fällt mir immer noch schwer, alles, was nicht mit körperlicher Verausgabung zu tun hat, als Arbeit zu sehen.







Während sich der Wunsch nach einem Schriftstellerdasein herauskristallisiert, sind es die Orte, die wesentlich sind, in denen sich das Ich bewegt: Friedhof, Behandlungsraum und Bett. Es ist eine Erzählung, ähnlich einer Männergrippe, die sich wehleidig und larmoyant zwischen gestorbenen Lieben und verstorbenen Hoffnungen dahin liest. Die akribische Darstellung des Krankheitsverlaufs komplementiert diesen Roman, ohne auf Poesie zu vergessen:


Es geht mir gar nicht anders – dich zu träumen ist mein Atmen.


Der dritte Roman nach Nebel und Dichtersgattin erweist sich als weiterer Beweis dafür, wie eng Schlembach mit dem Tod ist und sich damit tröstet, ihn als Freund zu haben. Auch wenn die Baggerschaufel mit mehr Selbstmitleid als Ironie gefüllt ist, so ertappt man sich dabei gelernt zu haben: Man kann mehrere Tode sterben und trotzdem ganz lebendig sein.

Cover des Buches Atemhaut (ISBN: 9783218013192)

Bewertung zu "Atemhaut" von Iris Blauensteiner

Atemhaut
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Ein feinsinniges, sprachliches Buch, das den Kapitalismus der 90iger gut einfängt!
Das Atmen nicht vergessen!

Tagschicht, Nachtschicht, die Maschinen rattern und greifen, dazwischen Menschen, die zig Pakete verpacken, im Lärm der Lagerhalle des Logistikunternehmens. Die Füße tun weh, Schnittwunden und Schwielen an den Händen sind nichts Unbekanntes; der Rücken schmerzt, er wird sich nicht mehr erholen. Es ist die Erzählung von vielen Menschen in der Logistik, hier ist es jene Edin, ein Twentysomething, der den Großteil seiner Lohnarbeitszeit noch vor sich hat.  Er arbeitet in einer Lagerhalle, sein besorgniserregender Gesundheitszustand lassen ihn immer langsamer arbeiten, obwohl er früher der Schnellste und Effizienteste gewesen ist. Edin ist eingepfercht in der Presse des kapitalistischen Maximums und wird ausgequetscht, bis eine Maschine ihn anhand ihrer Berechnungen aussortiert und er die Firma verlassen muss.


Was bist du ohne Arbeit wert?


fragt sich Edin, der von sich immer nur in „Du“-Form erzählt. Als seine Freundin Vanessa eine Beförderung zur Abteilungsleiterin erhält, stehen nicht nur die altgeglaubten Machtverhältnisse kopfüber, sondern auch das Beziehungsverhältnis. Edin fühlt sich nutzlos, und schämt sich. Er stellt fest:


Grenzen sind ein Ort der bewohnbar ist.


Jene Grenzen verschieben sich, Edin nimmt die Welt anders wahr, Vanessas Klang hallt in der Wohnung, es ist der fehlende Klang der Arbeitswelt, wie respektable Zukunftsaussichten, der fehlende Klang in Edins Inneres und der ein Blick auf die kleinen Dinge, in seinem Leben, der diesen Roman erzählfein ausgestaltet:


Der Obstkorb vor dir ist mit Kirschen gefüllt, die Stängel stehen wie Insektenbeine ab.


Besonders liebevoll ist die Beziehung zwischen Edin und Vanessa ausgestaltet, die mensch gern liest, und es Blauensteiner gelingt, Lesende durch angenehme, als auch weniger genehme Momente zu begleiten:


In Umarmungen bewahrst du sie vorm Fallen, und sie gibt dir ein Zuhause.




Es knattert, donnert, rauscht und hüpft, wenn Vanessa und Edin sich ihrer Vorliebe für Egoshooter hingeben und Zombies abknallen, auf die Beine und beide selbst im Spiel eins werden. Geprägt vom familiären Leistungsgedanken, spiegelt sich in Edin all die Ansprüche, die längst nicht unbekannt sind: Den Stolz, sich nicht erneut in Fittiche der Familie zu begeben, den Stolz, um Arbeit zu betteln, weil im Laufe der Erzählung Edin feststellt, dass Vieles verhandelbar ist, aber nicht die Würde:


Es hilft beim Überleben, aber die Würde gibt es nicht zurück.


Dazwischen ist immer das Atmen. Das Atmen trägt Edin. Nichts wird wichtiger für ihn: das Rattern, Knarren, die fehlenden Geräusche der Prozessabläufe und Arbeitshandlungen. Es stellt sich ein Overload der Stille ein, den er zu beheben weiß: Die Atemhaut wird sein bester Freund.


Du legst deine Hände auf den Bauch, bist ein Ballon, der sich aufbläst, bist eine Qualle, die sich zusammenzieht, und du weitest dich vorsichtig.


Zum Buch liefert Rojin Shafari, eine in Wien lebende iranische Komponistin, Klangkünstlerin und Tonmeisterin einen tobenden Soundtrack zum Buch, in QR-Code zwischen den Seiten enthalten. Mit Metallplatten und Feedbacksound getränkt, lässt die Künstlerin eine Klangwolke entstehen, der man nicht entkommen kann. Iris Blauensteiner und Rojin Shafari fungieren dabei zu Noise Poets, die den Klang zwischen Wort und Geräusch, einer urbanen Arbeiter:innenschicht der Neunziger, erneut hörbar machen.

Cover des Buches Aibohphobia (ISBN: 9783218013109)

Bewertung zu "Aibohphobia" von Kurt Fleisch

Aibohphobia
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Ein fantastisch gewitztes Buch, das intellektuell herausfordernd ist und zum Recherechieren einlädt.
Gewitztes Buch rund um eine kreativ angelegte Psychose

                                               

Mit Aibohphobia legt Kurt Fleisch, so das Pseudonym des Autors, einen Roman im Briefstreitgespräch vor, der sich mit der Frage nach der Wirklichkeit beschäftigt. Dr. H., anerkannter Psychiater hat einen äußerst interessanten Patienten namens S., der trotz mehrmaliger Einweisung und starker Medikation an Wahnvorstellungen leidet. S. entpuppt sich als ideales Forschungsobjekt für Dr. H., der den Ursprung aller Geisteskrankheiten (sic!) entdeckt haben will.

                   

Gekonnt gewitzt bewegt sich Fleisch zwischen Teilchenbeschleuniger und Zwangsmaschinen umher, baut Smart Bunker Automation, in der Alexa auf den Namen Trotzki hört, lässt Flucht ermöglichen und lässt dabei nie das Ziel aus den Augen, was denn nun Realität sei:

                   

Aber es ist eine andere Realität, die wirklich ist.

                   

Zwischen abgedruckten Rezepten für verschreibungspflichtige Medikation, wunderschönen, schwarz gestalteten Seiten mit Gehirnhälften zu je vier Kapiteln stößt man sich vielleicht an den veralteten Begrifflichkeiten wie geistige Störung, aber nie an der gelungenen Positionierung einer Metaebene im Text, der sich auch immer buchstäblich zeigt:

                   

Etwas verbringe ich meine Zeit seit dem gestrigen Tage durchgehend bis jetzt, sogar während des Schreibens dieses Briefes, vor meinem Schlafzimmerspiegel, in dem ich mich zu meinem Überraschen nicht mehr sehen kann. Ich bin einfach verschwunden.

                   

Die IT-Affinität des Autors zeigt sich am begeisterten Einfall sich selbst auflösender Programme, die in KERNEL PANIC: FATAL EXCEPTION enden und den Leser:innen unweigerlich ein memento mori der besonderen Art beschert: Was ist bleibt, wenn nichts mehr ist und wo befindet sich die Shell? Was ist nun mit der Hardware oder wie es Fleisch sagen würde:

                   

Maschinen und Gehirne, was naturgemäß ein- und dasselbe ist.

                                                                         

Poetisch und dem Roman mehr Tempo verliehen, zwischen Diener, Reisen, Medikamentenbesorgungen rettet sich Fleisch aus der Misere mit einem Blick ins Universum:

                   

Ich sehe tausend Sterne, die nicht mehr existieren, die längst verglüht und vernichtet sind.

                   

Verschwinden und auftauchen, entfliehen und erscheinen lässt sich das Krankheitsbild einer kreativ angelegten Psychose erraten, die sich selbst in kräftige Bilder ein- und untermauert. Die intellektuell anspruchsvolle, zuweilen antiquierte Sprache macht nicht immer, aber meistens Spaß.

                   

Aibohphobia ist übrigens die Angst vor Palindromen, also Wörter, die von vorne oder von hinten gelesen dasselbe ergeben. Eine gedankliche Zwangszuordnung lässt dieser Roman allerdings nicht zu. Kreative Geister werden nicht davor zurückscheuen, den Versuch zu starten, das Buch auch auf der letzten Seite zu beginnen: zu groß war die Freude, diese kreative Prosa nur einmal zu lesen.

                                   

Cover des Buches Langeweile (ISBN: 9783218013178)

Bewertung zu "Langeweile" von Isabella Feimer

Langeweile
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Eine lyrische, poetische Auseinandersetzung mit dem Thema, das mit Zitaten nicht geizt!
Langeweile entsteht, aber nicht beim Lesen!

Poetisch und überlegt, begibt sich Isabella Feimer auf die Suche nach der Langeweile. Ein gefürchtetes Unding, häufig gepaart mit Warten und Stille, passt es so gar nicht in eine Welt, die sich an Produktivität und Optimierung misst. Langeweile sucht sich im Dunkeln, wenn sie mit Wehmut und Isolation ein Gespann bildet und entdeckt sich im flirrenden Hell, wenn Mensch sich wonnig einer vorbeiziehenden Landschaft ergötzt.

Zwischen Buchdeckeln in taubengraulila (fast schon „käferkörpergrau“) erliest Mensch sich eine Recherche, dass das Gute und Schlechte im „acedia“ sucht (= Nichtstunwollen), ebenso wie sehnsüchtige Langeweile, die darin gipfelt, dass Frauen klischeehaft schwermütig aus dem Fenster sehen.

Die Autorin scheut die Auseinandersetzung mit der Langeweile nicht, sie setzt sich einem Selbstversuch nach einer Idee der Performancekünstlerin Marina Abramović aus. In Achtsamkeit übend, trennt sie zählend Reis von Linsen. Ein Versuch, zu erahnen, was das sein könnte, diese Langeweile, die wir zu wenig verspüren. Gelungen, wenn ein geschärfter Blick und eine komplette Koppelung zur Gegenwärtigkeit einzig übrigbleiben.

Langeweile erweist sich als komplexes, schwieriges Thema, das die Autorin ebenso literarisch verarbeitet:

BEFANGENHEIT UND EIN VERKÜMMERN NACH BEDEUTUNG UND NACH SINN, DAS SAGE ICH, EIN KÖRPER, DER SEINE MÄNGEL IST, FEDERLEICHT UND BLEISCHWER ZUGLEICH, UND EINE LANDSCHAFT, UNSICHER, OB SIE AUCH TATSÄCHLICH EINE LANDSCHAFT IST,

WEIL
EINSAM
SCHATTENLOS KONTURENFERN
WEIL
„SICK WITH LONELINESS“ WEIL ALLES NICHTS IST UND ALL SEEMS LOST.


Auch die Pandemie wird zum Thema gemacht, in der sich viele in das Selbst zurückgeworfen sahen und ein von Lockdown-bestimmtes Leben führen mussten. Gehäuft zitatgeladen und auffällig der Poesie verschrieben, nimmt das Buch lyrikbegeistertes Lesepublikum auf eine anregend philosophische Reise mit. Der Weg schlängelt sich unbeirrt zwischen Boreout Syndrom, in dem sich Langeweile gern mit Aggression paart, der Frage, ob Tiere der Langeweile mächtig seien und dem lustvollen, schmerzlichen Gefühl der Leere.

Eine Frage wirft dieser Band unweigerlich auf:

Kann man ein Buch über Langeweile schreiben, ohne dass es langweilig zu lesen wird?

Die Antwort: Feimer kann. Songtexte von Iggy Pop und Lionel Richie fügen sich nahtlos an Zitate von Walter Benjamin, Martin Heidegger, Virginia Woolf oder Hannah Arendt und philosophisches Grundlagenwerk zum Thema. Langweilig wird die Lektüre jedenfalls nicht.

Cover des Buches Versuch, dich abzuschreiben (ISBN: 9783948631123)

Bewertung zu "Versuch, dich abzuschreiben" von Laura Holder

Versuch, dich abzuschreiben
katkaeskvor 2 Jahren
Kurzmeinung: Gelungener Versuch, Liebe aufzuschreiben.
Gelungener Versuch, Liebe aufzuschreiben.

Wer hat Angst vor der Liebe? Wer hat Angst vorm Vergessen?
Die junge Wiener Autorin Laura Holder widmet ihrem Gedichtband dem Versuch, sich Liebe aufzuschreiben, um sie schlussendlich abschreiben zu können.
Drei Versuche braucht sie, um sich den Themen Kontaktaufnahme, Körperkontakt, Abstand und Unerreichbarkeit lyrisch zu nähern. Da ist nichts Schwieriges an den Wörtern und eine Alltäglichkeit im Sprachgebrauch. Gerade deshalb schmerzt es Gedichte zu lesen wie:

"Halsweh von all dem Ungesagten: Niederschreiben."

In feiner Manier komponierte Holder hier einen Gedichtband, der an die Töne von Rupi Kaur erinnert, genauso wie an Pillow Thoughts von Peppernell Courtney, das nicht zuletzt auch den sehr sanften Grafiken von Veronika Kabas geschuldet ist. Eine Stille kehrt ein, wenn man sich auf die Suche einer Liebe eines Midtwentys begibt und ins Träumen gerät: "Unterschied / Du sollst deinen Mund halten/ und meinen dann auch." oder "Dreh dich im Kreis / aber nicht um / wenn du gehst. "

Auf knapp 90 Seiten wird hier eine Liebe geschildert, die es wohl wert war, gel(i)ebt zu werden.

Cover des Buches All that's left (ISBN: 9783492706070)

Bewertung zu "All that's left" von Sarah Raich

All that's left
katkaeskvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Eine Dystopie, die keine mehr sein wird, wenn der Klimawandel nicht aufgehalten wird
Hervorragendes Jugendbuch mit starken Mädchencharakteren

Die Ozonhülle ist verloren, Stürme und Unwetter toben auf der Erde und mittendrin sitzt das junge Mädchen Mariana und wartet auf ihre Eltern, nachdem ihre Mutter abgehauen ist und der Vater versucht, die Mutter zu retten. Ihr Vater hat das Haus energieautark gebaut und so gehört sie zu einen der wenigen Menschen, die frisches Wasser und Essen in Hülle und Fülle haben. Erst als der Junge Ali in das Haus einbricht und Mariana klar macht, dass sie es hier zwar gut hat, aber es auch ein goldener Käfig ist und er nach Triest abhaut, verlässt sie das sichere Heim und versucht Ali an die nördliche Adria zu Fuß über die Alpen zu folgen.

Sarah Raich hat hier eine erschreckende Dystopie geschaffen, die wohl keine bleiben wird, wenn der Klimawandel nicht aufgehalten wird. In lockerer Erzählsprache und vielen Monologen erzählt sie von einer Welt, in der man eigentlich nicht leben möchte. Besonders beeindruckend ist die vielschichtige Figurenausgestaltung dieses Buches, sowie die mehr oder minder offen dargelegte religiöse Symbolik, die an Schiffen, die an die Arche Noah erinnert oder Ketten, die gesprengt werden wie dies in Psalmen 2:3 oder Pslamen 149:8 der Fall ist. Der Haptik des Buches sei ein besonderes Augenmerk geschuldet, ebenso der Tatsache, dass das Buch CO2 neutral produziert wurde. Freund*innen von Dystopien werden das Buch alleine deswegen mögen, weil es mit Deutschland/Österreich/Italien ungewöhnliche Orte gewählt hat, genauso ein Hund als bester Freund des Menschen an zahlreiche Abenteuer erinnert, die man im Kindesalter gerne gelesen hat. Ich freue mich bereits auf den nächsten Roman der Autorin.


Cover des Buches Gespenster zählen (ISBN: 9783218012829)

Bewertung zu "Gespenster zählen" von Martin Peichl

Gespenster zählen
katkaeskvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Gespenster, das sind: gesammelte Fragmente verlorener Menschen, Glaubenssätze, Songtexte, Gedichtzeilen, Erinnerungen, entledigte Hoffnungen
Eine Erinnerung, ein Schmerz, viele Lieben

Geist heißt hier eine präsente Anwesenheit der Abwesenheit, eine Fülle an Erinnerungen, an gedachte Zweisamkeiten in einer allgegenwärtigen Einsamkeit. Die Fotos sind stiller Begleiter dieser Alleinsamkeit: In blassen Farben gehalten stechen die grellen Thematiken dieses Buches hervor: ein Kennenlernen menschenloser, verlassener Orte. Überall sind leere Fahrzeuge, Geschäfte, Häuser, Züge, Straßen, Seen. Kurzum eine Sammlung von lost places, die ihre Trennung von Menschen und ihre Isolation stolz vor sich hertragen, genauso um ihre Vergessenheit und ihr Verschwinden zu dokumentieren; eine persönliche Ausstellung für zu Hause.

Es zollt selbstverständlich Tribut an die unlängst verstorbene Schriftstellerin Elfriede Mayröcker, die mit ihrem Buch “brütt oder die seufzenden Gärten” oder mit “Paloma” Eingang findet – eine literarische Ausnahmekünstlerin, der im ungleichen Ausmaß mehr Anklang bei deutschsprachigen, männlichen Schriftstellern findet als sonst eine Schriftstellerin. Umso erfreulicher, dass nun auch Spuren von Ingeborg Bachmann, Elfriede Gerstl oder Marlen Haushofer zu finden sind.

Während das ungewöhnliche Format auffallend und eindrucksvoll adrett und geordnet daherkommt, wird eine innere Ordnung nicht manifest, einige Bilder aus dem zweiten Buch “In einer komplizierten Beziehung mit Österreich”, finden hier erneut Eingang, und lesen sich wie eine Vorahnung auf “Gespenster zählen“:

Wir bleiben zurück als Gespenster als Scherenschnitt
In einer komplizierten Beziehung mit Österreich

Wenn man Peichls Namen im Katalog der Wiener Büchereien sucht, findet man zwangsläufig auf der ersten Seite das Handbuch der Psychotraumatologie; “Gespenster zählen” ist zwingend traumatisch poetisch: es geht ums Anschauungen abfragen in künstlerisch literarischer Pose, es wird mehr gezeigt als gewollt als im Debütroman “Wie man Dinge repariert”. Es ist zeitgleich ein Stück Dorfliteratur genauso wie Erinnerungen an eine Stadt, die es in dieser Form nicht mehr gibt.

Das Buch, das diesmal auf Seitenzahlen verzichtet und Ordnung mit einer Bild und nummerierten Textabfolge herstellt, gestaltet sich mit weniger Leserausch als die letzten beiden Bücher, mehr als dokumentarisches Bereuen: Seelen bröckeln und vergeistern, auch eigenen Gedanken sind Gespenster und spuken im Kopf herum. Spürbar wird eine radikale Wehmut, die Liebe häufig mit Schmerz verbindet, und ein melancholischer Unterton, der die Roadtrips durch die Vergangenheit begleitet.         

      

                

        

        


Cover des Buches Mama (ISBN: 9783218012805)

Bewertung zu "Mama" von Jessica Lind

Mama
katkaeskvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Ein großartiges Buch, ein geschriebener Horrorfilm, ein Familiendrama, ein Thriller zwischen Frau und Hund, contemporary art
Großartiger Debütroman!

Jessica Lind hat mit Mama ein Buch in österreichischer Tradition geschrieben: Idylle gepaart mit dunklen Wäldern, die Idee einer traditionellen Kleinfamilie mit einem gewaltigen Riss versehen. Es ist eine österreichische Geschichte, die beginnt, wie alle guten Geschichten beginnen: Amira und Josef wollen ein Kind, genauer gesagt, Amira will ein Baby, Josef verneint nicht. Seine Angst, dass er wie sein Vater wird, lähmt ihn. Sie beschließen, einmal noch ohne Kind dort hinzufahren, wo Josef seinen Vater das letzte Mal gesehen hat: Ein Haus mitten im Wald, ohne Handyempfang, ein natürlicher Irrgarten zwischen hohen Bäumen. Amira hasst diese Umgebung, begegnet sie doch immer wieder einem Wanderer, der ihr nicht geheuer ist und eine gewaltbereite, rachsüchtige Hündin.

Als Amira endlich schwanger ist und schließlich auch ein Mädchen namens Luise bekommt, nähern sie sich erneut dem gruseligen Zuhause, das eigentlich keines ist. Die Angst der Familie um das Mädchen frisst sie innerlich auf, und Amira verliert sich in Traum und Wahn. Man weiß nicht, ob das, was Amira erlebt, noch passieren wird, in der Vergangenheit liegt oder ein Hirngespinst ist.

Die Protagonist*innen im Buch erscheinen zunächst klischeehaft, erweisen sich aber im Laufe des Buches alles andere das: Amira wird zur Kämpferin, Josef wird weich und nahbar. Zunächst als undurchdringliche Wand der Konvention zeigt das Buch schnell seine dunkle, bedrohliche Seite. Lind bestimmt die Nähe und Distanz zu den Dingen und Pflanzen, einen vermeintlichen Neuanfang, Todesangst genauso wie Verzweiflung. Der Wald und der Hund als Begleitthema erinnert an Marlen Haushofers “Wand”. Ein Blick genügt, man erkennt die starke namenlose Frauenfigur unter der Glasglocke, die von Luise verlassen wird. Die Zusammenarbeit mit Jessica Hausner lässt sich nicht leugnen, man erkennt in dem Buch Hausners Film “Hotel” und kann auch diesbezüglich Parallelen erkennen.

Optisch und haptisch präsentieren sich die Bücher in bester kremayrscher Manier, Ekke Wolf hat ein großartiges Design vorgelegt, das einen immer gerne zu Büchern von Kremayr & Scheriau greifen lässt.

Sprachlich überzeugt das Buch auf allen Ebenen. Gelungene Dialoge, die den Text als Grundlage für ein Drehbuch erkennen lassen und bedrohliche Bilder entstehen lässt. Es ist definitiv ein Buch, das als Film funktionieren würde. Das Buch lässt böse Vorahnungen zu, kippt zwischen den Szenen so schnell, dass man sich als Leser*in verfolgt und verängstigt fühlt. Schnell lesende Personen werden in Versuchung geführt, ebenjene Szenen nochmals aufgrund der fehlenden optischen Begrenzung zu lesen. Es wäre auch als optisches Stilmittel zur Verdichtung des Romanes zu verstehen. Jessica Lind legt jedenfalls mit ihrem Debüt ein Buch vor, dass als mit Horror und Panik nicht geizt. 

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