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Cover des Buches Aufzeichnungen eines Serienmörders (ISBN: 9783944751221)

Bewertung zu "Aufzeichnungen eines Serienmörders" von Young-ha Kim

Aufzeichnungen eines Serienmörders
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Hypnotisch, absurd und mit genialen Twists - ein kleines Krimi-Juwel!
Young-ha Kims erste deutsche Übersetzung macht eine Mords-Lust auf mehr!

Meine letzte Lebensaufgabe steht fest. Ich muss Jutae Park umbringen. Bevor ich vergesse, wer er ist.

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt – und pensionierter Serienmörder. Seit über 20 Jahren hat er niemanden mehr umgebracht und lebt nun ein ruhiges Leben gemeinsam mit seiner Adoptivtochter Unhi. Doch drei Dinge bereiten Byongsu Unruhe: seine schleichende Alzheimer-Demenz, die ihm den Alltag immer mehr erschwert, die Frauenmorde in seiner Umgebung, sowie der mysteriöse Mann mit dem Geländewagen, der ihm neuerdings ständig begegnet. Ist das etwa Jutae Park, ein Serienmörder-Kollege? Und was hat er im Revier des alten Mannes verloren?

Der temporeiche Roman, den man vermutlich auch als Krimi bzw. Thriller bezeichnen könnte, kommt in einer äußerst nüchternen Sprache daher, die dennoch extrem hypnotisch ist. Das ist vermutlich auch der sehr gelungenen Übersetzung von Inwon Park zu verdanken. Der alternde Byongsu sieht sich durch seine Demenz gezwungen, über das Leben und den Tod nachzudenken, ja geradezu zu philosophieren, während er versucht, seinen Gegenspieler auszumerzen und seine Tochter zu beschützen. Er versucht so gut es geht, alles Erlebte festzuhalten, sowohl in seinem Notizbuch, das wir als Leser*innen lesen, als auch mit seinem Diktiergerät. Nur deshalb gelingt es ihm, dass Jutae Park nicht ständig wieder seinem Gedächtnis entschwindet.

In meinem Kopf herrscht Durcheinander. Mit dem Schwinden des Gedächtnisses weiß auch das Herz nicht mehr, wohin.

Unzuverlässiger als Byongsu Kim kann ein Erzähler eigentlich nicht sein. Das liegt einerseits daran, dass er kriminell ist und deutlich psychopathische Züge offenbart, und andererseits an seiner Alzheimer-Demenz, die ihn immer mehr vergessen lässt. Als Leser*in muss man sich die ganze Zeit fragen: Sind die Dinge wirklich so, wie Byongsu sie wahrnimmt? Ist es die Demenz, die ihn verwirrt, oder ist sein Verdacht begründet? Verrennt er sich in etwas? Haben wir es mit der Realität oder mit alzheimerbedingten Wahnvorstellungen zu tun? Die absolut geniale Prämisse des Buchs ist bitterböse und herrlich absurd – trotzdem schafft Young-ha Kim es, uns auch Mitleid und Verständnis für den Gedichte schreibenden Protagonisten empfinden zu lassen.

Abgesehen vom Inhalt ist auch die Aufmachung des Buches ein wahres Fest. Die Seitenzahlen verblassen mit fortschreitender Demenz des Protagonisten immer mehr. Das ist nur ein kleines, aber sehr feines Detail, das mich persönlich wahnsinnig glücklich macht. Es zeigt, genauso wie der wunderschön gestaltete Umschlag, der an die Bücher der Büchergilde erinnert, dass der Cass Verlag bei seinen Büchern mit viel Liebe ans Werk geht.

Ich finde es enorm schwierig, etwas mehr zu diesem Roman zu sagen, ohne zu viel vorweg zu nehmen. Das liegt daran, dass er nur knappe 150 Seiten kurz und zudem großzügig gedruckt ist, aber auch daran, dass die verschiedenen Geheimnisse in Byongsus Leben ob der Kürze und des Tempos relativ schnell entwirrt werden. Deshalb versuche ich es einmal so:

Wer Spannung liebt, sollte dieses Buch lesen.

Wer ungewöhnliche Szenarien und Protagonisten mag, sollte dieses Buch lesen.

Wer sich gerne ein paar Stunden lang von einem Roman absolut mitreißen lässt, sollte dieses Buch lesen.

Wer überraschende Enden mit einem klugen Twist mag, sollte dieses Buch lesen.

Wer auf schwarzen Humor und Skurrilität steht, sollte dieses Buch lesen.

Fans von Fuminori Nakamuras sowie Kanae Minatos Romanen sollten dieses Buch lesen.

Der Mann brachte mich ein paar Mal zum Lachen, zweimal lobte er sogar meine Gedichte. Deshalb ließ ich ihn am Leben. Wahrscheinlich weiß er bis heute nicht, dass er auf geborgte Zeit lebt. Neulich las ich seinen neuesten Gedichtband, eine einzige Enttäuschung. Vielleicht hätte ich den Mann damals doch gleich um die Ecke bringen sollen.

Young-ha Kim hat mit seinem genreübergreifenden Roman Aufzeichnungen eines Serienmörders ein extrem temporeiches, kluges und kurzweiliges Lesevergnügen geschaffen. Mit hypnotischer Sprache, viel Absurditäten und genialen Twists schafft der es koreanische Autor, dass man nur so durch die Seiten hindurch rast. Ein kleines Krimi-Juwel, das definitiv mehr Lust auf die Bücher Kims macht.

Cover des Buches Queenie (ISBN: 9783351050863)

Bewertung zu "Queenie" von Candice Carty-Williams

Queenie
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Ein beeindruckend aktuelles Buch darüber, was es bedeutet, jung zu sein, Frau zu sein, Person of Color zu sein.
Moderner, hochaktueller Roman

Candice Carty-Williams gewann mit ihrem Roman Queenie den British Book Award 2020 für das beste Buch des Jahres.

„Trust me, your daughter is all right. She’s a brave one.“
„Being brave isn’t the same as being okay.“

Queenie ist laut, Queenie ist launisch, Queenie ist einsam und fühlt sich oft missverstanden. Mit ihrem Freund Tom ist Schluss, weil seine Familie mehrfach rassistische Sprüche abließ und er nicht hinter ihr stand – trotzdem hätte sie ihn gerne zurück und schafft es nicht, ihre Beziehung hinter sich zu lassen.

Auch ihre eigen familiäre Situation ist schwierig: ihren Vater kennt sie nicht, und mit ihrer Mutter hat sie keinen Kontakt mehr. Nach und nach offenbaren sich traumatische Ereignisse aus Queenies Vergangenheit, während die verletzliche junge Frau versucht zu verhindern, dass ihr Leben völlig auseinanderbricht. Immer verlassen kann sie sich dabei auf ihre Freundinnen, ihre Großeltern, Tante und Cousine.

Fand ich Queenie anfangs noch bedingt sympathisch, da sie schon eine ziemliche Diva und Drama Queen sein kann, ist sie mir dennoch immer mehr ans Herz gewachsen. Queenie wurde gut die Hälfte ihres jungen Lebens lang von anderen (hauptsächlich Männern) schlecht behandelt und weiß deshalb nicht um ihren eigenen Wert. Immer wieder gerät sie an die falschen Menschen, versucht augenscheinlich, ihren Schmerz mit noch mehr Schmerz zu betäuben. Es tut weh, ihr hilflos dabei zusehen zu müssen, wie sie immer und immer wieder in ihr Unglück rennt.

Trotz all der Krassheit, all des brutalen Sex und der Misogynie und des Rassismus, ist das Buch unterhaltsam und humorvoll geschrieben. Queenie ist eine tolle Persönlichkeit, die sich nur erst einmal selbst finden und lieben lernen muss.

Oft fällt bei Candice Carty-Williams Debütroman Queenie der Vergleich mit Bridget Jones – für mich hatte es vielmehr einen ähnlichen Vibe wie Dolly Aldertons Buch Alles, was ich weiß über die Liebe. Es geht um Selbstakzeptanz und Nicht-Zugehörigkeit, ums Verzeihen und Loslassen, um seelische Gesundheit und um Freundschaft. Queenie ist ein beeindruckend aktuelles Buch darüber, was es bedeutet, jung zu sein, Frau zu sein, Person of Color zu sein.

Cover des Buches Willkommen in Night Vale (ISBN: 9783608961379)

Bewertung zu "Willkommen in Night Vale" von Joseph Fink

Willkommen in Night Vale
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: DAS, Freunde der Fantasy und Sciencefiction, ist skurriles, herrliches und originelles Storytelling!
Wunder-volles Buch zum gleichnamigen Podcast

Night Vale ist eine Kleinstadt wie jede andere…oder etwa doch nicht? Irgendwo mitten in der amerikanischen Wüste liegt das kleine Städtchen, in dem sich Zeit und Raum nicht so verhalten wie sie sollten, Menschen ihre Gestalt wandeln können und ein fünfköpfiger Drachen für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Über alle lokalen Ereignisse berichtet Moderator Cecil Palmer vom Radiosender Night Vale Community Radio. Er sah schon viele Praktikanten kommen und gehen, denn merkwürdigerweise verschwinden oder sterben die meisten von ihnen nach kurzer Zeit.

In dem zum Podcast passenden Roman Welcome to Night Vale begleiten wir zwei Frauen. Jackie führt ein Pfandleihgeschäft und ist schon seit Jahrzehnten neunzehn Jahre alt. In letzter Zeit kann sie sich an vieles nicht mehr erinnern. Noch seltsamer als sonst wird es allerdings, als ihr ein Mann in einer braunen Jacke einen Zettel gibt, auf dem „King City“ steht. Was sie auch tut, sie kann den Zettel nicht loslassen – er kehrt immer wieder in ihre Hand zurück. Vielleicht sollte sie herausfinden, was es mit dem Zettel und dem Mann in der braunen Jacke auf sich hat.

Die zweite Protagonistin, Diane, arbeitet in einem Büro, aus dem plötzlich Leute verschwinden. Oder haben sie überhaupt jemals dort gearbeitet? Bis auf Diane scheint sich niemand an ihren Kollegen erinnern zu können. Wie hieß er noch gleich? Evan? Als auch noch ihr Sohn Josh, ein pubertärer und dementsprechend launischer Gestaltwandler, darauf drängt, seinen Vater endlich kennenzulernen, treffen Diane und Jackie aufeinander. Die beiden scheinen mehr gemeinsam zu haben, als sie anfänglich glauben.

In Zwischensequenzen, die immer wieder eingestreut werden, lauschen wir Cecils Sendung und verfolgen die örtlichen Nachrichten, die, so abstrus sie auf den ersten Blick scheinen, Hintergrundinformationen zur Geschichte liefern.

Wer sich nach Night Vale begibt, muss sich vollkommen darauf einlassen. Der Schreibstil ist genau wie die Erzählsprache des Podcasts. Das ist wunderbar, denn so kann man den Roman komplett mit Cecils Stimme im Kopf lesen. Wer den Podcast nicht kennt, wird keine großen Schwierigkeiten haben, den Inhalt zu verstehen. Fans hingegen haben den Vorteil, viele Figuren und Schauplätze wiederzuerkennen und sich über kleine Details freuen zu können.

Um sich mit dem Stil und dem Grad an Seltsamkeit vertraut zu machen und einzuschätzen, ob es euch gefallen könnte, empfehle ich, mal in den Podcast hereinzuhören. Alle Folgen findet ihr auch bei Youtube.

In Night Vale klingeln Papphandys (und sind telefoniertüchtig), Vogelspinnen besuchen die High School (und machen dort ihren Abschluss) und jedes Mal, wenn Jackie und Diane versuchen, nach King City zu fahren, landen sie wieder in Night Vale. Anfangs wundert man sich vielleicht noch, gerade, wenn man nicht mit dem Podcast vertraut ist. Doch irgendwann nimmt man es einfach hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Flamingos haben sechs Beine? Die Bücherei ist ein gefährlicher, tödlicher Ort? Völlig normal, so ist das nun mal in Night Vale.

Was das Buch – und auch den Podcast – so besonders macht, ist neben seinem herrlich merkwürdigen Grundcharakter der Humor. Welcome to Night Vale ist nicht Lachtränen-lustig, auch nicht einfältig-lustig. Joseph Fink und Jeffrey Cranor erzählen ihre Geschichten mit intelligentem Humor, der sich durch den kompletten Roman zieht, ohne, dass es jemals zu viel wird. Einige Rezensenten haben das Buch in dieser Hinsicht mit Douglas Adams‘ Werken, insbesondere Per Anhalter durch die Galaxis, verglichen.

Die Handlung ist spannend, die Twists und am Ende zusammengeführten Fäden machen richtig Freude zu lesen, doch worin sowohl der Roman Welcome to Night Vale (Willkommen in Night Vale) als auch der gleichnamige Podcast brillieren, ist die mysteriöse, völlig bizarre und wundervoll unterhaltsame Atmosphäre. Joseph Fink und Jeffrey Cranor haben sie auch schriftlich fantastisch festgehalten. Night Vale ist ein spezieller Ort, und auch ein spezielles Buch, das es so nicht noch einmal gibt. Das, Freunde der Fantasy und Sciencefiction, ist skurriles, herrliches und originelles Storytelling!

Cover des Buches Normale Menschen (ISBN: 9783630875422)

Bewertung zu "Normale Menschen" von Sally Rooney

Normale Menschen
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Dieser Roman geht unter die Haut, indem er die zutiefst verletzlichen und zerbrochenen Seelen seiner Protagonisten seziert.
Liest sich wie eine optimierte Version ihres Erstlings – und überzeugt auf ganzer Länge.

Marianne und Connell leben in einer Kleinstadt in der Nähe von Sligo an der irischen Westküste. Sie gehen in eine Klasse, doch haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Mariannes Eltern sind wohlhabend und sie ist eine völlige Außenseiterin, Connell ist beliebt und sportlich – und seine Mutter putzt für Mariannes Familie. Obwohl sie sich in der Schule meiden, nähern sich die beiden in Mariannes Haus an, bis es zu einer geheimen Affäre kommt. Über mehrere Jahre hinweg sind Marianne und Connell zusammen, wieder getrennt, schlafen miteinander und versuchen, ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten. Während sie langsam erwachsen werden und versuchen, sich selbst zu finden, umkreisen sie sich ständig und verletzen sich gegenseitig, obwohl sie die ganze Welt des jeweils anderen sind.

So unterschiedlich die Lebensumstände der beiden Protagonisten sind, so ähnlich sind sie sich eigentlich. Auch wenn Connell von jedem gemocht wird – er selbst fühlt sich von niemandem richtig verstanden, fühlt sich fremd inmitten seiner sogenannten Freunde. Er und Marianne erkennen schnell, dass die beiden mehr verbindet, als nur der Job seiner Mutter. Auch, als sie sich am Trinity College in Dublin wieder begegnen und Marianne nun unter Leuten ihresgleichen verweilt, während Connell in die Außenseiterrolle schlüpft, können sie nicht ohne den anderen. Zwischen Freundschaft, Sex und Liebe erforschen die jungen Erwachsenen über die Jahre ihre Beziehung zueinander. Sie finden zusammen, sie treffen sich mit anderen, sie versuchen trotz unterdrückter Gefühle füreinander da zu sein. Ihre Beziehung ist voller Missverständnisse und Misskommunikation.

Normale Menschen ist, ähnlich wie Rooneys Erstling Gespräche mit Freunden, ein Roman über Verletzlichkeit und Stolz, über Macht und Dominanz, sowie über die Angst vor Bekenntnissen und Zurückweisungen. Im Gegensatz zum Vorgänger schafft es die irische Autorin allerdings, ihren Figuren in diesem Roman mehr Tiefe zu verleihen. Sie sind viel greifbarer und ihre Probleme und Kämpfe wesentlich relevanter. Mir scheint, als hätte Rooney die Grundformel ihres ersten Buchs beibehalten, aber die Exekution deutlich verbessert. Ein enorm großer Sprung für eine junge Autorin innerhalb einer so kurzen Zeit.

Marianne und Connell werden als jung und in Beziehungen unerfahren porträtiert, und so machen sie es sich selbst unnötig schwer. In gewisser Weise haben sie mich an Rachel und Ross aus Friends erinnert, nur mit weniger Leichtigkeit und stattdessen düsteren Untertönen. Denn beide Protagonisten haben mit ihrer mentalen Gesundheit zu kämpfen. Marianne ist in einem Familienumfeld voller Gewalt aufgewachsen und hat dementsprechend ungesunde Denkmuster verinnerlicht. Connell hingegen hat Probleme damit, seine Identität zu festigen und zerbricht langsam aber sicher an den Erwartungen anderer.

Extrem nüchtern und reduziert erzählt Rooney die Geschichte des jungen Paares. (Übrigens hervorragend ins Deutsche übersetzt von Zoe Beck.) Zunächst mag der Stil, auch mit seiner fehlenden wörtlichen Rede, noch etwas ungewohnt sein, doch nach einiger Zeit legt sich das. Ich habe das Buch innerhalb von drei Tagen inhaliert – es ist so intensiv, trotz seiner modernen Kühle, und es hat so verdammt wehgetan, Connell und Marianne dabei zu beobachten, wie sie versuchen, das Leben und ihre Beziehung zueinander zu meistern.

Sally Rooney hat mit ihrem neuen Roman Normale Menschen ein wirklich großartiges Werk geschaffen. Nachdem ich von Gespräche mit Freunden wenig begeistert war, muss ich nun meine Meinung über die irische Autorin revidieren: ja, sie hat Talent, und was für eines! Trotz kühler und distanzierter Schreibweise schafft sie es, ihre Figuren lebendig werden zu lassen. Ich hätte nie gedacht, dass mich die On/Off-Beziehung und Freundschaft zweier fiktiver junger Menschen so sehr mitreißen würde. Dieser Roman geht unter die Haut, indem er die zutiefst verletzlichen und zerbrochenen Seelen seiner Protagonisten seziert. Normale Menschen ist bisher eines meiner Jahreshighlights und ein unglaublich repräsentatives Werk zeitgenössischer Literatur.

Cover des Buches Zehnter Dezember (ISBN: 9783442718450)

Bewertung zu "Zehnter Dezember" von George Saunders

Zehnter Dezember
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Zehn meist abstruse Szenarien, zehn mal genial erzählt: George Saunders Erzählband schockiert aufs Herrlichste.
Ein brillantes Buch über Verluste und Niederlagen in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Ob White Trash, eine Mittelschicht-Familie mit Aufstiegswünschen, die Kapitalisierung von Gefühlen oder der einsame, verquere Außenseiter, der aus der Kontrolle seiner Eltern ausbricht: George Saunders in Zehnter Dezember versammelte Kurzgeschichten erzählen aus der Mitte der modernen amerikanischen Gesellschaft heraus.

"Dad hatte mal gesagt, Verlass dich auf deinen Kopf, Rob. Wenn es wie Scheiße riecht, aber quer drübergeschrieben steht Happy Birthday und ne Kerze steckt drin, was ist es dann?

Ist da auch Zuckerguss drauf?, hatte er gefragt."

Saunders entwirft die verschiedensten Szenarien. So begleiten wir beispielsweise einen extrem streng erzogenen, geradezu gedrillten Jungen, der ein verhätscheltes Nachbarsmädchen beschützt, als dieses angegriffen wird. Ebenso werden wir Zeugen einer schrecklichen White Trash-Mutter, die ihren Sohn wie ein Tier verwahrlosen lässt und vollkommen überfordert mit dem Leben ist. In einer anderen Story werden gruselige, dystopische Experimente an Gefangenen durchgeführt, die die Kontrolle von Emotionen möglich machen sollen, eine weitere Erzählung zeigt eine moderne Form der Sklaverei inmitten einer Mittelschichts-Vorstadt-Idylle.

So unterschiedlich die Geschichten inhaltlich sind, so divers sind auch die Arten des Erzählens. Saunders schreibt oft sprachlich experimentell, mit fehlenden Worten stark an der gesprochenen, Umgangssprache orientiert oder – wie im Falle der Story eines Schaustellers des Mittelalter-Freizeitparks, der mit Hilfe einer Pille namens „Ryttersporn“ in ritterliches Denken und Sprechen verfällt – einen wundervollen Wechsel zwischen moderner und altertümlicher Sprache. Viele der Kurzgeschichten sind sprachlich wie stilistisch zunächst gewöhnungsbedürftig, doch es ist eine große Freude, zu sehen, wie kreativ und außergewöhnlich der amerikanische Autor seine Inhalte umsetzen kann.

Das, was alle Kurzgeschichten gemeinsam haben, ist eine düstere Grundstimmung, ähnlich wie Nana Kwame Adjei-Brenyahs großartiges Werk Friday Black. Die Szenarien sind makaber, teils brutal und zeigen die Abgründe ihrer Figuren, repräsentativ für die Abgründe der modernen Gesellschaft – insbesondere der der USA: Kapitalismus, Neid, Prahlerei, Selbstüberschätzung, Vernachlässigung. Weltfremdheit, Missachtung der Menschenrechte und Missbrauch. Saunders schreibt erschreckend und fesselnd zugleich, seine Storys sind abstoßend und faszinierend, und keine einzige der zehn ist nur als mittelmäßig zu bezeichnen.

George Saunders, der 2018 mit seinem Roman Lincoln im Bardo seinen großen Durchbruch in Deutschland hatte, überzeugt auch mit seinen vorher erschienenen Erzählungen aus dem Band Zehnter Dezember. Mit stilistischer wie sprachlicher Kreativität und außergewöhnlichen Szenarien vermag er es, seine Leser gleichsam zu schockieren und wunderbar zu unterhalten. Die zehn Storys sind düster und hart – nicht gerade das, was man Wohlfühllektüre nennt –, eine qualitativ hochwertige Mischung aus dystopischer Zukunft und grausamer Gegenwart, beängstigend und realistisch zugleich. Ein brillantes Buch über Verluste und Niederlagen in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Cover des Buches Wie später ihre Kinder (ISBN: 9783446264120)

Bewertung zu "Wie später ihre Kinder" von Nicolas Mathieu

Wie später ihre Kinder
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Ein melancholischer Roman, der seine Leser mitreißt und großartiges Gesellschaftsporträt zeichnet.
Ein fesselnder Roman, der verdientermaßen den Prix Goncourt erhielt

Wie später ihre Kinder begleitet über vier Sommer, zwischen 1992 und Smells Like Teen Spirit, bis 1998 und der Fußballweltmeistermeisterschaft, Anthony, Hacine und ihre Freunde. Sie werden groß in einer Welt, die ihnen kaum noch etwas zu bieten hat. Mit der Schließung der Hochöfen in Heillange ist gleichzeitig die Zukunftsperspektive verschwunden und die Industrieruinen sind nur noch Schauplatz für abendliche Besäufnisse der Jugendlichen. Was ihnen bleibt, ist die Hoffnung auf ein anderes und erfüllteres Leben. Dennoch hängen sie an ihrer Heimat.

Die Figuren in Nicolas Mathieus Roman Wie später ihre Kinder gehören eindeutig zu den Verlierern der Globalisierung. Wo einst die Stahlindustrie boomte, sind nur noch verlassene Fabriken übrig und für die Bewohner des fiktiven Ortes Heillange, in der Nähe der luxemburgischen Grenze, wird das Leben immer schwieriger. Anthony will eigentlich endlich ausbrechen aus diesem Zustand und den Problemen der Eltern. Während der Vater mit Gelegenheitsjobs das Familieneinkommen aufbessert, wird seine Mutter im Ort als „Schlampe“ bezeichnet und am Wochenende finden regelmäßige Grillabende und Besäufnisse mit den Nachbarn statt. In einer bildungsfernen Familie mit einem trinkenden und gewalttätigen Vater sind die Perspektiven für Anthony begrenzt. Mindestens genauso schlecht steht es für Hacine, Sohn marokkanischer Einwanderer, der sich mit Marihuana-Verkäufen über Wasser hält. Die Ausbruchsversuche aus ihren Milieus sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Auch die Kinder aus wohlhabenderen Familien, wie Steph, in die sich Anthony verliebt, suchen nach einem Weg raus aus der Provinz. Eigentlich will sie sich nicht mit dem „Asi“ Anthony sehen lassen und versucht soziale Grenzen aufzuziehen, die im Vollrausch aber immer wieder verschwimmen.

Mathieu beschreibt eine Welt, in der sich die Protagonisten und ihre Familien kaum gegen den ökonomischen Druck zu Wehr setzen können. Die Folgen sind Gewalt, Kriminalität und Drogenkonsum. Als Schuldige für die Misere werden die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien ausgemacht. Auch Anthonys Mutter erlebt, wie sich ihr Sohn immer mehr verändert und ihr fremder wird. In eher knappen, aber pointierten Beschreibungen setzt sich Mathieu mit dem Innern der Figuren auseinander. Durch Rückblenden werden ihre Entwicklungen nachvollziehbar. Dabei verzichtet er auf bewertende Kommentare und lässt die Geschichte sich so frei entfalten. Auf diese Weise offenbaren sich in den Handlungen die Zerrissenheit, Ängste und Träume der Protagonisten und durch viele kleine Details ergeben sich differenzierte Bilder. Mathieu vermischt gekonnt verschiedene Sprachstile wie die rassistischen Äußerungen von Anthonys Familie und Jugendslang.

In der Folge entstehen Porträts von verschiedenen durchaus ambivalenten Charakteren, ohne dass es zu moralischen Einschüben kommt. Die Einbeziehung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Hintergründe verleiht dem Roman darüber hinaus weitere Tiefe. Getrieben von jugendlicher Energie testen die Figuren ständig ihre Grenzen aus. Dadurch, dass Mathieu immer wieder zwei Jahre Handlung und die damit verbundene Entwicklung auslässt und nur sehr spärlich preisgibt, gewinnt der Roman auch inhaltlich an Spannung. Der Roman formuliert keinen Vorwurf an die Politik, sondern zeichnet ein Gesellschaftspanorama, in dem die Jugendlichen zum einen durch ihre Herkunft und zum anderen durch ihr eigenes Denken gefangen sind.

Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu ist ein melancholischer Roman, der sich mit dem Schicksal von Kindern sozialer Absteiger in der französischen Provinz auseinandersetzt. Mathieu arbeitet seine Figuren voller Respekt und differenziert aus. Genauso gelungen sind die Darstellungen der gesellschaftlichen Hintergründe, die das Leben der Jugendlichen bestimmen. Ein Roman, der seine Leser mitreißt und großartiges Gesellschaftsporträt zeichnet.

Cover des Buches GRM (ISBN: 9783462000207)

Bewertung zu "GRM" von Sibylle Berg

GRM
letusreadsomebooksvor 3 Jahren
Kurzmeinung: Erzählt mit einem unerbittlichen Blick auf unsere Gegenwart. Hart, aufrüttelnd und unbedingt lesenswert.
Ein bemerkenswerter Roman der Gegenwart, um den kein Weg herumführt

Der neue Roman GRM von Sybille Berg beginnt in Rochdale, Großbritannien, in einer nahen Zukunft. Rochdale ist ein Ort, in dem der Neoliberalismus gründlich gearbeitet hat. Die vier Jugendlichen und Protagonisten  Don, Karen, Peter und Hannah haben es am eigenen Leib erfahren. Sie sind Außenseiter in einer Gesellschaft, in der sie keinen Platz mehr finden. Das einzige was ihnen scheinbar noch Hoffnung gibt, ist die neue Musikrichtung Grime, die täglich Stars bei YouTube hervorbringt und der Jugend ständig neue Vorbilder bietet, im Roman als „wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben“ charakterisiert. Als die vier erkennen, dass es in ihrer sogenannten Heimat keine Zukunft mehr gibt, brechen sie nach London auf, um außerhalb des Systems eine Möglichkeit des Überlebens zu finden.

Nein, GRM ist kein fröhlicher oder positiver Roman – ganz im Gegenteil. Die Gesellschaft wird immer autokratischer, Digitalisierung, Klimawandel, soziale Verwerfungen, die Angst vor Fremden und Automatisierung von Arbeit fordern ihren Preis. Wer auf der Strecke bleibt oder nicht aus einer reichen Familie stammt, ist halt selber schuld, er hätte ja mehr arbeiten können. Auch wenn im Verlauf das Grundeinkommen eingeführt wird, ist es letztlich nur ein Vorwand, um die Bürger besser beherrschen und überwachen zu können.

Berg konzentriert sich in großen Teilen auf das Milieu der verarmten Bürger, deren Kinder in den Sozialämtern niemand mehr auf dem Schirm hat. Ihre Geschichten sind geprägt von Gewalt, sexuellem Missbrauch, Drogen und Einsamkeit. Beim Lesen entsteht fast der Eindruck, dass die Not und die Gewalt, der die Kinder ausgesetzt sind, der übertriebenen Vorstellungskraft der Autorin entspringen, doch Sybille Berg bezieht sich dabei auf reale Vorkommnisse wie den Brand im einen Londoner Hochhaus oder den über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch durch Banden in Rochdale. Gewalt ausgehend von Männern ist ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht. Berg legt den Fokus auf die Schrecken, etwas Positives ist über einen langen Zeitraum kaum zu finden.

Bereits auf den ersten Seiten wird ein ebenso zynischer wie scharfer Blick auf die letzten knapp zwei Jahrzehnte geworfen, der mit seiner Dichte sofort klar macht, wohin die Reise geht: in eine unmittelbare Zukunft, in der alle negativen Entwicklungen der Gegenwart noch einmal deutlich verstärkt wurden. Die Protagonisten und Figuren werden alle auf die gleiche Art eingeführt, anhand einer kurzen sarkastischen Beschreibung und Attributen: „Hannahs Vater. Ethnie: asiatisch. Hobbys: Katzenvideos. Gesundheit: endogene Depression nach Verlust. Politische Neigung: keine. Verwertbarkeit als Konsument: null.“.

Auch wenn die satirischen Spitzen dem Roman einen gewissen Unterhaltungswert verleihen, ist die Gewalt und Verrohung der Gesellschaft so allgegenwärtig, dass Lachen eigentlich nicht angebracht ist. Und das betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche wie die Figur der „achtjährigen Nutte“, die keine Ahnung hat, wie das Leben außerhalb ihres Gefängnisses aussieht, sondern in ebensolchen Maße die Erwachsenen, die wahlweise vom Staat, von der Gesellschaft oder von ihren Männern allein gelassen werden und lediglich Teil eines „komplett verblödeten Schwarms“ sind. Die Menschen werden nur noch anhand ihrer Verwertbarkeit, ihres Konsums und ihrer Produktivität gemessen. Andere Werte spielen keine Rolle mehr, ebenso wenig wie Individualität, denn hier ist jeder austauschbar.

Der eigentliche Plot um die Vier und die gesellschaftlichen Entwicklungen wird von einer sprunghaften Erzählinstanz begleitet, die zwischen auktorialer und personaler Perspektive wechselt, teilweise auch innerhalb eines Satzes. So werden die Perspektiven eines Politikers, eines Händlers, eines Hackers und viele weitere mehr eingenommen, was einen vielstimmigen Blick auf die verschiedenen Positionen innerhalb der Gesellschaft ermöglicht. Hier dürfen sich alle äußern, egal ob alt oder jung, arm oder reich, weiblich oder männlich. Die Sätze sind dabei häufig kurz und wie abgehackt. An viele Aussagen schließt sich nur ein lapidares „Egal“ oder „Naja“ an, wodurch die eigentliche Härte des vorher gesagten beiseite gewischt wird, was wie ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Bedeutung der Figuren wirkt, für die sich niemand interessiert.

Auch wenn Berg keine Lösung für die von ihr geschilderten Probleme bieten kann, trifft einen der Roman mit seiner ganzen Wucht. Die größte Stärke ist allerdings nicht die Handlung, sondern die umfassende Gesellschaftsdarstellung mit ihrer Vielstimmigkeit. Der scharfe Blick der Autorin ist dabei ebenso aufrüttelnd wie besorgniserregend. Sybille Bergs GRM ist ein bemerkenswerter Roman der Gegenwart, um den kein Weg herumführt.

Cover des Buches Das neunte Haus (ISBN: 9783426227176)

Bewertung zu "Das neunte Haus" von Leigh Bardugo

Das neunte Haus
letusreadsomebooksvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Spannend und atmosphärisch dicht, leider stellenweise ein bisschen zu viel des Guten.
Atmosphärischer Roman mit kleinen Schwächen

Galaxy Stern, kurz Alex, wurde an der Universität von Yale aufgenommen – weil sie Geister sehen kann. Sie wird dem Neunten Haus, Lethe, zugewiesen, welches als Vermittler zwischen den acht alten Häusern dient und deren magische Aktivitäten sowie Rituale überwacht. Was für Alex Jahre lang ein Fluch war, wird nun zu Lethes Segen, da sie die Bedrohungen als einzige Person jederzeit sehen kann. Gemeinsam mit ihrem Mentor Darlington liegt es an Alex, die „Grauen“, also die Geister, von Ritualen fernzuhalten und einen Machtmissbrauch der Studenenverbindungen zu verhindern. Als eines Tages jedoch die Leiche einer jungen Frau auf dem Campus entdeckt wird, befürchtet Alex, dass die anderen Häuser involviert sein könnten.

Ich liebe gut geschriebene, atmosphärisch dichte Campusgeschichten, die sich mit den dunklen Machenschaften von Studentengruppen- oder Verbindungen beschäftigen (wie z.B. Takis Würgers Der Club und vor allem Donna Tartts Die geheime Geschichte). Von daher war die Prämisse von Bardugos neustem Buch natürlich sehr ansprechend für mich. Ich bin eigentlich gar nicht so die Urban Fantasy-Leserin, doch das Setting des alten, verwunschenen Yale-Campus passt einfach perfekt. Bardugo versteht es, wie auch schon in Das Lied der Krähen und dessen Nachfolger Das Gold der Krähen, eine düstere, magische Atmosphäre voller Gefahren zu kreieren, die ihre Leser in die dunklen, mysteriösen Gassen New Havens geradezu hineinzieht.

Nach und nach entspinnt sich eine immer dichtere Geschichte. Fantasyelemente wie Zauber, Portale oder Geister treffen hier auf eine toxische Studentenkultur und traumatische biografische Hintergründe der Figuren. Das Tempo ist jedoch ziemlich gedrosselt: durch verschiedene Zeitebenen geht die Handlung nur gemächlich voran, dafür bekommen wir als Leser Yales harten Winter besonders zu spüren.

Alex ist wundervoll unperfekt: sie passt eigentlich überhaupt nicht nach Yale, sie ist ein fluchender Ex-Junkie, hat nur wenige günstige oder abgetragene Klamotten, ist stark tätowiert und kommt in ihren Kursen kaum mit. Ihre dunkle Vergangenheit wird schon früh angedeutet, aber erst im späteren Verlauf des Romans vollständig offenbart. Auch ihr Mentor Darlington ist ein Sympathieträger, obwohl er zunächst als „Gentleman von Lethe“ sehr geschniegelt rüberkommt. Im nächsten Band werden wir hoffentlich mehr von ihm lesen können.

Leigh Bardugos Bücher wirken oft, als könnte man verdammt gute Fantasyfilme oder -serien daraus machen. Das merkt man auf der einen Seite an den gelungenen Twists, die in Das neunte Haus genauso wie in der Krähen-Duologie aufeinander folgen, auf der anderen Seite aber auch an der sehr cineastische Action, die mir persönlich manchmal schon etwas zu viel wurde. Besonders Alex‘ Plotarmor, also ihre absolute Unsterblichkeit ungeachtet ihrer schweren Verletzungen, sowie ihre überproportional große Macht für eine „Novizin“ waren sehr prominent.

Leigh Bardugo hat mit Das neunte Haus ein Buch über Freundschaft und Korruption, über Magie und Missbrauch, über Sucht und Hoffnung, über den Tod und das Überleben geschaffen. Der Fantasy-Roman kann atmosphärisch voll und ganz überzeugen und glänzt mit Spannung und seiner sympathisch abgefuckten Protagonistin, auch wenn diese einem lange nicht so ans Herz wächst wie die sechs Crewmitglieder aus der Krähen-Duologie. Manche Stellen wirkten mir leider etwas zu filmisch und over the top – trotzdem freue ich mich schon drauf, wieder nach Yale zurückkehren zu können, wenn der zweite Band erscheint.

Cover des Buches Das Ende des Bengalischen Tigers (ISBN: 9783954380374)

Bewertung zu "Das Ende des Bengalischen Tigers" von Yoko Ogawa

Das Ende des Bengalischen Tigers
letusreadsomebooksvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Das Buch verknüpft elf düster-makabere Geschichten auf herausragende Weise miteinander.
extrem atmosphärische Geschichten

Das Ende des Bengalischen Tigers, welches in der englischen Übersetzung den kürzeren und deutlich anders anmutenden Titel Revenge trägt, vereint elf extrem atmosphärische Kurzgeschichten: eine Frau kauft in einer Bäckerei Törtchen für ihren verstorbenen Sohn zum Geburtstag, eine alte Dame hütet in ihrem Garten ein dunkles Geheimnis, eine Schriftstellerin verliert langsam den Verstand, eine Affäre endet mehr als verhängnisvoll und ein Täschner fühlt sich von dem offen liegenden Herzen einer Kundin angezogen.

Yoko Ogawas „Roman in elf Geschichten“, wie es so schön auf dem deutschen Cover heißt, hatte für mich nichts besonders romanhaftes. Ein wenig erinnert das Konzept an David Mitchells Werke Der Wolkenatlas, Chaos oder Die Knochenuhren, da auch hier die einzelnen Erzählungen sehr gelungen miteinander verknüpft werden. Die Bäckerei aus der ersten Geschichte taucht später noch einmal auf, genauso wird die weinende Konditorin in einer späteren Erzählung zur Nebenfigur. Eine Geschichte beeinflusst die andere, alles ist, mal in geringem Maße, mal stärker, miteinander verbunden. Dass für mich kein Roman-Gefühl entstanden ist, ist allerdings überhaupt nicht negativ. Die herausragenden Kurzgeschichten ergänzen sich perfekt, durch jede folgende wird die vorher gelesene noch etwas klarer, Hintergründe werden aufgedeckt und vorschnell gewonnene Eindrücke relativiert oder gänzlich umgekehrt.

Drei der Geschichten sind im Gegensatz zu den restlichen sehr harmlos und dienen eher als Verbindungsstücke – so auch die titelgebende Story der deutschen Ausgabe. Sie sind immer noch gut, bei ihnen fehlte mir jedoch der Überraschungseffekt, der sich bei allen anderen Geschichten einstellt. Oftmals gibt es erst auf der letzten Seite oder gar im letzten Abschnitt einer Erzählung eine grausame, makabere Wendung. Sobald man dies zum ersten Mal erlebt hat, wartet man regelrecht darauf, dass es erneut passiert. Ogawas Geschichten sind alle kühl wie der Nachtwind in einer dunklen, verlassenen Gasse, der einen erschauern lässt. Man spürt auf jeder Seite, dass das Böse gleich hinter der nächsten Ecke lauert.

Manche der obskuren Ereignisse haben mich an Ray Bradburys Werke, insbesondere seine Kurzgeschichten, erinnert. Auch Liebhaber der Gothic Fiction dürften mit diesem Buch hier auf ihre Kosten kommen. Mich persönlich hat es sehr beeindruckt, dass Das Ende des Bengalischen Tigers von derselben Frau verfasst wurde, die auch Das Geheimnis der Eulerschen Formel schrieb. Diesen Roman las ich vor einigen Jahren und konnte ihm leider nur das Prädikat „ganz nett“ geben. Doch die harmlose, vor sich hinplätschernde Geschichte über einen Professor, dessen Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert und seine neue Haushälterin, die es sich mit ihrem Sohn zur Aufgabe gemacht hat, die harte Schale des alten Mannes zu knacken, hat nichts mit den dunklen, brutalen Kurzgeschichten gemein – glücklicherweise.

Yoko Ogawas Stories Das Ende des Bengalischen Tigers haben mir zwar nicht das Gefühl eines Romans vermittelt, dennoch ergeben sie gemeinsam ein stimmiges Ganzes. Die elf Geschichten sind nicht nur durch ihre dunkle, mörderische und skurrile Thematik gekonnt verbunden, sondern auch durch verschiedene Figuren und Schauplätze, die immer wieder auftauchen. Durch dieses Buch konnte ich eine völlig andere, mir bisher unbekannte Seite der japanischen Autorin entdecken, die zur Zeit mit ihrem neuen Roman The Memory Police auf der Short List des International Booker Prize steht – und davon lese ich nur allzu gerne mehr!

Cover des Buches Kosmetik des Bösen (ISBN: 9783257234756)

Bewertung zu "Kosmetik des Bösen" von Amélie Nothomb

Kosmetik des Bösen
letusreadsomebooksvor 4 Jahren
Kurzmeinung: Ein kluger, unterhaltsamer und spannender Dialogroman über das Böse, das sich in uns allen verbirgt.
In einem Rutsch durchgelesen!

Jérôme Angust sitzt am Flughafen und wartet, denn sein Flieger hat Verspätung. Der Geschäftsreisende möchte einfach nur in Ruhe lesen, bis es endlich weiter geht, doch ein Mann, der sich als Holländer namens Textor Texel vorstellt, setzt sich zu ihm und bedrängt ihn. Da Angust ihn nicht abschütteln kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem eloquenten und in der Philosophie bewanderten Herrn zuzuhören – auch, als die Themen düsterer und die Geständnisse heftiger werden.

„Was wissen Sie denn?“
„Sie sind Geschäftsmann. Ihre Ziele lassen sich in Geld beziffern. Das ist billig.“
„Jedenfalls behellige ich andere nicht damit.“
„Sicher fügen Sie irgend jemand Schaden zu.“
„Selbst wenn das stimmen sollte – wer sind Sie, mir das vorzuwerfen?“
„Texel. Textor Texel.“
„Das sagten Sie bereits.“
„Ich bin Holländer.“

Auf den ersten dreißig Seiten dachte ich noch, dass dieses Buch ganz okay ist, aber zu Nothombs schwächeren gehören könnte – wie hätte ich da ahnen können, wie sehr ich mich irre?
Es beginnt scheinbar harmlos mit einem Mann, der von einem Quälgeist belagert und geplagt wird – Texel ist unangenehm, aufdringlich und nervtötend, doch anfangs ahnt man sein Potenzial noch nicht. Die Dialoge sind zunächst einseitig, als Angust versucht, auszuweichen und weiter in seinem Buch zu lesen, doch Texel lässt nicht so leicht locker. Schnell entspinnt sich ein Roman, der ein einziger langer Dialog ist – und wie wahnsinnig gut Nothomb diese Form beherrscht, durfte ich bisher in verschiedenen ihrer Bücher bewundern.

Texel mag den Geschäftsmann vielleicht mit Anekdoten aus der Kindheit langweilen, doch das, was ihm eigentlich auf der Zunge und auf dem Herzen liegt, ist deutlich härterer Tobak. (Achtung, explizite Gewaltszenen!) Aber Nothomb wäre nicht Nothomb, wenn sie die ersten Eindrücke auf sich beruhen lassen würde. Dieses Buch wird vor allem durch zwei große Twists so grandios, die einen – obwohl die Autorin vorher schon dezente Hinweise streut – ganz schön überraschen dürften.

„Sie sind ja wahnsinnig!“
„Finde ich nicht. Wahnsinnige sind für mich Menschen, die sich unbegreiflich verhalten. Mein Verhalten kann ich Ihnen in allen Einzelheiten erklären.“
„Da sind Sie aber der einzige.“
„Das genügt mir vollkommen.“

Kosmetik des Bösen ist ein Roman über Moral und Gerechtigkeit, über Vergeltung, Gewissen, Trauma, Verdrängung und die inneren Dämonen. Es ist höchst erstaunlich, wie viele gesellschaftliche, psychologische aber auch mythologische, religiöse oder philosophische Themen die belgische Autorin in ihren schmalen Büchern unterbringen kann, ohne je ihre Leser zu langweilen. Die meisten ihrer Werke umfassen gerade einmal 100 bis 150 Seiten, doch sie nehmen so schnell an Fahrt auf, dass man es gar nicht wagt, sie aus der Hand zu legen, bis der letzte – meist völlig unerwartete Absatz – kommt.

Es ist wirklich schwierig, über dieses Buch zu schreiben, ohne zu viel Preis zu geben, was bei Nothombs kurzer Prosa zwar oft der Fall ist, bei diesem Werk hier aber besonders zutrifft. Was sich aber ganz klar sagen lässt, ist, dass es ein böses, ein abgründiges Buch ist, ein verrücktes, ein durch und durch amüsantes, trotz der harten Thematik.

Amélie Nothombs Roman Kosmetik des Bösen beweist wieder einmal, dass ein gutes Buch nicht unbedingt lang sein muss. Zwei skurrile Protagonisten liefern den Lesern ein absolutes Dialog-Feuerwerk, das die menschlichen Abgründe offenbart. Vor allem das Ende ist Nothomb wieder einmal ausgezeichnet gelungen – bei solchen Wendungen kann man das Buch eigentlich nur in einem Rutsch durchlesen!

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