renies avatar

renie

  • Mitglied seit 08.04.2013
  • 1 Freund*in
  • 64 Bücher
  • 38 Rezensionen
  • 58 Bewertungen (Ø 4,36)

Rezensionen und Bewertungen

Filtern:
  • 5 Sterne30
  • 4 Sterne20
  • 3 Sterne7
  • 2 Sterne1
  • 1 Stern0
Sortieren:
Cover des Buches Kalkutta (ISBN: 9783960540106)

Bewertung zu "Kalkutta" von Shumona Sinha

Kalkutta
renievor 8 Jahren
Kurzmeinung: Dieser Roman überzeugt durch seine facettenreiche Sprache
Ein ganz besonderer Sprachstil!

Shumona Sinha ist eine indisch-französische Schriftstellerin und Dolmetscherin, die für ihren Roman "Erschlagt die Armen!" den diesjährigen Internationalen Literaturpreis gewonnen hat. Ihre schriftstellerischen Anfänge hat sie in ihrer Heimat Bengalen gefunden, wo sie bereits als 17-Jährige große Beachtung gefunden hat. Seit 2001 lebt sie in Frankreich. Das hier vorliegende Buch Kalkutta ist ihr dritter Roman, der bereits vor 2 Jahren von der renommierten Academie Française prämiert worden ist.

Klappentext:
Nach vielen Jahren in Frankreich kehrt Trisha anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurück in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Da ist zum Beispiel die rote Steppdecke, die sie nicht nur an die Hausierer erinnert, die solche Decken anfertigten, sondern auch daran, wie sie eines Nachts ihren Vater dabei beobachtete, wie er in ebendieser aufgerollten Decke einen Revolver versteckte. Oder das kleine Fläschchen mit Hibiskusöl, mit dem man ihrer Mutter Urmila die Kopfhaut massierte, wenn diese wieder einmal von schwerer Melancholie überwältigt wurde. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.

Kalkutta ist ein politischer Roman.
Ich gebe zu, ich habe mich nie sonderlich mit der Historie Indiens befasst. Die Romane, die ich bisher zu diesem Land gelesen habe, bezogen sich hauptsächlich auf die Kolonialzeit bzw. die Zeit davor. Insofern ist die Zeit, in der der Roman hauptsächlich spielt (70er Jahre und später) für mich absolutes politisches Neuland. Daher habe ich die Informationen, die Shumona Sinha über den Alltag und die politische Landschaft Indiens und Bengalens vermittelt, förmlich aufgesogen. Eines wird dabei deutlich. In den 70er Jahren waren viele politisch engagiert und verteidigten dabei ihre politischen Ansichten mit einer Vehemenz, die an Fanatismus grenzte. Wer sich mit Politik beschäftigte, riskierte seine Gesundheit. Gegner unterschiedlicher politischer Lager gingen nicht zimperlich miteinander um. Shumona Sinhas Darstellung des politischen Alltags ist dabei völlig ungeschönt und macht deutlich, dass dieser Alltag von Angst und Gewalt geprägt war.

"In diesem Jahr 1975 war das Land im Ausnahmezustand. Die größte Demokratie der Welt wurde nun von Indira Gandhi regiert, der indischen Eisernen Lady, die auf ihren Vater Jawaharlal Nehru gefolgt war. ... Ihre Hand löschte Opponenten aus, ihr Machthunger war nicht zu stillen. Sie manipulierte den damaligen Präsidenten und brachte ihn dazu, Notstandsgesetze ohne die Zustimmung des Parlaments zu erlassen, was ihr ermöglichte, durch Verordnungen zu regieren. In Westbengalen, in Kalkutta und den benachbarten Städten wurden Shankhyas Genossen verhaftet und ermordet. Den Überlebenden brach man das Rückgrat, ein Bein oder einen Arm, man riss ihnen ein Auge aus, nahm ihnen auch den letzten Rest Mut und Willen. Man ermordete Männer, um den kollektiven Traum eines ganzen Volks auszulöschen." (S. 69 f.)

Im Mittelpunkt dieses Romanes stehen die Erinnerungen Trishas an ihre Eltern und ihre Großmutter. Der Vater Shankhya war zeitlebens Professor an der Uni. In jungen Jahren engagierte er sich für die Kommunistische Partei in Bengalen. Als er erkannte, dass die hehren Ziele, die er einst mit seiner Partei verfolgt hatte, dem Streben nach Macht geopfert wurden, zog er sich aus der Politik zurück.
Trishas Mutter war depressiv. Die Krankheit hatte sie fest im Griff. Dieser Zustand war eine dauerhafte Belastung für die ganze Familie.
Die Großmutter lebte bei der Familie. Shankhya war ihr Sohn. Die Großmutter konnte nicht viel mit dem modernen Indien anfangen. Zu tief war sie mit Religion und Tradition verwurzelt. Dass sie bei ihrem Sohn lebte, sorgte häufig für Spannung, da er jemand war, der zum Atheismus neigte.
Trisha wuchs also mit den modernen Ansichten ihres Vaters und dem Traditionsdenken ihrer Großmutter auf. Mehr erfährt man allerdings nicht über Trisha. Und dies ist der einzige Kritikpunkt, den ich an diesem Roman habe. Als Leser erhält man keinen Zugang zu Trisha. Mit ihrem Eintreffen in Kalkutta zur Einäscherung ihres Vaters erfährt man, dass sie in den letzten Jahren in Frankreich gelebt hat. Was sie dazu bewogen hat, ihre Heimat Indien zu verlassen, und wann sie sie verlassen hat, bleibt unbekannt. Es gibt Andeutungen, die jedoch nicht weiter verfolgt werden. Insofern tritt Trisha im weiteren Verlauf der Geschichte nahezu völlig in den Hintergrund. Stattdessen nehmen die Personen, an die sie zurückdenkt - Vater, Mutter, Großmutter - immer mehr Raum ein. Am Ende bleibt nur die Spekulation, dass die Autorin verdeutlichen will, welchen Einflüssen Trisha in ihrer Kindheit unterworfen war und sie geprägt haben. Nur welcher Mensch aus Trisha geworden ist, bleibt unklar.

"Mehr als einmal war er am Grabstein des Glaubens abgeprallt, unter dem das rationale Denken und die wissenschaftliche Herangehensweise seit Langem begraben lagen. Seine Partei war gescheitert und Shankhya kam zu dem Schluss, dass die revolutionäre Ideologie nur ein fliegender Teppich gewesen war, der über dem indischen Subkontinent schwebte, während es den Millionen von Menschen völlig gleichgültig war, sie überlebten beschwerlich, schlugen Wurzeln und hatten Träume, die in die Glücksbringer um ihren Hals passten, bedeutungslos, lächerlich und vor allem ungefährlich." (S. 147)

Was mich völlig fasziniert hat und allein schon Grund genug ist, diesen Roman zu lesen, ist die facettenreiche Sprache von Shumona Sinha.
Anfangs hat mich ihr Sprachstil sogar ein wenig verstört. Er kommt sehr kraftvoll rüber, ohne zu beschönigen. Ähnlich wie es Trisha ergeht, als sie am Flughafen von Kalkutta ankommt und sich völlig fremd und verloren fühlt, empfindet auch der Leser. Er wird in ein Indien versetzt, dass herzlich wenig mit dem romantischen Bild zu tun hat, welches einem von Reiseprospekten immer gern entgegen prangt. Den Leser erwartet zunächst Lärm, Schmutz und Chaos. Nur ganz langsam gelingt es, sich mit dem Szenario anzufreunden und zu akklimatisieren.
Durch Trishas Erinnerungen an ihre Kindheit, lernt der Leser langsam ein Indien kennen, das faszinieren, aber gleichzeitig auch erschüttern kann. Shumona Sinhas Sprache ist dabei mal gefühlvoll, mal farbenfroh, mal poetisch. Als Leser lässt man sich gern von diesem Sprachstil gefangen nehmen.

Fazit:
Wer sich für fremde Kulturen interessiert und dabei Spaß an besonderer Sprache hat, ist bei diesem Buch gut aufgehoben. Mit ihrer facettenreichen Sprache vermittelt Shumona Sinha ein faszinierendes Bild von einem Land, das zwischen Tradition und Moderne sowie Politik und Religion hin- und hergerissen wird.
Leseempfehlung!

© Renie

    Cover des Buches Der Brief im Taxi (ISBN: 9783038200338)

    Bewertung zu "Der Brief im Taxi" von Louise de Vilmorin

    Der Brief im Taxi
    renievor 8 Jahren
    Über einen geheimnisvollen Brief ...

    Was steht nur in dem Brief, den Cécilie, die Protagonistin aus Louise de Vilmorins zauberhaftem Roman "Der Brief im Taxi", verloren hat und deshalb völlig aus der Bahn geworfen wird? Eine Frage, die erst zum Schluss des Buches beantwortet wird. Aber, ob die Antwort der Wahrheit entspricht? Wirklich sicher bin ich mir nicht.

    Worum geht es in diesem Roman?
    Cécilie ist eine hinreißend unkonventionelle Dame, die in ihrer Bücherhöhle, liebevoll Ali Baba genannt, ihre Tage größtenteils mit dem Schreiben von Artikeln, Reiseberichten und Drehbüchern verbringt. Sie ist verheiratet mit Gustave, einem Bankier, der seine Karriere stetig vorantreibt.
    Als Cécilie die Geliebte ihres Bruders Alexandre zum Bahnhof begleitet, rutscht ihr im Taxi unglücklicherweise ein geheimnisvoller Brief aus der Tasche. Und die Geschichte nimmt ihren Lauf. (Quelle: Dörlemann)

    Cécilie ist eine Protagonistin, die mir mit den ersten Sätzen schon ans Herz gewachsen ist. Denn Cécilie lacht über das Leben und die Pariser Gesellschaft. Und als Leser lacht man gern mit. Kaum zu glauben, dass jemand, der solch ein herzerfrischendes Gemüt hat und vor Lebensfreude nur so sprudelt, sein Leben an der Seite eines karrierebewussten Langeweilers verbringt. Doch der karrierebewusste Langeweiler, namens Gustave und Ehegatte von Cécilie, war nicht immer so. Als Cécilie und Gustave sich kennenlernten, hatte er noch Träume, war abenteuerlustig und ließ sich von seiner Herzensdame mitreißen. Doch viele dieser Träume waren kostspielig. Ohne die nötigen finanziellen Mittel, war gar nicht daran zu denken, diese zu erfüllen. Also arbeitete Gustave an seiner Karriere. Doch mit steigendem beruflichen Erfolg, nahmen Träumerei und Abenteuerlust ab. 

    "'Dein Mann kann nur noch bewerten. Er ist nicht mehr derjenige, den du geheiratet hast. Du warst für die Freiheit geschaffen, als freie Frau wärst du Schauspielerin geworden.'" (S. 14)

    Heute denkt er nur noch an seine Karriere und das Geldverdienen. Cécilie jedoch hat sich den Esprit ihrer Jugend bewahrt. Und damals wie heute geht sie mit einem Lachen durchs Leben. Sie nimmt sich und die anderen nicht besonders ernst. Es scheint, als ob sie und Gustave ein Arrangement getroffen haben, das beide ihr Leben leben lässt. Er schraubt an seiner Karriere und sie macht das, wozu sie gerade Lust hat. Gustave liebt seine Frau abgöttisch, auch wenn er sie sich ein wenig seriöser wünscht. In der Gesellschaft anderer, tut sie ihm oft den Gefallen. Sie versteht es, zu repräsentieren und spielt die Rolle, die man von der Ehefrau eines Bankiers erwartet. Oft kann sie ihr Temperament jedoch nicht zügeln, was zu recht unkonventionellen Situationen führt. Das nimmt ihr jedoch keiner übel, ganz im Gegenteil. Ihre Eskapaden werden als originell betrachtet und sie ist damit ein gern gesehener Gast in der Pariser Gesellschaft.
    Das Leben Cécilies könnte also so schön sein, wenn die Sache mit dem Brief nicht gewesen wäre.
    Der verschwundene Brief wirft sie aus ihrem seelischen Gleichgewicht und man fragt sich, was der Inhalt dieses Briefes ist. Bis zum Ende der Geschichte baut die Autorin Louise de Vilmorin diverse Andeutungen ein. Als Leser hat man einen Verdacht, der jedoch mal bekräftigt und mal verworfen wird.

    Von Beginn an hatte ich das Gefühl, mich in einem Stück aus dem Boulevardtheater zu befinden. Die Dialoge in diesem Roman haben einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind geistreich und witzig zugleich. Insbesondere die Gespräche zwischen Cécilie und ihrem Mann haben es mir angetan, da hier ganz besonders der krasse Unterschied zwischen den beiden Charakteren zum Ausdruck kommt. Gustave merkt, dass seine Frau sich auf einmal merkwürdig verhält. Sie baut ein Lügengerüst um den verschwundenen Brief auf, in das sie sich jedoch verheddert. Das macht Gustave natürlich misstrauisch. Cécilie redet sich manches mal um Kopf und Kragen. Und man hat den Eindruck, dass Gustave ausschließlich das glaubt, was er glauben möchte. Er verschließt die Augen vor Cécilies offensichtlichen Schwindeleien und schafft sich somit seine eigene Wahrheit, in der seine Frau ganz gut wegkommt.

    "Angesichts dieses vertrauenvollen Mannes, der sich zwar sorgte, aber den Hang hatte, stets nur das Gute zu sehen, das heißt, was für ihn persönlich von Vorteil war, war sie wie vor den Kopf geschlagen." (S. 194)

    Diese Tendenz, sich Dinge schön zu reden und seine eigene Wahrheit zu schaffen, scheint dem Zeitgeist der damaligen Pariser High Society zu entsprechen. Die Charaktere, auf die man in diesem Roman trifft, zeichnen sich durch eine Ich-Bezogenheit aus, die ihresgleichen sucht. Man erlebt die Dame, die versorgt sein möchte und daher auf der Suche nach dem Mann für ihr Leben ist - auch, wenn dieser Mann bereits vergeben ist; man erlebt den älteren Mann, der auf der Suche nach einem Jungbrunnen ist und daher keine Skrupel hat, seine Zukunft mit einem Mädchen zu planen, das nur halb so alt ist wie er; man erlebt den Abenteurer, der ohne Rücksicht auf Verluste versucht, bei seiner Suche nach Liebe, Lust und Leidenschaft fündig zu werden. 
    Nur Cécilie scheint aus der Art zu schlagen. Zumindest lässt sie ihr eigenes Wohl zugunsten ihres Ehemannes Gustave in den Hintergrund treten.

    Louise de Vilmorin betrachtet ihre Charaktere mit einem Augenzwinkern. Sie hat damit eine kleine aber feine Satire auf die Pariser Gesellschaft geschaffen, in der sie übrigens als Adelige selbst zu Hause war.

    "Marcelline Doublard-Despaumes hatte jenes Alter erreicht, in dem Frauen erblonden. Sie war üppig und leutselig, liebte Empfänge und Juwelen, Theater und Café crème zu jeder Tageszeit. Ihr Mann ähnelte ihr und schreckte genauso wenig wie sie davor zurück, seinen Reichtum auszustellen." (S. 31)

    Der Roman spielt in der Zeit um 1920. Wobei er meines Erachtens auch früher angesiedelt sein könnte. Denn der Sprachstil Louise de Vilmorins hat einen Charme, der durchaus in die Zeit des Belle Epoque passen würde. Der Stil wirkt sehr lebhaft und farbenfroh. Teilweise wählt die Autorin eine sehr schwülstige Ausdrucksweise, die man beim Lesen mit einem Lächeln quittiert. Und es scheint, dass sie sprachlich eine Bewahrerin der Etiquette ist. Ehe ihre Wortwahl kompromittierend wird, greift sie lieber zu einer formvollendeten Umschreibung. Hier ist ein herrliches Beispiel:

    Schlafzimmer = "das schattige Zimmer, wo Liebende einander nur finden, um sich zu verlieren"

    Fazit:
    Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen, da ich mich in eine geistreiche und zeitlose Boulevardkomödie versetzt fühlte. Man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr raus, die Seiten fliegen nur so dahin und man hat leider schneller das Ende erreicht, als einem lieb ist. 
    "Der Brief im Taxi" ist für mich ein weiterer Beweis, dass auch Romane, die schon ein bisschen älter sind, durchaus einen ganz besonderen Charme haben können.

    © Renie

    Cover des Buches Aus dem Feuer (ISBN: 9783960540120)

    Bewertung zu "Aus dem Feuer" von Ingvar Ambjørnsen

    Aus dem Feuer
    renievor 8 Jahren
    Eine herrliche Satire!

    Die Schriftsteller, denen ich bisher begegnet sind, habe ich alle als sehr sympathische Zeitgenossen erlebt. Und dann traf ich in dem Roman „Aus dem Feuer“ von Ingvar Ambjørnsen auf einen Krimiautor namens Alexander Irgens. Diesen Alexander Irgens kann man durchaus als echtes Ekel seiner Zunft bezeichnen. Nur gut, dass es sich bei ihm um eine fiktive Person handelt - das hoffe ich zumindest ;-)

    Worum geht es in diesem Roman?
    Norwegens Krimikönig Alexander Irgens schlägt gemeinsam mit seiner Geliebten Vilde einen zudringlichen Fan krankenhausreif - nach einem opulenten Dinner mit elf Buchhändlerinnen. Daraufhin flieht er vor der skandalbegeisterten Presse, seiner Geliebten und seiner Ehefrau und taucht in Island und Deutschland ab. Zurück in Norwegen, scheint er unverhofft zu sich selbst und zu etwas wie Heimat zu finden. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein - und dieser Roman wird selbst zum Krimi. (Klappentext)

    Die Reaktionen der Presse auf Alexanders Angriff auf seinen Fan sind Fluch und Segen zugleich. Alexander steht kurz vor der Veröffentlichung eines weiteren Krimis aus seiner Erfolgsserie rund um seinen Helden Stig Hammer. Und scheinbar gibt es seitens des Verlages keinerlei Skrupel, die negative Publicity für den Erfolg seines neuen Buches auszuschlachten. Alexander setzt sich zwar ins Ausland ab, doch Negativ-Werbung ist auch eine Werbung. Und so ist sein Buch in aller Munde. Ein weiterer Bestseller aus der Stig Hammer-Reihe scheint damit vorprogrammiert.

    „‚…Solange er nicht den Geist aufgibt, bringt dir das nur jede Menge Aufmerksamkeit. Man könnte fast glauben, das sei so arrangiert worden.’“ (S. 153)

    Apropos Skrupel. Skrupel scheint generell für Alexander Irgens ein Fremdwort zu sein. Sein bisheriger Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen. Alexander Irgens gestaltet sein Leben nach seinen eigenen Gesetzen. Ich habe selten einen derart selbstherrlichen, überheblichen und egoistischen Protagonisten in einem Roman erlebt, wie Alexander Irgens. Der Mittelpunkt seiner Welt ist Alexander Irgens. Er ist das Maß aller Dinge, und seiner Ansicht nach ist er zu gut für diese Welt. Schuldempfinden hat er sich abgewöhnt. So ist der Betrug an seiner Ehefrau eine Selbstverständlichkeit für einen Mann seines Kalibers. Und dass er einen seiner Fans krankenhausreif geprügelt hat, ist diesem selbst zuzuschreiben. Warum ist er dem großen Alexander Irgens auch auf die Nerven gegangen? Die Liste der Negativ-Eigenschaften von Alexander Irgens ließe sich endlos weiterführen. Aber eine Schwachstelle hat er doch. Er wäre gern ein „richtiger“ Schriftsteller und nicht nur jemand, der massentaugliche Krimis schreibt. In seinen Anfängen hat er sich mit Novellen versucht, die vielversprechend für seinen weiteren schriftstellerischen Werdegang waren. Nur leider hat er diesen Weg nicht weiterverfolgt. Es ist halt einfacher, Krimis nach Schema F zu produzieren, als ein literarisch anspruchsvolles Werk zu schreiben.

    Der Autor Ingvar Ambjørnsen hat mit diesem Roman eine herrliche Satire auf den Literaturbetrieb und das Schriftstellertum geschaffen. Vieles erscheint übertrieben. Doch man wird den Verdacht nicht los, dass mehr Wahres dabei ist, als man sich wünschen möchte. Die Geschichte wird natürlich aus der Sicht von Alexander Irgens erzählt. Man hat den Eindruck, dass Irgens ständig auf der Suche nach neuen Ideen für einen Krimi ist. Man ertappt ihn dabei, wie er häufig versucht, sich und seine Umgebung in mögliche Plots für einen Kriminalroman einzubauen. Er scheint unter einem permanenten Erfolgsdruck zu stehen. Denn mit jedem weiteren erfolgreichen Krimi, den er veröffentlicht hat, scheint die Erfolgsmesslatte für sein nächstes Buch ein Stückchen höher zu liegen. 

    „‚ … Es ist nicht so leicht, wenn man dauernd von fremder Aufmerksamkeit verwöhnt wird. Man wird, natürlicherweise, das, was wir auf gut Norwegisch als verwöhntes Arschloch bezeichnet.‘“ (S. 313)

    Als Leser kann man keinerlei Sympathien für Alexander Irgens entwickeln. Wie auch? Denn schließlich hat er absolut nichts Nettes an sich. Man schwankt zwischen Sich Wundern, Aufregung und Ärger über diesen Charakter. Aber es gibt auch viele lustige Momente in diesem Roman, die mich völlig unvorbereitet getroffen und mich zum Lachen gebracht haben. Zum Ende nimmt dieser Roman eine überraschende Wendung an, die sich in keiner Weise vorhersagen lässt. Nur soviel sei gesagt: am Ende überwog bei mir die Schadenfreude.

    Ich möchte noch auf eine sprachliche Besonderheit Ingvar Ambjørnsen hinweisen. Ambjørnsen versteht es, Naturszenen in einer einzigartigen Weise darzustellen. Man lässt sich durch die Bilder, die dabei hervorgerufen werden, verzaubern. Das Kopfkino läuft dabei auf Hochtouren. Man hat das Gefühl, das beschriebene Szenario mit allen Sinnen wahrzunehmen. Das ist fast wie ein kleiner Urlaub in der Natur Norwegens.

    „Aber Luft und Licht gehören dem Oktober, wie ich ihn aus früheren Jahren kenne, so weit ich mich zurückerinnern kann. Der blaue klare Herbsthimmel und das Sonnenlicht, das durch die farbenfrohen Baumwipfel sickert. Der große Laubfall hat noch nicht eingesetzt. Noch ist der Waldboden nackt. Das Gras steht grün an den Hängen. Noch hängen die Farben an den Zweigen, Milliarden, Myriaden von wehenden Wimpeln in Gold, Rot, Braun und Orange, in allen Schattierungen.“ (S. 8)

    Ich kann diesen Roman Lesern empfehlen, die sich für den Literaturbetrieb interessieren. Und gerade Leser, die diesen Literaturbetrieb gern mit einem verklärten Blick betrachten, werden durch dieses Buch schnell auf den Boden der Tatsachen geholt. Der Hauptprotagonist ist ein selbstherrlicher Widerling, der seinesgleichen sucht und zum Ende von seinem hohen Ross heruntergeholt wird. Ingvar Ambjørnsen hat damit eine eindrucksvolle Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor geschaffen, die mich großartig unterhalten hat.

    © Renie

      Cover des Buches Geronimo (ISBN: 9783257069716)

      Bewertung zu "Geronimo" von Leon de Winter

      Geronimo
      renievor 8 Jahren
      Eine interessante Verschwörungstheorie!

      Im Mai 2011 fand in Abbottabad, Pakistan, die "Operation Neptune's Spear" statt - die erfolgreiche Erstürmung des Verstecks des Terroristenführers Osama bin Laden, Codename Geronimo. Bei dieser Operation ist bin Laden ums Leben gekommen. Die Umstände seiner Erschießung sind jedoch fragwürdig. Auch wenn die Nachricht über die Tötung bin Ladens von der Öffentlichkeit mit Erleichterung gern akzeptiert worden ist, tauchen doch viele Zweifel an den Umständen seines Todes auf. Immer wieder erscheinen Publikationen, u. a. von Teilnehmern der Operation, die die offizielle Darstellung der US-Regierung in Frage stellen.
      Warum ist ein Terrorist mit einem unerschöpflichen Wissensschatz über Al Kaida und die internationale Terrorismusszene liquidiert worden, ohne die Gelegenheit zu ergreifen, sich sein Wissen zunutze zu machen? Warum ist bin Laden umgebracht worden? Hat die Erstürmung tatsächlich so stattgefunden, wie es der Öffentlichkeit Glauben gemacht wurde? Galt es, damals sowie heute ein Geheimnis zu verbergen, von dem bin Laden wusste? Alles ist möglich. Leon de Winter greift diese Fragen auf und entwickelt in seinem Roman eine gar nicht mal so abwegige Verschwörungstheorie. Und am Ende kann man sich sehr gut vorstellen, dass damals alles etwas anders gelaufen ist.

      Klappentext:
      "Geronimo" lautet das Codewort, das die Männer vom Seals Team 6 durchgeben sollten, wenn sie Osama bin Laden gefunden hatten. Doch ist die spektakuläre Jagd nach dem meistgesuchten Mann der Welt wirklich so verlaufen, wie man uns glauben macht?
      Ein atemberaubender Roman über geniale Heldentaten und tragisches Scheitern, über die Vollkommenheit der Musik und die Unvollkommenheit der Welt, über Liebe und Verlust. Spannend wie ein Thriller und berührend wie eine Liebesgeschichte, bringt Geronimo die Grenzen zwischen Realität und Phantasie ins Wanken. (Quelle: Diogenes)

      "Leute wie ich sehen in dieser offiziellen Geschichte nichts als Lücken. Und ich bin mir sicher, Hope, dass Leute wie du auch Fragen gestellt haben, als sie die Geschichte hörten, als der Präsident der Welt triumphierend erzählte, dass sie UBL abgemurkst hätten. Sie hatten ihn nicht lebend, sondern tot. Es gab praktisch keine Gegenwehr, und trotzdem mussten sie ihn eliminieren. Warum? Warum musste UBL zum Schweigen gebracht werden?" (S. 318)

      Was bei Leon de Winter als Polit-Thriller beginnt, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einem mitreißenden Roman, der die Schicksale unterschiedlicher Charaktere zum Mittelpunkt hat, die mehr oder weniger mit dem Tod bin Ladens zu tun hatten. Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven, hauptsächlich aus der Sicht von Osama bin Laden, Tom - einem Agenten der CIA - sowie Jabbar, einem Jungen aus der Nachbarschaft bin Ladens in Pakistan. Seine Familie gehört dem Christentum an.

      Osama bin Laden
      Die Darstellung Osama bin Ladens ist gewöhnungsbedürftig. Leon de Winter zeigt einen der gefürchtetsten Terroristen der damaligen Zeit mit menschlichen Seiten. Er dichtet ihm Eigenschaften wie Mitgefühl an. Das liest sich eigenartig. Es fällt schwer, jemandem, der den Tod 1000er Menschen zu verantworten hat, Menschlichkeit zuzusprechen. Als Leser ist man irritiert und will gar nicht so recht glauben, was man über bin Laden liest. Doch Leon de Winter bekommt noch rechtzeitig die Kurve. Bevor der Leser Mitgefühl für bin Laden empfindet, lässt der Autor auch die bösartigen Seiten des Terroristenführers durchklingen. Und schon ist man als Leser wieder versöhnt.

      "Wie sie am 11. September 2010 von UBL mitgenommen worden war, als wie fürsorglich sich UBL erwiesen hatten - die Fürsorglichkeit eines Ungeheuers. Sogar UBL konnte menschlich sein. Ein unerträglicher Gedanke." (S. 392)

      Tom Johnson
      Tom ist Mitglied der CIA, seine Karriere begann in der US Army. Eigentlich war er gar nicht an dem Angriff auf das Versteck bin Ladens beteiligt. Da er jedoch einen engen Kontakt zu den Männern der Einheit hatte, die mit diesem Auftrag betraut waren, hat er Kenntnis von dem Plan erhalten. Die Spezialkräfte der US Army, die derartige Sonderaufgaben übertragen bekommen, scheinen in einer Parallelwelt zu leben. Töten ist ein Job, Tötungsaufträge werden mit einer routinierten Selbstverständlichkeit durchgeführt. Dass die Mitglieder dieser Spezialkräfte selbst ständig der Gefahr ausgesetzt sind, ermordet zu werden, gehört zu deren Dasein dazu. Ihr Alltag ist von Misstrauen und Vorsicht geprägt, selbst wenn sie mittlerweile schon längst aus der Army ausgetreten sind und einen Job in einer privaten Sicherheitsfirma angenommen haben. Einmal Soldat, immer Soldat.

      Während seiner Zeit in Afghanistan baut Tom eine Beziehung zu einem kleinen muslimischen Mädchen auf. Beide verbindet die Leidenschaft zur klassischen Musik, insbesondere die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit saugen sie Musik förmlich in sich auf. Diese Momente der Begeisterung und Harmonie erscheinen merkwürdig in dieser kriegsgebeutelten Umgebung. Die Liebe zur Musik wird dem Mädchen in dem islamischen Land zum Verhängnis. Tom fühlt sich verantwortlich für ihr Schicksal.

      "Sie trat ein paar Schritte auf mich zu, nein, sie schritt, muss ich sagen, und dann blieb sie minutenlang reglos stehen, als hätte sie Angst, als sträubte sie sich gegen etwas, was sie mitriss, dieses dünne Mädchen, dunkel wie ihr Vater, glänzend gebürstetes schulterlanges Haar, lange Wimpern, gelbe Strickjacke über wadenlangem geblümten Kleid, leichte Hose, schmutzige weiße Pantoffeln - eine kleine afghanische Version von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Schutzlos stand sie in Bachs Universum, in dem sich eine Note wunderbar natürlich zur anderen fügte und einen harmonischen Fluss bewirkte, der über die Natur hinausragte." (S. 133)

      Jabbar
      Ein Jugendlicher, der mit seiner Mutter in Abbottabad in Pakistan lebt. Eine christliche Familie unter Muslimen. Jabbar träumt davon, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern. Doch leider fehlen die Mittel, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Eines Tages tut sich ein Hoffnungsschimmer auf.

      Anfangs scheint es kaum Verbindungen zwischen den einzelnen Charakteren zu geben. Erst mit der Zeit beginnen sich ihre Wege zu kreuzen, und ihre Schicksale verflechten sich zu einem logischen Ganzen.

      Leon de Winter konzentriert sich zu Beginn seines Romanes auf bin Ladens Tage vor dem Angriff sowie auf den Angriff selbst. Dabei schildert er diese Operation mit all ihrer militärischen Präzision. Man ist versucht, diesen Roman als Politthriller einzuordnen. US Army, CIA, Terroristen, das Weiße Haus, alles deutet darauf hin. Der damalige (und jetzige) Präsident der USA wird im Übrigen von Leon de Winter mit sehr unfeinen Eigenschaften ausgestattet, allen voran Skrupellosigkeit und Machthunger. Das ist amüsant, zumal seinem Pendant in der Terrorismusbranche menschliche Eigenschaften angedichtet worden sind. Hier lässt Leon de Winter die Grenzen zwischen den guten Jungs und den bösen Jungs geschickt verwischen.

      "Im Frühjahr 2011 war Obama in Militärkreisen keine sonderlich beliebte Figur. Wir wählten zwar nicht alle die Republikaner, in unseren Augen befassten sich nur Weicheier mit Politik, aber wir fanden, der jetzige Präsident sei ein elitärer Universitätsprofessor, der kein Feeling für die Machtverhältnisse in der Welt habe und auch kein Feeling dafür, welche Opfer wir, die Kämpfer und ihre Familien, für das Land brächten." (S. 64)

      Mit der Zeit entwickelt sich der vermeintliche Politthriller zu einem Roman über menschliche Schicksale. Der Charakter bin Laden gerät in den Hintergrund und auf einmal stehen die berührenden Schicksale einer christlichen Familie und eines muslimischen Mädchens im Mittelpunkt.

      Dies war der erste Roman, den ich von Leon de Winter gelesen habe, aber mit Sicherheit nicht der letzte. Ich war von Anfang an gefesselt. Der niederländische Schriftsteller ist ein Meister der Spannung, wobei es keinen Unterschied macht, ob er über militärische Aktionen schreibt oder über den Alltag in einem islamischen Land und dem Schicksal eines kleinen Mädchens. Es fällt nicht leicht, diesen Roman aus der Hand zu legen, insbesondere durch die unvorhergesehenen Wendungen, die die Handlung nimmt. Einmal begonnen, will man wissen, wo die literarische Reise hinführt. Genauso muss spannende Unterhaltung sein!

      Fazit
      Ein Roman, der es in sich hat: ein menschlicher Topterrorist, eine militärische Parallelwelt, Johann Sebastian Bach im Krieg, Christen in Pakistan, eine Verschwörungstheorie. Es ließe sich bestimmt noch mehr finden. Man kommt als Leser aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Fantasie des Autors ist grenzenlos. Und er versteht es, seine Geschichte glaubhaft zu verkaufen. Und am Ende bleiben die Zweifel an dem, was damals in Pakistan geschehen ist. De Winters Version erscheint nicht abwegig. Genauso könnte es gewesen sein.

      Klare Leseempfehlung!


      Cover des Buches Westlich des Sunset (ISBN: 9783498050450)

      Bewertung zu "Westlich des Sunset" von Stewart O′Nan

      Westlich des Sunset
      renievor 8 Jahren
      F. Scott Fitzgerald in der Stadt der Engel

      Romane, deren Protagonisten bekannte Persönlichkeiten sind, üben eine große Faszination auf mich aus. Der Reiz liegt für mich darin, dass diese Persönlichkeiten mit all ihren Schwächen dargestellt werden, wobei es mir egal ist, ob diese Schwächen angedichtet sind oder tatsächlich vorhanden sind. Es ist doch immer ein gutes Gefühl zu wissen, dass Berühmtheiten auch nur Menschen wie du und ich sind. 

      In dem vorliegenden Roman "Westlich des Sunset" von Stewart O'Nan geht es um den Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, Autor von "Der große Gatsby". Fitzgerald konnte mit seinem Ruhm nicht umgehen und ist daran fast zerbrochen. O'Nan versetzt seinen Helden in die 30er/40er Jahre. Fitzgerald, mittlerweile pleite, alkoholabhängig und tablettensüchtig, versucht sein Glück als Drehbuchautor in Hollywood.

      Auszug aus dem Klappentext:
      Hollywood, 1937. Als der amerikanische Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald mit eindundvierzig als Drehbuchschreiber nach Hollywood gerufen wird, scheint seine Alkoholsucht unbezähmbar, seine Frau Zelda lebt in einer psychiatrischen Klinik, das Verhältnis zu seiner Tochter ist schwierig. Mit "Der große Gatsby" hat er Weltruhm erlangt, doch das ist lange her. Nun sieht er in der Traumfabrik Hollywood die Chance eines Neuanfangs. ... 

      Hollywood - ein hartes Pflaster für einen Schriftsteller, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hat. Fitzgerald gibt sich der Illusion hin, immer noch einen Namen in Hollywood zu haben. Er baut auf seinen Ruf, der ihm bei den Filmgesellschaften viele Türen öffnen soll. Doch man hat den Eindruck, dass er die Jobs, die er erhält, nur aus Mitleid angeboten bekommt. Man nimmt ihn nicht mehr ernst, wozu auch seine Unbeständigkeit als Folge seiner Alkoholsucht beiträgt. Doch Fitzgerald will sein gesunkenes Ansehen nicht wahrhaben. Noch immer vergleicht er sich mit alten Weggefährten, allen voran Ernest Hemingway, mit dem er sich nie ganz grün war. Hollywood ist ein Dorf. Zwangsläufig begegnet man sich auf Parties und öffentlichen Veranstaltungen. Aber Hollywood ist auch eine Zweiklassengesellschaft. Es gibt diejenigen, die auf der Erfolgswelle reiten und im Rampenlicht stehen. Und dann gibt es Leute wie Fitzgerald, die an ihren alten Erfolgen anknüpfen wollen, aber nicht wahrhaben können, dass die Zeiten des Erfolges längst vorbei sind. Diese Leute werden bestenfalls geduldet, gehören aber nicht mehr zur elitären Gesellschaft Hollywoods dazu.

      "Er dachte an den Rausch seines ersten Erfolgs, als alle Welt ihn begehrte, nur dass der verträumte Egoist, der er gewesen war, geglaubt hatte, es würde für immer so bleiben." (S. 181)

      Als erfolgreicher Romanautor hat Fitzgerald ein angenehmes und unabhängiges Leben geführt. Als Drehbuchautor ist es vorbei mit seiner Unabhängigkeit. Er ist auf Gedeih und Verderb der Produktionsgesellschaft ausgeliefert. Egal wie gut seine Drehbucharbeit ist, am Ende entscheidet der Produzent über den Inhalt des Drehbuches. Es wird ungefragt gekürzt und gestrichen, so dass das Ergebnis am Ende nur noch herzlich wenig mit der ursprünglichen Arbeit des Drehbuchautors zu tun hat. Aber wer bezahlt, bestimmt auch über Inhalt und Stil des Drehbuches. Kreativität ist an dieser Stelle unerwünscht.
      Fitzgerald widerstrebt die Rolle des Drehbuchautors. Aber er hat keine Alternativen. Hoch verschuldet, Ehefrau Zelda in einer kostspieligen psychiatrischen Einrichtung, Tochter Scottie auf dem Internat - Fitzgerald muss nehmen, was er kriegen kann und seine eigenen Bedürfnisse dabei hintenanstellen. Er ist einem enormen Druck ausgesetzt. In Hollywood ist sein Alkoholproblem bekannt. Man lauert förmlich darauf, dass Fitzgerald wieder seine Aussetzer hat und scheitert.

      O'Nan bestätigt einmal mehr, dass Hollywood nichts anderes als eine Scheinwelt ist. Einerseits das gern gesehene Bild vom Glamour, andererseits die Kälte, Neid und Missgunst der Reichen und Schönen, die sich in Hollywood tummeln. Hollywood hat etwas Verdorbenes und Zerstörerisches. Die Erfolgreichen können damit umgehen, die Erfolglosen gehen daran zugrunde.

      "Trotz ihrer tropischen Schönheit, hatte die Stadt etwas Reizloses, Hartes, etwas Vulgäres, das so unzweifelhaft amerikanisch war wie die Filmindustrie, die durch die endlosen Wellen arbeitshungriger Migranten florierte und ihnen nichts Handfesteres als Sonnenschein bot. Es war eine Stadt der Fremden, doch, anders als in New York, gründete sich der Traum, den L. A. verkaufte, wie in jeglichem Paradies, nicht auf außergewöhnliche Leistungen, sondern auf unbegrenzte Leichtigkeit; ein Zustand, den nur Wohlhabende oder Tote erreichen konnten." (S. 59)

      Nostalgie macht sich beim Lesen breit. Man stößt auf Stars wie Humphrey Bogart, Marlene Dietrich, Joan Crawford etc. etc. etc. und auch hier ist es sehr unterhaltsam, dass O'Nan diese schillernden Berühmtheiten des Filmgeschäfts, an die man mit Ehrfurcht zurückdenkt, von ihrem Podest herunterholt und mit allen möglichen menschlichen Schwächen ausstattet.

      Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, das Szenario durch einen Filter zu betrachten. Das Leben in Hollywood hat etwas Unwirkliches, als ob es nicht von dieser Welt ist. Fitzgerald ist auf der Suche nach Normalität. Ein "normales" Familienleben, ein "normaler" Beruf, um seine Familie zu ernähren. Aber mit seinem Wunsch nach Normalität wirkt er in Hollywood deplatziert. Diese Normalität findet er auch nicht mehr in seiner Ehe. Die psychische Erkrankung seiner Frau Zelda macht ein "normales" Eheleben unmöglich. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er sich in eine andere Frau verguckt, die allerdings große Ähnlichkeit mit Zelda aufweist. Es ist der Versuch, an seinem "alten" Leben mit Frau anzuknüpfen. Aber die Beziehung zu seiner "Neuen" scheint nicht zu funktionieren. Sheila, beruflich erfolgreich und unabhängig, ist ihm deutlich überlegen. Fitzgerald nimmt die Beziehung ernster als sie es tut.

      "Er glaubte nicht an Scheidung - nicht als Katholik, denn das war er nur noch dem Namen nach, sondern als Romantiker -, und dennoch begriff er, dass, obwohl eine Verbundenheit blieb, der Aspekt ihrer Liebe vorbei war, zerstört durch Wut, Krankheit und Schmerz, durch zu viele Seitensprünge und zu viele getrennte Nächte." (S. 162)

      Fitzgerald wird immer mehr zum Loser. Kein Erfolg im Beruf, kein Erfolg in der Liebe. Fitzgerald zerbricht langsam an seinen Misserfolgen und versinkt immer häufiger in seiner Sucht. 

      Stewart O'Nan beschreibt das Scheitern Fitzgerald mit einer Nüchternheit, die eine große Distanz zu seinem Protagonisten aufkommen lässt. Er beschönigt nichts, bewertet nichts und nennt die Dinge beim Namen. Es kommen weder Mitgefühl für den zerplatzten Traum einer gescheiterten Existenz auf der Suche nach Normalität auf, noch Schadenfreude für den Absturz eines Mitgliedes des Vereins der Reichen und Schönen auf. Es scheint fast so, als ob einen die Geschichte Fitzgeralds gleichgültig lässt. Aber das stimmt nicht. Denn mit Fortschreiten der Handlung wird man feststellen, dass einem die Person Fitzgerald doch näher gekommen ist als man gedacht hat. 

      Fazit
      Dieser Roman liefert eine besondere Mischung aus der Glitzerwelt Hollywoods, Nostalgie und dem Scheitern einer Persönlichkeit. Dabei bedient sich der Autor einer Sprache, die nicht viel mit Glanz und Glamour zu tun hat, sondern eher das Zerstörerische und Unbarmherzige der Stadt der Engel betont. Klare Leseempfehlung!

      © Renie

        Cover des Buches Nie mehr Frühling (ISBN: 9783711720191)

        Bewertung zu "Nie mehr Frühling" von Petra Hofmann

        Nie mehr Frühling
        renievor 8 Jahren
        Ein symbolträchtiger Titel für einen großartigen Roman

        Petra Hofmann erzählt in ihrem Erstlingswerk die Geschichte eines Dorfes und seiner Bewohner. Im Mittelpunkt steht dabei Hermine Stoll (*1910 - †1997), der durch den Verlust ihrer großen Liebe jegliche Lebenslust abhanden kommt und die sich nie mehr von dem Schmerz erholen wird. Der Leser begleitet Hermine von ihrer Jugend bis zu ihrem Tod.
        Die Handlung dieses feinen eindringlichen Romans entwickelt dabei einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Einmal begonnen, legt man dieses Buch so schnell nicht mehr aus der Hand.

        Worum geht es in diesem Roman?
        Hermine ist sicher die eigensinnigste, lebenslustigste Frau im Dorf, als sie, verrückt vor Liebe, an einem Tag im Mai ihren Karl heiratet. Ewige Treue schwört sie ihm – bis in den Tod und darüber hinaus. Karls Einberufung in die Wehrmacht zerstört die Idylle jedoch auf einen Schlag. Hermine wartet auf ihn – ohne Rücksicht auf ihre kleinen Söhne und die Notwendigkeiten des täglichen Lebens. Sie weigert sich, den Tod ihres Geliebten zu akzeptieren, während sich die Frauen im Dorf längst den Mund über sie zerreißen und ihre Nachbarin Erna sie gleichermaßen beneidet wie verachtet. Der Krieg ist vorüber, das Leben in Deutschland geht weiter, aber Hermine lebt weiterhin in der Vergangenheit. (Klappentext)

        "Auf dem Küchenboden liegt sie, vor dem Herd, zusammengekrümmt.Sie regt sich nicht.Mutter?, sagt Paul. In den Kleidern liegt sie da, die dünnen Beine in Gummistiefeln." (S. 9)

        Hermine ist tot. Damit beginnt dieser Roman. Die 87-jährige Frau wird von ihrem Sohn Paul in ihrer Küche tot aufgefunden. Der Anblick seiner toten Mutter erfüllt ihn mit Abscheu und Erleichterung. Die alte Hermine schien kein Mensch zu sein, der von ihren Mitmenschen geliebt wurde. Warum eigentlich? Was ist passiert, dass aus Hermine, dem einst lebenslustigen Mädchen eine derart schreckliche und verkommene Alte geworden ist?
        Der Leser erhält eine Antwort auf diese Frage, in dem in einzelnen chronologisch angeordneten Episoden der Lebensweg von Hermine dargestellt wird. Dabei wird aus der Sicht der unterschiedlichsten Personen erzählt, in der Regel Hermines Söhne, ihre Schwester und Nachbarn. Nur Hermine kommt nie zu Wort. Sie ist diejenige, die unter Beobachtung steht. Sowohl vom Leser als auch von der Dorfgemeinschaft. 

        "Eine deutsche Frau lässt sich nicht gehen. Sie stellt eine anständige Mahlzeit auf den Tisch. Sie hält Ordnung, unter allen Umständen." (S. 77)

        Hermine war immer etwas anders. Schon als junges Mädchen tat sie sich schwer, sich den dörflichen Konventionen zu unterwerfen. Sie hat von der großen und leidenschaftlichen Liebe geträumt, die sie in Karl gefunden hat. Schon allein dafür wurde sie von den anderen Frauen aus dem Dorf misstrauisch beäugt, aber auch insgeheim beneidet. Als der Nationalsozialismus in Deutschland Einkehr hält, hat Hermine zusammen mit ihrem Karl den Mut, gegen den braunen Strom zu schwimmen. Da sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hält, stößt sie auf Unverständnis bei der Dorfgemeinschaft, die sich von der braunen Welle begeistert mitreißen lässt. Doch mit Karl ist sie stark und kann dem Druck ihrer Umgebung standhalten. Als Karl in den Krieg geschickt wird, bricht Hermine zusammen. Sie hält daran fest, dass Karl wieder zu ihr nach Hause kommen wird. Bis dahin wird das Leben für sie still stehen. Sie vernachlässigt sich selbst und kümmert sich nicht mehr um ihre beiden Söhne, die bis dahin ein liebevolles Zuhause gewöhnt waren. Für die Kinder bricht eine Welt zusammen. Sie verstehen nicht, warum ihre Mutter sich nicht mehr um sie kümmert. Anfangs suchen sie die Schuld bei sich und versuchen der Mutter zu gefallen. Doch Hermine zieht sich zurück. Die beiden Jungen begreifen schnell, dass ihre unbeschwerte Kindheit vorbei ist und sie von jetzt an allein auf sich gestellt sind, auch wenn sie Seite an Seite mit der Mutter unter einem Dach wohnen. 

        "Wie sie dasitzt, auf ihrem Hocker, ungerührt, starr. Und schon hört er sich schreien, Herrgott, schreit er und geht zu ihr und packt sie an den Schultern, diesen steifen, knochigen Schultern, und schüttelt sie, Herrgott, beweg dich doch endlich, schreit er, tu, was alle Mütter tun, ist das denn zu viel verlangt!? Er schreit und schüttelt sie, und es ist, als schüttelte er eine Holzpuppe, und da lässt er es. Und weiß nicht wohin mit all der Wut in sich." (S. 128 f.)

        Als der Krieg vorbei ist, kehren nach und nach die Männer von der Front zurück. Hermine wartet auf ihren Karl. Sie ist vorbereitet auf seine Rückkehr. Doch Karl wird nicht zurückkehren. Ein Brief informiert darüber, dass Karl während des Krieges gefallen ist. Selbst dieser Brief reicht nicht aus, um Hermine vom Tod ihres Mannes zu überzeugen. Sie hält nach wie vor an dem Glauben fest, dass Karl eines Tages heimkehren wird. Menschen, die ihr in dieser schwierigen Zeit beistehen wollen, weist sie zurück. Sie reagiert mit Beschimpfungen und zieht sich immer mehr in ihre eigene Gedankenwelt zurück. Und so gehen die Jahre ins Land. Das Dorf und seine Menschen verändert sich. Der Fortschritt hält Einzug. Und mittendrin bewegt sich die alte verbitterte bösartige Hermine, die immer noch auf ihren Karl wartet, misstrauisch beäugt von ihrem Umfeld. Die Zeit scheint für Hermine stillzustehen.

        Die Dorfgemeinschaft entwickelt mit der Zeit eine eigene Dynamik. Bemerkenswert ist der Umgang mit Hermine: Als Mädchen misstrauisch beäugt, als Nazigegnerin bedroht, als Mutter verachtet, als Witwe unverstanden (Männer fallen nun mal im Krieg, damit muss man sich abfinden). Auch wenn sie im Alter gehasst wird, findet man mit den Jahren gerade bei den älteren Dorfbewohnern so etwas wie Respekt vor ihrer Sturheit. Denn Veränderungen und Fortschritt, die mit den Jahren im Dorf Einzug gehalten haben, sind vielen nicht geheuer. Wie gern erinnert man sich der alten Zeiten. Und Hermine ist ein Sinnbild für diese alte Zeit. 

        "Ich glaube, auch die Zugezogenen betrachten sie als Teil des Dorfes, eine alte wirre Frau eben, fremd und unnahbar, übrig geblieben aus einer anderen Zeit, ein Stück Dorfgeschichte vielleicht, die sie nichts angeht." (S. 172)

        Wenn man die ersten Seiten dieses Buches gelesen hat, will man es nicht so schnell aus der Hand legen. Die episodenhafte Handlung entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Die einzelnen Kapitel sind kurz gehalten, so dass die Sichtweise auf Hermine häufig und schnell wechselt. Dabei erzählt Petra Hofmann die Geschichte Hermines in einer sehr symbolträchtigen und eindringlichen Sprache. Sie schafft es, die Gefühlswelt der einzelnen Charaktere sehr präzise wiederzugeben. Da ist es ein Leichtes für den Leser, sich von der jeweiligen Stimmungslage vereinnahmen zu lassen.

        Der Titel „Nie mehr Frühling“ ist nicht von ungefähr gewählt. Häufig stößt man auf Textpassagen, die das Wetter zum Thema haben. Man kann gar nicht anders als die Symbolhaftigkeit zu erkennen und Parallelen zur Handlung zu finden.

        "Vor dem Haus war die Mutter auf der Bank gesessen. Ein wunderbarer Frühling, hatte sie gesagt, kaum ein trüber Tag, und die Sonne wärmt schon. Lene hatte sich neben sie gesetzt. Wenn der Sommer nur auch so schön wird, hatte Lene gesagt. Das weiß man nie, hatte die Mutter gesagt. Wenn der Wind dreht, kann es kalt werden. Auch mitten im Sommer." (S. 26)

        Dieses Buch hat mich in seinen Bann gezogen. Petra Hofmann hat einen bemerkenswerten Erzählstil, der die Stimmungen der Protagonisten eindringlich vermittelt und den Leser mit sich reißt. Dieser Roman macht daher eindeutig Lust auf mehr aus der Feder von Petra Hofmann. Klare Leseempfehlung!

        © Renie


        Cover des Buches Letzter Bus nach Coffeeville (ISBN: 9783257069594)

        Bewertung zu "Letzter Bus nach Coffeeville" von J. Paul Henderson

        Letzter Bus nach Coffeeville
        renievor 8 Jahren
        Über eine tiefe Freundschaft und ein Versprechen

        Ein Schwarzseher, ein toter Scharfschütze, ein Wettermann und ein Waisenkind … Dies sind nur einige der Charaktere aus J. Paul Hendersons originellem Roman über einen Bustrip durch die Südstaaten des heutigen Amerikas. Im Mittelpunkt steht dabei die lebenslange und bedingungslose Freundschaft der Protagonisten und die Einforderung eines Versprechens.

        Worum geht es in diesem Roman?
        Nancy Skidmore leidet an Alzheimer. Bereits in ihrer Jugend war ihr bewusst, welches Schicksal ihr droht, da diese Krankheit in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergereicht wird. Mittlerweile ist sie Ende 60 und die Symptome der Krankheit werden immer schlimmer. Ihre größte Angst war immer, dass sie im Alter ein menschenunwürdiges Leben führen muss und nur noch ein Schatten ihrer selbst sein wird. Daher hat sie mit Anfang 20 ihrem Freund „Doc“ Eugene das Versprechen abgenommen, dass er sich um sie kümmern wird, sobald sie ihre Krankheit nicht mehr allein meistern kann. Lange Zeit hat er nichts von Nancy gehört. Genauso wenig wie von Bob. Die drei waren in ihrer Jugend immer als Dreiergespann unterwegs, haben sich aber über lange Jahre aus den Augen verloren. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, dass Doc sein Versprechen einlösen muss. Er beschließt, Nancy nach Coffeeville zu bringen. Hier gibt es ein Haus im Besitz der Familie Skidmore, in dem Nancy während der Zeit als sie noch klar im Kopf war, viele glückliche Stunden verbracht hat. Doch Doc benötigt Unterstützung während der Reise nach Coffeeville. Begleitet werden Nancy und Doc daher von Bob, dem alten Freund sowie Jack, Doc's Patensohn. Unterwegs stößt noch Eric dazu, ein elfjähriges Waisenkind, das auf der Suche nach Familie und Geborgenheit ist. Er hofft, dies bei seiner Cousine Susan, die im Erotikgewerbe tätig ist, zu finden. Der Zufall führt Eric mit den drei Männern und Nancy zusammen, die ihm nun bei der Suche helfen wollen. Aber egal, wie die Suche ausgehen wird. Coffeeville wird die Endstation dieser Reise sein.

        "Die Nancy Skidmore, die inzwischen in der geschlossenen Abteilung des Pflegeheims lebte, hatte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, der sie früher einmal gewesen war. Ihr Geist war von Flechten und Moos überzogen wie ein alter Grabstein, und die Tür zu ihrem Gedächtnis war nur noch einen Spalt breit offen. Bald wäre sie verriegelt und verrammelt." (S. 239)

        Der Roman beginnt, indem J. Paul Henderson zunächst seine Charaktere vorstellt. Er holt dabei weit aus und beginnt in den Jahren, in denen der Grundstein für die Freundschaft von Nancy, Doc und Bob gelegt wurde. Auch wenn sie sich jahrelang aus den Augen verloren haben und sie nicht mehr viel voneinander wissen, verbindet sie diese tiefe uneingeschränkte Vertrautheit, die sich nur bei lebenslangen Freundschaften finden lässt. Der Leser erfährt, welche großen und kleinen Dramen die Protagonisten in der Vergangenheit erlebt haben, und wie sehr sie diese Dramen geprägt haben. 

        J. Paul Henderson hat aus seinen Charakteren etwas Besonderes gemacht. Auf den ersten Blick erscheinen sie „merkwürdig“. Sie haben Eigenarten an sich, die man als „schräg“ beschreiben kann. Aber je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, umso intensiver lernt man die „wahren“ Charaktere kennen: verantwortungsvolle Menschen, die sich aufopfernd umeinander kümmern und für die Freundschaft eine lebenslange Verpflichtung bedeutet, die man gern erfüllt – in guten wie in schlechten Zeiten! 

        "In Wahrheit war Doc davon überzeugt, dass von den Menschen abgesehen, mit denen er im Moment gemeinsam unterwegs war, ihn niemand wirklich kannte, selbst wenn sie wussten, wie er hieß. Das bereute er rückblickend am meisten: Dass er sich zeit seines Lebens nicht dagegen gewehrt hatte, zu einer Karikatur dessen zu werden, wie ihn andere sahen, anstatt der zu sein, als der er sich wirklich fühlte. Alle gingen davon aus, dass er kein großer Menschenfreund, am liebsten allein war und kaum Gefühle hatte."(S. 402)

        Die Reise nach Coffeeville führt die Freunde quer durch die Südstaaten Amerikas. Der Leser stellt schnell fest, dass Henderson seine Protagonisten durch eine heile Welt reisen lässt. Idyllische Landschaften, kleine Ortschaften, wenig Schmutz und Lärm. Ja, den Leuten geht es gut in diesen Breitengraden. Der Inbegriff der heilen Welt findet sich tief in Walton’s Mountain. Wer kennt sie nicht, die TV-Familie Walton aus den 80ern? Die Amerikaner liebten diese Fernsehserie - und nicht nur die Amerikaner. Bei den Waltons war die Welt noch in Ordnung. Auch wenn sich ein paar Sorgen in den Alltag dieser Familie schlichen, spätestens beim Zubettgehen, waren diese Probleme vergessen. „Gute Nacht, John-Boy! Guten Nacht, Sue-Ellen! Gute Nacht Grandpa! …“ Dieses allabendliche Ritual reichte aus, dass dem Zuschauer ganz warm ums Herz wurde.

        "Die Serie war ein großer Erfolg. Ihre Fangemeinde sehnte sich zurück nach dieser längst vergangenen Zeit, in der es noch klare Regeln gab und man ein gottesfürchtiges Leben führte, als traditionelle Werte noch groß geschrieben wurden, der Familienzusammenhalt stark und Einsamkeit ein Fremdwort war. Dass das Leben von damals, wie es in der Serie dargestellt wurde, so nie existiert hat, war den Millionen begeisterter Zuschauer egal, und jede Woche tauchten sie aufs Neue ein in das Leben und die Probleme der Menschen, die in Walton's Mountain lebten, und vergaßen dabei nur zu gern, dass der Schauspieler, der Grandpa Walton verkörperte, einmal Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war." (S. 339 f.)

        Und hier kommt der satirische Charakter von Henderson's Roman durch. Denn bei allem Heile-Welt-Denken vergisst er nicht darauf hinzuweisen, dass Spießigkeit und Scheinheiligkeit einen großen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen. Henderson lässt keine Möglichkeit aus, den konservativen Teil der amerikanischen Gesellschaft durch den Kakao zu ziehen. Das macht das Buch sehr komisch, denn die Bloßstellungen der Gesellschaft sind dabei äußerst fantasievoll und originell.

        Dieser tolle Roman bewirkt bei dem Leser Einiges. Nahezu die komplette Gefühlspalette wird durchlaufen. Man lacht und weint, empört sich und fühlt mit. Man hofft und bangt. Dieser Roman lässt einen nicht los. Man genießt jede Seite, denn J. Paul Henderson hat viel zu erzählen. Sein Sprachstil ist dabei sehr lebhaft, so dass es einfach nur Spaß macht, der Geschichte um die alten Freunde in ihrem klapprigen Bus zu folgen.

        J. Paul Henderson hat dieses Buch geschrieben, nachdem seine Mutter nach langer Leidenszeit vor einem Jahr an Alzheimer gestorben ist. Dieser Roman ist sein Erstlingswerk und er musste tatsächlich 67 Jahre alt werden, um seine schriftstellerische Gabe zu entdecken. Man kann nur hoffen, dass er nicht lange mit weiteren Romanen auf sich warten lässt. Denn „Letzter Bus nach Coffeeville“ macht eindeutig Lust auf mehr von J. Paul Henderson.

        © Renie

          Cover des Buches Die Geschichte der Baltimores (ISBN: 9783492057646)

          Bewertung zu "Die Geschichte der Baltimores" von Joël Dicker

          Die Geschichte der Baltimores
          renievor 8 Jahren
          Ein grandioser Roman!

          Ein Autor hat einen Bestseller herausgebracht. Sein Buch hat sich millionenfach verkauft. Jetzt steht er unter Erfolgszwang, denn die Leserschaft verlangt nach einem weiteren Roman, der mindestens an den Vorgänger heranreicht. Schafft es der Autor mit dieser erdrückenden Erwartungshaltung umzugehen? Hat er nicht mit seinem ersten grandiosen Bestseller sein schriftstellerisches Pulver verschossen?
          Und schließlich ist es soweit, sein neuer Roman wird veröffentlicht. Von der Optik her fühlt man sich an den Vorgänger erinnert: ähnliches Cover, gleiche Art der Illustrationen und einer der Hauptcharaktere kommt ebenfalls in der Geschichte vor.
          Da kommt leicht der Verdacht auf, dass der Nachfolger ein Abklatsch des erfolgreichen Vorgängers ist. Nicht so bei Joël Dicker, der mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, veröffentlicht im Jahre 2012, ein unglaubliches Buch geschrieben hat. Sein neuer Roman „Die Geschichte der Baltimores“ weist nur sehr wenige Parallelen zu seinem Vorgänger auf. Auch wenn Joël Dicker die Messlatte durch seinen Erfolg mit „Harry Quebert“ sehr hoch gehängt hat, schafft er trotzdem das Kunststück, mit seinem Neuling noch einen draufzulegen.

          Worum geht es in diesem Roman?
          Die Goldmans aus Montclair sind eine typische Mittelstandsfamilie, sie leben in einem langweiligen Vorort von New Jersey und schicken ihren Sohn Marcus auf eine staatliche Schule. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Man ist wohlhabend und erfolgreich, der Sohn Hillel hochbegabt, der Adoptivsohn Woody ein vielversprechender Sportler. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für diese „besseren“ Verwandten und seiner leisen Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Hillel und Woody aber sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar, zu dritt schwärmen sie für das gleiche Mädchen – Alexandra. Bis ihre heile Welt eines Tages für immer zerbricht. Acht Jahre nach der Katastrophe beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Aber das Leben ist komplizierter als geahnt, und die Wahrheit über die Familie hat viele Gesichter, die ihm gänzlich unbekannt waren … (Klappentext)

          Marcus Goldman is back! Marcus, der bereits in Joël Dickers Buch "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" eine wichtige Rolle gespielt hat, übernimmt auch diesmal die Funktion des Erzählers. Er setzt mit seiner Geschichte im Oktober 2004 ein - „einen Monat vor der Katastrophe“ wie uns in der Überschrift des Kapitels verraten wird. Es bedarf also nicht vieler Worte, um direkt die volle Aufmerksamkeit des Lesers zu erlangen. Schon ist man in der Geschichte drin und sucht nach Hinweisen, was es mit dieser „Katastrophe“ auf sich haben könnte. 

          "' ... Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grunde keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden. ...'" (S. 505)

          Marcus Goldman holt in seiner Erzählung zunächst weit aus. Rückblickend (wir schreiben mittlerweile das Jahr 2012) führt er uns in die 80er und 90erJahre, die Zeit seiner Kindheit und Jugend. Hier lernt der Leser die Goldman-Gang kennen – Marcus und seine beiden Cousins Hillel und Woody, die alle drei im gleichen Alter sind, und die eine unzertrennliche Freundschaft verbindet. Marcus genießt es, Ferien und Feiertage mit seinen Cousins aus Baltimore zu verbringen. Sein reicher Onkel Saul und dessen Frau Anita, sehen es als selbstverständlich an, dass Marcus bei ihnen ein- und ausgeht. Er ist wie ein dritter Sohn für sie. Marcus empfindet Bewunderung für den Lifestyle der „Baltimores“, der so völlig im Kontrast zu dem Leben steht, das er mit seinen eigenen Eltern, den „Montclairs“, führt. Der Leser begleitet die drei Jungen durch ihre Kindheit, allerdings immer wieder unterbrochen von Momentaufnahmen der Gegenwart, 8 Jahre nach der Katastrophe.
          Marcus möchte nach all den Ereignissen, die seine Kindheit geprägt haben, ein Buch über die Geschichte der Familie Goldman schreiben. Während er seine Kindheit und Jugend Revue passieren lässt, fängt er an, vieles zu hinterfragen. Ihm wird schnell bewusst, dass in der Geschichte seiner Familie Dinge geschehen sind, deren Hintergründe er erst heute, mit einigen Jahren Abstand versteht.

          "Das war es, was die Goldman-Gang zusammengehalten hatte: Wir waren großartige Träumer gewesen. Das hatte uns ausgezeichnet. Und nun war ich der Letzte von uns dreien, der noch einem Traum nachhing. Dem ursprünglichen Traum. Warum wollte ich ein berühmter Schriftsteller werden und nicht einfach nur Schriftsteller? Wegen der Baltimores. Einst waren sie meine Vorbilder gewesen, dann waren sie zu Rivalen geworden. Ich wollte nur eins: sie übertreffen." (S. 418 f.)

          Stellenweise fühlte ich mich an eine griechische Tragödie erinnert - nur dass Joël Dicker mit seinem Erzählstil um einiges unterhaltsamer ist ;-). Protagonisten, die sich in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren, eine unabwendbare herannahende Katastrophe, innere Konflikte und Zerrissenheit, die die tragischen Helden ins Unglück stürzen. Das alles findet man bei Joël Dicker. Bei ihm geht es um Liebe und Eifersucht, Bewunderung und Neid, Bruderliebe und Rivalität, Vater-Sohn-Konflikt, Familienbande, Stolz, Missverständnis etc. etc. etc. Man stellt an vielen Stellen fest, dass das Leben in der Familie Goldman einer gefühlsmäßigen Gratwanderung gleich kommt:
          Marcus‘ Bewunderung für die Baltimores lässt sich selten von Neid unterscheiden. Dieser Neid wird ihn seine ganze Kindheit begleiten. Doch erst im Erwachsenenalter wird er dieses Gefühl verstehen und lernen, damit umzugehen.
          Hillel und der adoptierte Woody verbindet eine innige Geschwisterliebe. Aber dennoch ist ihr Miteinander von Rivalität und Eifersucht geprägt. Unbewusst gönnt keiner dem anderen die ihm eigene Begabung. Sie kämpfen mit der ständigen Angst, dass der andere den Eltern wichtiger sein könnte, weil er etwas kann, das man selbst nicht beherrscht. Und doch halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Sie können nicht ohne den anderen.

          Familiäre Beziehungsprobleme scheinen bei den Goldmans von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Es wundert nicht, dass Marcus Goldman bei seinen Nachforschungen bestätigt bekommt, dass auch sein Vater und dessen Bruder Saul mit Rivalität, Neid und Eifersucht zu kämpfen hatten. Die Brüder waren ständig dem Druck ausgesetzt, sich ihrem dominanten Vater gegenüber beweisen zu müssen, und um dessen Liebe zu kämpfen.

          "In solchen Momenten war ich böse auf Onkel Saul, weil er meine Eltern kleinmachte. Er verhexte sie mit seinem verfluchten Geld, sodass sie zu zwei jämmerlichen Würmchen schrumpften, die sich verkleiden mussten, um sich ein Essen spendieren zu lassen, das sie sich selbst nie leisten könnten. Und ich sah den unmäßigen Stolz im Blick meiner Großeltern. Nach jedem dieser Ausflüge verkündete Großvater Goldman jedem, der es hören wollte, wie sagenhaft erfolgreich sein Sohn sei, der große Saul, der König des Hauses Baltimore." (S. 350)

          Joël Dicker ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil ist durch eine Leichtigkeit gekennzeichnet, die die Seiten nur so dahinfliegen lassen. Gerade die Erzählungen aus der Kindheit der Goldman-Gang sind sehr kurzweilig und vermitteln den Eindruck einer fast idyllischen Familienszenerie. Tja, wenn die Andeutungen auf die „Katastrophe“ nicht wären. Diese Hinweise erinnern den Leser immer wieder daran, dass nicht „alles Gold ist, was glänzt“. Und plötzlich kommt der Moment der „Katastrophe“. Die Handlung nimmt eine unvorstellbare Wendung an. In einem einzigen Moment ist das Goldmansche Familienglück verpufft. Man hat mit allem gerechnet, nur nicht damit. Das ist großartige Unterhaltung. Es fehlt nur das Popcorn, um das Kopfkino perfekt zu machen.

          Fazit:
          Ich bin erleichtert! Nach „Harry Quebert“ habe ich den „Baltimores“ regelrecht entgegengefiebert. Meine Befürchtungen, dass Joël Dickers neuer Roman ein Abklatsch von Harry Quebert sein könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil. Die beiden Romane weisen nur sehr wenige Parallelen auf. Tatsächlich hat Dicker es geschafft, mit den Baltimores noch eine Schippe draufzulegen. Er ist ein Meister der hohen Erzählkunst. Seine sprachliche Leichtigkeit ist nicht zu übertreffen und macht jede einzelne der 510 Seiten zu einem Hochgenuss.

          © Renie

            Cover des Buches Zechengeister (ISBN: 9783941864184)

            Bewertung zu "Zechengeister" von Romy Wolf

            Zechengeister
            renievor 8 Jahren
            Fantasy unter Tage!

            Romy Wolf hat mit „Zechengeister“ einen atmosphärischen Fantasyroman geschrieben, der den Leser von Anfang bis zum Ende in seinen Bann zieht. Allein schon die Vorstellung, sich Tausende von Metern unter der Erde aufzuhalten, in nahezu völliger Dunkelheit und inmitten eines riesigen Stollenlabyrinths, lassen den Adrenalinspiegel drastisch ansteigen. Die Fantasie läuft zur Höchstform auf, und plötzlich ist der Gedanke an Wesen, die durch Bergwerksstollen geistern, gar nicht mehr so abwegig. 

            Worum geht es in diesem Roman?
            Micha Keller lebt mit Mutter und Schwester Neni in einer Siedlung der Zeche Alba irgendwo im Ruhrgebiet. Er ist Bergarbeiter und fährt jeden Tag in den Stollen, um seine Familie ernähren zu können. Seine jüngere Schwester Neni ist eine Geisterseherin. Sie ist in der Lage, mit den Geistern der Verstorbenen zu kommunizieren. Anfangs als Absonderlichkeit abgetan, stellt Micha irgendwann fest, wie wertvoll Neni’s einzigartige Fähigkeit ist. Denn die Familien der Zeche Alba werden von einer merkwürdigen Krankheit epidemischen Ausmaßes heimgesucht. Die Narrenkrankheit geht um. Menschen erwachen nicht mehr aus dem Schlaf und vegitieren in einer Art Wachkoma vor sich hin. Die Ursache für diese Krankheit ist irgendwo in den Tiefen des Bergwerkes zu finden. Als auch ihre Mutter in den todesähnlichen Schlaf fällt, begeben sich Micha und Neni unter Tage, um den Kampf gegen die Verursacher dieser schrecklichen Seuche aufzunehmen. Unterstützung finden sie dabei in Falkor und Jaris, zwei merkwürdige Wesen, die seit Jahrhunderten unter der Erde leben.

            „Der Lärm, der die Gebäude der Zeche und der angrenzenden Kokerei zu jeder Tageszeit umgab, bedeutete Leben. Er bedeutete, dass Männer in den Stollen herab fuhren, hundert, tausend Meter und mehr, und am Ende der Schicht schwarz vor Kohlenstaub wohlbehalten wiederkehrten. Dass die Männer Lohn mitbrachten. Geld, von dem Brot gekauft und die Miete bezahlt werden konnte. Er bedeutete, dem Tod wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es mochte nicht viel von dem Lärm nach außen dringen. aber im Innern tobte die Zeche.“ (S. 7)

            Schauplatz ist die Zeche Alba im Ruhrgebiet zum Ende des 19. Jahrhunderts - eine fiktive Zeche, die es aber genauso gegeben haben könnte. Der Bergbau boomt. Gastarbeiter werden ins Land geholt. Dabei handelt es sich vorwiegend um Familien aus Polen und Italien. Anfeindungen zwischen den Bevölkerungsgruppen sind an der Tagesordnung. Toleranz ist ein Fremdwort. Den deutschen Bergarbeiterfamilien sind die „Polacken“ und „Itaker“ ein Dorn im Auge. Nicht nur aufgrund des Sprachproblems leben die Bevölkerungsgruppen unter sich in ihren eigenen Vierteln. Angriffe gegenüber Polen und Italienern sind an der Tagesordnung. Mit Ausbruch der Narrenkrankheit sind die deutschen Kumpel schnell bei der Hand, den polnischen und italienischen Familien die Schuld zu geben, auch wenn diese genauso viele Opfer zu beklagen haben. Denn zumindest der Narrenkrankheit ist die Nationalität der Menschen egal.

            „Die Wolken bluteten und der Himmel war erleuchtet, nicht völlig schwarz, wie er hätte sein sollen. Lange Schornsteine bohrten sich wie Lanzen in den Bauch des Gestirns, einer nach dem anderen. Rauch zeichnete sich dämonisch vor dem brennenden Himmel ab. … Und dann waren da die endlosen Reihen von niedrigen Backsteinhäusern, in denen die Menschen zu Tausenden eingepfercht warteten wie auf dem Weg zur Unterwelt. Kleine Zellen, die Seelen einsperrten und ihnen all die Hoffnung nahmen. Straßenzüge, ein Labyrinth gebaut aus Elend und Trostlosigkeit.“ (S. 92)

            Man merkt diesem Roman an, dass die Autorin Ruhrgebietlerin durch und durch ist. Bei der Schilderung des Bergarbeiter-Daseins ist sie sehr authentisch. Dazu trägt ihr sehr bildhafter Sprachstil bei, der das Zechenleben einzigartig in Szene setzt. Der Leser hört den Höllenlärm, er spürt das Vibrieren der Dampfmaschinen, er sieht die kohlestaubverkrusteten Gesichter der Kumpel vor sich. Lärm, Dreck und Schweiß – die ständigen Begleiter der Bergarbeiter.
            Gerade die Szenerie in den Bergwerksstollen ist sehr eindringlich beschrieben. Unbehagen macht sich breit, wenn der Lärm plötzlich durch Momente der Stille abgelöst wird. Stille, die einen fast erdrückt und bewusst macht, wie tief man unter der Erde ist, wieviel Gestein über einem lastet und wie entsetzlich weit das Tageslicht entfernt ist. Gruselig! Das ist nichts für Leser mit Platzangst!
            Man hat fast den Eindruck, dass sich Stille und Dunkelheit unter Tage auf den Schreibstil der Autorin auswirken. Romy Wolf konzentriert sich bei der Beschreibung dieser Szenerie auf Geräusche und Gerüche, Schatten und Bewegungen, die aus dem Augenwinkel wahrgenommen werden. Man sieht nicht weiter als die Grubenlampe leuchtet. Als Leser erahnt man in diesen Momenten eher das Geschehen als dass man es vor seinem geistigen Auge sehen kann. Das ist sehr geschickt von der Autorin gemacht, da der Leser dieses bedrohliche Gefühl, mit dem die Protagonisten in diesen Momenten zu kämpfen haben, am eigenen Leib erfährt, was diesen Roman gerade in den Szenen unter Tage extrem spannend machen.

            Fazit:
            Ich lebe im Ruhrgebiet und finde daher die Idee, eine Zeche zum Schauplatz eines Fantasyromanes zu machen, einfach nur großartig. Romy Wolf hat mich mit ihrer Darstellung des Bergarbeiterlebens des 19. Jahrhunderts überzeugt. Sie schafft es mit einer sehr bildhaften Sprache den Leser in eine schaurig-schöne Stimmung zu versetzen, die einen bis zum Ende nicht mehr loslässt. Freunde historischer Fantasy und Fans des Ruhrgebietes werden diesen Roman lieben.

            © Renie

              Cover des Buches Freedom Bar (ISBN: 9783952452349)

              Bewertung zu "Freedom Bar" von David Bielmann

              Freedom Bar
              renievor 8 Jahren
              Eine Liebeserklärung an das Leben

              Freiburg - ein kleines Städtchen in der Schweiz. In der Lausannegasse Nr. 43 steht ein Haus, das im Keller die Freedom Bar beherbergt. Im Erdgeschoss gibt es einen Buchladen. In weiteren Stockwerken befinden sich eine Anwaltskanzlei sowie eine Mietwohnung. Dieses Haus ist der Dreh- und Angelpunkt für die Geschichte um die 3 Protagonisten
              Heinrich alias Henry Schweizer - Betreiber der Freedom Bar.
              Johann Grab - Buchhändler, der sein Glück mehr schlecht als recht mit der Buchhandlung "Wissensarchiv" versucht.
              Bert Buch - erfolgloser Musiker und Songschreiber, der die Mietwohnung in der Lausannegasse Nr. 43 von seiner kürzlich verstorbenen Oma übernommen hat.
              Obwohl diese 3 Charaktere in unmittelbarer Nähe zueinander wohnen, haben sie anfangs herzlich wenig miteinander zu tun. Erst im Verlauf der Geschichte kreuzen sich ihre Lebenswege immer häufiger und ihre Schicksale werden miteinander verwoben.
              Alle 3 haben eines gemeinsam: Sie sind tragisch-komische Helden. Das Leben hat es bis jetzt weder gut noch schlecht mit ihnen gemeint. Doch wie so oft ist man selten zufrieden mit dem, was man hat. So sehnen sich die Drei nach einem anderen und besseren Leben.

              "Es gab Leute, die stets das Ausgefallene suchten, Leute, die befürchteten, zum Durchschnitt zu gehören, der Alltagsmonotonie anheimzufallen, und dann mit verrückten Aktionen irgendetwas tun wollten, und sei es vielleicht nur, um sich die Macht über sein eigenes Leben zu beweisen: Kündigungen aus dem Bauch heraus, plötzliche Reisen ohne Rückflugticket, ein neues außergewöhnliches Hobby, neue etwas spezielle Freunde, Fallschirm- und Seitensprünge." (S. 83)

              Henry träumt von einem Leben in Amerika. Amerika ist für ihn das Sinnbild für grenzenlose Freiheit und Unabhängigkeit. Eine erste Chance nach Amerika zu gehen, hat er vor einigen Jahren bereits verpasst. Jetzt versucht er seinen Traum in den 4 Wänden seiner Freedom Bar zu leben.

              Johann betreibt seit Ewigkeiten die Buchhandlung "Wissensarchiv". Da er eher Idealist als Geschäftsmann ist, hält er sich mit seiner Buchhandlung mehr schlecht als recht über Wasser. Er hat den Traum, seine Buchhandlung zu einer Quelle des Wissens zu machen, sozusagen "Google" in gedruckter Form. Aber man ahnt es, in Zeiten von Internet und Google, ist an die Umsetzung seines Traumes nicht zu denken. So sitzt er tagtäglich in seiner Buchhandlung und es scheint, dass er sich mit seiner Erfolglosigkeit abgefunden hat. Auch im Privaten läuft es nicht so, wie er gerne hätte. Johann ist zwar glücklich mit Maria verheiratet. Doch die Ehe blieb bisher kinderlos. An Maria liegt es nicht. So scheint Johann an allen Fronten zu versagen: erfolglos im Beruf und Probleme, seinen Mann zu stehen. Es scheint, als ob er sich mit seiner Loser-Rolle abgefunden hat. Nur eines ist ihm wichtig: Maria glücklich zu machen.

              Nachdem Berts Oma gestorben ist, übernimmt er ihre Wohnung. Er macht gerade eine Findungsphase durch. Antriebslos, ohne Job, ist er mit der Frage beschäftigt, welche Richtung er auf seinem Lebensweg nehmen soll. Sein Herz schlägt für die Musik. Er träumt von einer Karriere als Rockstar und Songwriter. Dabei besitzt er leider nur wenig Talent. Die Versuche, seine Musik auf der Straße oder bei YouTube zu performen, bringen leider nicht die gewünschte Reaktion seiner Zuhörerschaft. Und dann verliebt sich Bert auch noch - natürlich unglücklich! Ja, auch Bert ist vom Leben gebeutelt: kein Job, kein Talent, keine Perspektive, unglücklich verliebt. Tragisch!

              "'Jeder braucht doch ein bisschen Hoffnung, ein paar Träume. Auch wenn sie dann nicht in Erfüllung gehen, es reicht doch schon, wenn man sie nur im Kopf hat. Wenn man sie nicht vergisst. Sonst geht man ja kaputt, verstehst du?'" (S. 184)

              David Bielmann zeichnet seine Protagonisten als Verlierertypen, die naiv und träumerisch durch das Leben gehen. Dabei hat man permanent das Gefühl, dass er seine Protagonisten mit einem Augenzwinkern beschreibt. Man schließt sie sehr schnell ins Herz. Die Drei haben ihre Träume und Sehnsüchte von einem anderen und besseren Leben. Und davon weichen sie in keiner Sekunde ab. Man wünscht ihnen, dass es ihnen doch endlich gelingen möge, sich ihre Träume zu erfüllen.

              Die Geschichte wird aus wechselnden Perspektiven erzählt. Anfangs fragt man sich, welche Verbindung die 3 Charaktere miteinander haben - abgesehen von der räumlichen Nähe. Aber David Bielmann schafft es mit viel Sprachwitz und sehr fantasievoll Spuren auszulegen, die dem Leser den Weg zum weiteren Handlungsverlauf weisen. Man lässt sich dabei gern von ihm führen. Denn durch seinen lebhaften Sprachstil und der Tragik-Komik gerät der Leser in einen mitreißenden Lesefluss. Man will dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen.

              "... Unter den sieben Milliarden Menschen, die derzeit auf der Welt lebten, gab es zu jeder Sekunde Tausende, die gerade enttäuscht worden waren, sich eine Träne von der Wange wischten und Trost beim Mond suchten. ... Was immer man auch tat, was immer auch geschah, man war nicht allein, und vielleicht, dachte er weiter, während er in den Sternenhimmel sah, war die Sehnsucht sogar das einzige Gefühl, das man auf sämtlichen Planeten kannte." (S. 147)

              Fazit:
              " ... eine wunderbare Liebeserklärung an das Leben." So steht es im Klappentext und charakterisiert diesen Roman punktgenau. Man muss nicht in die Ferne schweifen, um eine tolle Geschichte zu erzählen. Denn die tollsten Geschichten schreibt das Leben. Es bedarf nur weniger Zutaten: Menschen und ihre Träume. Wenn diese Geschichte dann noch in einer beeindruckenden Sprache erzählt wird, die nur so vor Sprachwitz sprudelt, stellt man schnell fest, dass man ein Buch erwischt hat, an das man sich immer wieder gern erinnern wird. "Freedom Bar" ist solch ein Buch und macht unweigerlich Lust auf mehr aus der Feder von David Bielmann.

              © Renie

              Über mich

              Lieblingsgenres

              Krimis und Thriller, Literatur, Unterhaltung

              Mitgliedschaft

              Freund*innen

              Was ist LovelyBooks?

              Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

              Mehr Infos

              Hol dir mehr von LovelyBooks