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Cover des Buches SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens (ISBN: B00BSXITEC)

Bewertung zu "SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens" von Hilmar Schmundt

SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens
schmundtvor 10 Jahren
Cover des Buches Behind the Beautiful Forevers (ISBN: 9781410446763)

Bewertung zu "Behind the Beautiful Forevers" von Katherine Boo

Behind the Beautiful Forevers
schmundtvor 10 Jahren
Kurzmeinung: Großartig
Cover des Buches Der bleiche König (ISBN: 9783462045567)

Bewertung zu "Der bleiche König" von David Foster Wallace

Der bleiche König
schmundtvor 10 Jahren
Der bleiche König als Essay

§ 9

VORWORT DES AUTORS Autor hier. Also der reale Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative Instanz. Zugegeben, manchmal taucht in Der bleiche König eine solche Instanz auf, aber dabei handelt es sich fast immer um ein konventionelles Pro-forma-Konstrukt, eine juristische Person…

(….)

Aber jetzt möchte ich, dass Sie diesen Haftungsausschluss lesen und sich klarmachen, dass der besagte Anfangssatz »Die in diesem Buch beschriebenen Figuren und Ereignisse …« auch für dieses Vorwort des Autors gilt. Anders gesagt, dieses Vorwort wird vom Haftungsausschluss als ebenfalls fiktiv definiert,…

(….)

Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich solche oberschlauen selbstreferenziellen Paradoxa ebenfalls verdrießlich finde – oder jedenfalls jetzt, wo ich über dreißig bin – und dass dieses Buch mitnichten ein pfiffiger, metafiktiver Tittenkneifer ist.

(….)

Denn wie jedermann bewusst oder unbewusst weiß, besteht zwischen dem Autor eines Buchs und seinem Leser immer eine Art unausgesprochener Vertrag, und die Klauseln dieses Vertrags hängen von bestimmten Codes und Gesten ab, die der Autor zum Einsatz bringt, um dem Leser zu signalisieren, mit was für einem Buch er es zu tun hat, ob es also erfunden…

(….)

Hinzu kommt die autobiografische Tatsache, dass ich damals wie so viele andere unzufriedene junge Spacken davon träumte, ein »Künstler« zu werden, also jemand, der als Erwachsener etwas Originelles und Kreatives tun und keinem öden Drohnenjob nachgehen würde. Mein Traum war, dermaleinst ein unsterblicher Großschriftsteller à la Gaddis, Anderson,..

(….)

Im Grunde genommen war ich der Ansicht, dass mein Unternehmen zwar Elemente enthielt, die bei Lichte besehen als Anstiftung oder Beihilfe zur Entscheidung eines Klienten verstanden werden konnten, gegen den universitären Ehrenkodex zu verstoßen, dass diese Entscheidung aber ebenso wie ihre praktische und moralische Rechtfertigung aufseiten des Klienten lag. Ich übernahm gegen Honorar gewisse freiberufliche Schreibaufgaben; warum bestimmte Studenten bestimmte Essays von bestimmter Länge zu bestimmten Themen brauchten und was sie mit ihnen anfingen, nachdem ich sie ihnen ausgehändigt hatte, das ging mich nichts an. Der Hinweis möge genügen, dass diese Sicht vom Rechtsausschuss der Universität Ende 1984 nicht geteilt wurde.

(….)

Bedenken Sie, dass der durchschnittliche Vorschuss des Autors einer Autobiografie im Jahr 2003 fast zweieinhalbmal so hoch war wie der eines Belletristikautors. Die schlichte Wahrheit ist, dass ich wie auch viele andere Amerikaner in den Konjunkturschwankungen der letzten Jahre Rückschläge erlitten habe, und diese Rückschläge erfolgten genau zu der Zeit, in der meine finanziellen Verpflichtungen durch mein Alter und die höheren Verantwortlichkeiten anstiegenAnmerkung; derweil haben alle möglichen US-amerikanischen Schriftsteller – die ich teilweise persönlich kenne, darunter einen, dem ich tatsächlich noch im Frühjahr 2001 Geld für seine schieren Lebensunterhaltskosten leihen musste – in letzter Zeit mit Autobiografien große Knüller gelandetAnmerkung, und ich wäre ein verlogener Heuchler, wenn ich behaupten wollte, ich wäre nicht genauso orientiert auf und empfänglich für die Kräfte des Marktes wie der Rest der Welt.

(….)

1985 war ein Krisenjahr für das amerikanische Steuerwesen und für die Durchsetzung des US-amerikanischen Steuerrechts durch den Internal Revenue Service. In jenem Jahr kam es, kurz gesagt, nicht nur zu grundlegenden Veränderungen im operativen Mandat des Service, sondern auch zum Höhepunkt eines vertrackten, innerhalb des Service ausgefochtenen Kampfs zwischen Fürsprechern und Gegnern eines zunehmend automatisierten und computerisierten Steuersystems. Aus komplexen administrativen Gründen wurde das Regionalprüfzentrum Mittlerer Westen einer der Schauplätze, an denen diese Schlacht in ihrer entscheidenden Phase ausgetragen wurde. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Wie oben schon in einer Fußnote angedeutet wurde, verbarg sich in diesem operativen Gefecht menschlicher vs. digitaler Vollstreckung des Steuerrechts ein tieferer Konflikt

(….)

Damals wie heute wussten bzw. wissen nur sehr wenige Amerikaner von all dem. Genauso unbekannt sind die tief greifenden Veränderungen, die der Service Mitte der 1980er durchmachte, Veränderungen, die unmittelbare Auswirkungen darauf haben, wie die steuerlichen Verpflichtungen amerikanischer Bürger heute festgelegt und durchgesetzt werden. Der Grund für diese Unkenntnis der Öffentlichkeit ist keine Geheimniskrämerei. Der IRS kann zwar auf eine gut dokumentierte Geschichte der Paranoia und Öffentlichkeitsscheu zurückblickenAnmerkung, aber diese Angelegenheit hatte nichts mit Geheimniskrämerei zu tun. Der wahre Grund, warum US-Bürger sich dieser Konflikte, Veränderungen und Positionen weder bewusst waren noch sind, ist darin zu suchen, dass das gesamte Thema der Steuerpolitik und -verwaltung so stumpfsinnig ist. Massiv und spektakulär stumpfsinnig. Die Bedeutung dieser Tatsache kann man gar nicht hoch genug ansetzen. Versetzen Sie sich mal in die Perspektive des Service, und überlegen Sie, welche Vorteile eine stumpfsinnige, arkane und todlangweilige Komplexität hat.

Der IRS gehörte zu den ersten Bundesbehörden, die die Erfahrung machten, dass solche Eigenschaften einen gegen Proteste der Öffentlichkeit und Widerstand der Politik abschirmen und dass abstruser Stumpfsinn ein weit effizienterer Schutzschild als Geheimniskrämerei ist. Der große Nachteil der Letzteren ist nämlich, dass sie interessant ist. Die Leute werden von Geheimnissen angezogen; sie können ihnen einfach nicht widerstehen. Vergessen Sie nicht, dass Watergate in dem Zeitraum, um den es hier geht, erst zehn Jahre her war. Hätte der Service versucht, seine Konflikte und inneren Erschütterungen zu verschweigen oder zu vertuschen, hätten geschäftstüchtige Journalisten eine Enthüllungsgeschichte schreiben können, die eine Menge Aufmerksamkeit, Interesse und skandalösen Rummel nach sich gezogen hätte. Dazu kam es aber nicht.

(….)

Eigentlich interessant ist für mich zumindest im RückblickAnmerkung die Frage, warum sich Stumpfsinn als eine so unüberwindliche Hürde für die Aufmerksamkeit erweist. Warum schrecken wir vor dem Stumpfsinn zurück? Vielleicht liegt es daran, dass Stumpfes an und für sich schmerzhaft ist; vielleicht ist hier auch der wahre Kern von Wendungen wie »todlangweilig« oder »unerträglich öde« zu finden. Es könnte aber mehr dahinterstecken. Vielleicht assoziieren wir Stumpfsinn mit psychischem Schmerz, weil Stumpfes oder Schleierhaftes nicht genug Anreiz bietet, um uns von einem anderen, tieferen Schmerz abzulenken, der uns immer begleitet, und sei es nur auf unterschwellige Weise, auf dessen geflissentliches Nichtzurkenntnisnehmen die meisten von unsAnmerkung praktisch all ihre Zeit und Energie verwenden oder das wir zumindest nicht allzu genau wahrnehmen wollen.

(….)

es muss doch etwas dahinterstecken, dass heute nicht mehr nur Muzak an stumpfsinnigen und öden Orten allgegenwärtig ist, sondern dass es jetzt Fernsehen in Wartezimmern, an Supermarktkassen, Flugsteigen und auf Rücksitzen von SUVs gibt. Walkmen, iPods, BlackBerries, Handys, die man am Kopf befestigt. Die Angst vor der Stille, von der uns nichts ablenkt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch irgendjemand ernsthaft glaubt, in unserer »Informationsgesellschaft« ginge es um Informationen.

(….)

….dass der Stumpfsinn für lebende Menschen kein Thema ist. Der Teil des Lebens, der stumpfsinnig ist und sein muss. Warum dieses Beschweigen? Vielleicht liegt es daran, dass das Thema an und für sich stumpfsinnig ist … nur beißt sich das Argument dann in den Schwanz, und das ist ermüdend und verdrießlich. Meiner Meinung nach steckt mehr dahinter … weitaus mehr, direkt vor unseren Augen, aber seiner Größe wegen verborgen.

* * *

Zunächst ein Geständnis, ein kleines, schmutziges Geheimnis: Ich befürchte, David Foster Wallace gefällt mir als Essayist besser denn als Romanautor. Das bemerke ich beim Lesen von Kapitel 9. Hier stellt sich bei mir die euphorische Staunen ein, wie ich es immer wieder bei seinen Artikeln erlebe. Diese Mischung aus Beobachtung, Analyse und paradoxen Schlüssen, die die Welt nicht auf Formeln zusammenschrumpfen lassen, sondern die Alltagsbeobachtungen um etliche Dimensionen erweitern. Falls man “Der bleiche König” als Schlüsselroman lesen will, bietet Kapitel 9 zwei Schlüssel: Der Roman und seine Form ist selbst der Zentralmetapher unterworfen: Dem Rechts- und Steuersystem der USA. Und zweitens: Die Langeweile als Geheimwissen, Verschwörung zweiter Ordnung. Die Langeweile als Strategie, wie das Steuersystem sich der Beobachtung und Analyse entzieht. Nach dem Lesen von Kapitel 8 erscheint mir das Vorangegange eher als Einstimmung. Nun geht es ans Eingemachte.

Spoiler Alert: Der David Wallace in Kapitel 9 ist eine teilweise fiktive Figur. Er deutet das mit dem selbstreferenziellen Paradox an, dass der Disclaimer sich auch auf alle Versicherungen der autobiografischen Authentizität beziehen. Aber Wallace hat nie für die Steuerbehörde gearbeitet, wenn ich das richtig verstanden habe.

Mit diesem Kapitel sehe ich plötzlich die Romanfiguren, die bislang vorgestellt wurden, in ganz anderem Licht: Als Beispielstories zur Ausschmückung und Illustration eines der spannendsten Themen des Romans: Das Steuersystem als ausgelagertes Gewissen einer postreligiösen Gesellschaft, die die Moral wie ein Profit-Center auslagert an eine Behörde. Und diesen Sachverhalt geschickt kaschiert durch eine der wirkungsvollsten PR-Strategien der Neuzeit: Nicht Storytelling, Drama, Charisma als Propagandamethode. Sondern das genaue Gegenteil: schmerzhaft langweilige Details zum Kaschieren eines zentralen Geheimnisses.

Mit Kapitel 9 vollzieht meine Lektüre von “Der bleiche König” eine 180-Grad-Drehung: Ich sehe plötzlich den Roman als eine Ansammlung von novellenhaften Fußnoten zu einem großartigen Essay.

Kleine Pointe: Selbst das von mir als ärgerlich unfertig wahrgenommene Kapitel 8 kann ich unter diesem Blickwinkel fast als stimmig lesen: Die formalen Schwächen, die ich in den Wortdoppelungen und stilistischen Verrenkungen (biblische Sprache, altmodische Inversionen) lassen sich aus der Perspektive von Kapitel 8 auch lesen als Beispiele für die Ghostwriter-Aufträge, die der Romanautor “David Wallace” angeblich einst im College für seine reichen, faulen Mitstudenten schrieb? Stay tuned.

http://derbleichekoenig.de/der-bleiche-koenig-als-essay/

Cover des Buches Mekkas der Moderne (ISBN: 9783412205294)

Bewertung zu "Mekkas der Moderne" von Hildegard Westphal

Mekkas der Moderne
schmundtvor 13 Jahren
Kurzmeinung: Ausgezeichnet beim Wettbewerb „Wissenschaftsbuch des Jahres“ von „bild der wissenschaft“. Leseprobe als pdf unter www.mekkasdermoderne.de *...
Rezension zu "Mekkas der Moderne" von Hilmar Schmundt

Ausgezeichnet beim Wettbewerb „Wissenschaftsbuch des Jahres“ von „bild der wissenschaft“. Leseprobe als pdf unter www.mekkasdermoderne.de

* * *

„Mekkas der Moderne“ in Leonardo: „Wahnsinnig witzige und spannende Geschichten“

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Technology Review: „stets so packend beschrieben, dass man mit dem Schmökern nicht aufhören will.“

* * *
Claudia Reinert in EPOC: Auf keiner Stätte ruhn: Ein „Wo ist Wo?“ der Wissenschaftsgeschichte

An diesen Orten kam es zu Sternstunden der Wissenschaft: Mit 76 Stätten weltweit stellt »Mekkas der Moderne« die Plätze vor, die Forscher verschiedener Disziplinen mit Ehrfurcht betreten.

Die Essays erklären, warum ein Ort für einen Wissenschaftszweig so bedeutsam ist und welche Querverbindungen zu anderen Orten und Gelehrten bestehen. Einige sind Klassiker: Darwins Galapagos-Inseln, Schliemanns Troja und selbstverständlich das Pantheon in Paris mit dem foucaultschen Pendel.

Doch auch der Belesenste findet Überraschungen: Etwa San Millán de la Cogolla — den Ort, an dem die ersten Zeugnisse spanischer Sprache gefunden wurden. Ein Mönch des 11. Jahrhunderts hatte dort spanische Randnotizen zu lateinischen Heiligenviten verfasst.

Der Aufbau des Bands trägt der im Titel erwähnten Moderne Rechnung: Der Leser kann sich entweder von vorne bis hinten durcharbeiten, sich über eine Weltkarte selbst den Ort der nächsten »Landung« aussuchen — oder aber einer vorgeschlagenen Route folgen. Es scheint, als hätte Julio Cortázars nach demselben Prinzip verfasster Roman »Rayuela« Pate gestanden.

Die Autorenliste schmücken einige berühmte Schreibende, etwa Ulrich Ladurner und Ilija Trojanow. Aber auch die Texte unbekannterer Autoren bestechen. Im Unterschied zu vielen typischen Aufsatzbänden trübt die stilistische Vielfalt dieses Buchs den Lesegenuss nicht. im Gegenteil, es lebt davon. Den drei Herausgebern gelang eine so gute Auswahl, dass fast alle der drei- bis achtseitigen Essays ein gleichermaßen hohes stilistisches und inhaltliches Niveau haben. Ein Minus: Keines der Bilder trägt eine Bildunterschrift, obwohl es an vielen Stellen nötig wäre.

Die Liste der Gedächtnisorte der Moderne kann nicht vollständig sein, viel zu sehr hängt sie vom jeweiligen Standpunkt ab, Das wissen auch die Herausgeber. Doch ihre Bestandsaufnahme lohnt sich: Was unsere Urenkel wohl in 100 Jahren über sie denken werden?

Claudia Reinert ist Kulturwssenschaftlerin und lebt in Meßkirch.

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Bibliotheksnachrichten, Österreich: „So reist man gleichsam durch einen faszinierenden Kosmos, der insgesamt ein rundes und stimmiges Bild der Wissensgesellschaft und damit der Geistesgeschichte liefert.(…) Breite Empfehlung!“

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Anne Hardy in Forschung Frankfurt: „Spätestens an diesem Punkt fragt man sich: Wo wollen wir hin?

Ein lesenswerter »Reiseführer« zu den Mekkas der Moderne

Was sind die Pilgerstätten der »Wissenschaft?« – Die Antworten auf diese Frage müssen notwendigerweise verschieden ausfallen, je nachdem, ob man einen Mathematiker, einen Germanisten oder einen Flugzeugingenieur fragt. Sie könnten lauten: Oberwolfach, das Goethehaus in Weimar oder Cape Canaveral, Florida. Weitere Antworten kommen hinzu, wenn – wie im vorliegenden Buch – nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Autoren und Journalisten zu Wort kommen.

Zu den bedeutenden historischen und geografischen Orten, etwa der Bibliothek in Alexandria oder den Galapagos-Inseln, gesellen sich dann auch solche, die in erster Linie die gesellschaftliche Inszenierung von Wissenschaft im Blick haben: das Pantheon in Paris, das Beratungszimmer des Nobelkomitees in Stockholm oder das Redaktionsbüro der Zeitschrift »Nature«. Virtuelle Orte (Google, Second Life) werden ebenso genannt wie Möbelstücke (Freuds Couch). Genauso interessant wie die Nennung der Orte ist die Reflexion darüber, warum sie für die Wissenschaft wichtig sind oder waren.

Oft haben sie eine besondere emotionale Qualität und geben gerade deshalb weitreichende Einblicke in den Wissenschaftsbetrieb. Damit ist nicht nur die Arbeit im Labor berühmter Forschungseinrichtungen gemeint, sondern auch die Bedeutung und Funktion von Wissenschaft in der Gesellschaft. Da ist beispielsweise das heute geschlossene „Pantheon der Gehirne“ in Moskau, in dem einst das Gehirn Stalins und andere sogenannte russische Elitegehirne erforscht wurden, um die Überlegenheit des Sozialismus in einer Verbindung von Hagiografie und Biopolitik zu demonstrieren.

Andere Orte spiegeln die Sehnsüchte von Wissenschaftlern; zum Beispiel Margret Meads Traum vom glücklichen Wilden auf Samoa. Wie heute bekannt ist, spielte ihre Überzeugung, dass der Mensch vor allem durch sein soziales Umfeld geprägt werde, eine entscheidende Rolle beim Design und der Interpretation ihrer Feldforschung. in ihre 1928 veröffentlichten Studie „Coming of Age in Samoa“ schilderte sie die Pubertät der jungen Mädchen als eine Zeit, in der sie unverkrampft erste sexuelle Erfahrungen sammeln. Das Buch wurde zum Bestseller und fehlte in keiner WG der 1968er Jahre. Zweifel und Kritik der Samoaner wurden lange ignoriert.

Die Besteigung des Matterhorns als Sinnbild

Ein Sinnbild für die Hybris des Menschen, der immer wieder meint, die Naturgewalten durch seine Erfindungsgabe bezwingen zu können, ist der Bericht des Spiegel-Autors Hilmar Schmundt. In einer Mischung aus Erlebnisbericht und historischen Rückblicken reflektiert er die Besteigung des Matterhorns. Dem Gefühl von Macht und Überlegenheit steht in anderen Berichten die Erfahrung von Ohnmacht gegenüber: Der Autor David Wagner erlebt sich in der Berliner Charité als „Patient und Forschungsobjekt zugleich“. Die Schwester nimmt seinen Arm beim Pulsfühlen, »als wäre es ihrer, sie hat alle Zugriffsrechte«. Übertroffen wird dieses traurige Szenario des modernen Theatrum anatomicum noch durch die Tiefkühltruhen der Firma Phoenix in Arizona, in denen »Kryoniker« ihre Leichname konservieren lassen, bis die Medizin der Zukunft eine Therapie für ihre Leiden gefunden hat.

Spätestens an diesem Punkt fragt man sich: Wo wollen wir hin? Denken Wissenschaftler darüber nach, wenn sie sich in den modernen Wissensschmieden für neue Ideen begeistern? Haben sie dafür noch Zeit, wenn sie an den Universitäten von administrativer Tätigkeit und einem Übermaß an Arbeit erstickt werden? Welche Rolle spielen dabei Wissenschaftsjournalisten, die einen wesentlichen Teil der insgesamt 76 Autoren des Buches stellen?

Unweigerlich kommt einem ein anderer in dem Buch geschilderter Ort in den Sinn: das Urwaldhospital Albert Schweitzers in Gabun. Der Journalist Felix Grigat interpretiert Schweitzers Rückzug dorthin als einen radikalen Bruch mit der Hybris einer Wissensgesellschaft, »die Moral dereguliert und meint, ethisches Denken und Handeln an Kommissionen, Organisationen oder ‘Experten’, delegieren zu können«. Vielleicht liegt die Lösung des Problems in ähnlichen Ansätzen, wie sie auch am Anfang dieses Buches standen. Der Austausch zwischen Wissenschaftlern, Autoren und Journalisten begann als eine Art Salonspiel, das über E-Mail, Skype und Internetforen geführt wurde, »Je mehr Argumente wir gegen reale Pilgerorte der Moderne auflisteten, desto mehr Erlebnisse fielen uns ein, die nicht durch Datenleitungen passen.« Gerade diese Erlebnisse, die nicht durch Datenleitungen passen, ziehen den Leser in das Buch hinein, lassen ihm keine Ruhe und regen an, auch über das eigene Verhältnis zur Wissenschaft nachzudenken. Dazu lädt auch die Webseite zum Buch ein: vvww.mekkasdermoderne.de/

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Reiseführer zu Orten der globalen Wissenschaft zu lesen – sei es über Querverweise im Text, thematisch zusammengestellte Routen, oder die Weltkarte im Vorsatzpapier, auf der die Orte mit den zugehörigen Kapitelnummern markiert sind. Einer der wichtigsten Orte für den modernen Menschen ist am Schluss des Buches genannt: Der geografisch nicht genau definierbare „Unerreichbarkeitspol der Erde“, an dem kein Mobiltelefon und kein Internet funktioniert und man noch das Gefühl hat, »sein Leben im Griff zu haben, einhalten zu können«.

Dr. Anne Hardy, Forschung Frankfurt

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Barbara Abrell in Max Planck Forschung: „brillante Essays, außergewöhnliches Konzept und optisch schöne Aufmachung mit Sepia-Fotografien“

Die Klagemauer in Jerusalem, die Kaaba in Mekka, der Berg Kailash in Tibet oder das Petrusgrab im Vatikan – jährlich pilgern Gläubige zu den Heiligtümern ihrer Religion. Doch gibt es säkulare Pilgerstätten der Wissenschaft und Forschung, die ähnlichen Kultstatus genießen? Mitglieder der Jungen Akademie der Wissenschaft in Berlin haben sich per E-Mail, Skype und über ein Online-Forum auf Spurensuche begeben und nach diesen besonderen Orten gefahndet. Entstanden sind dabei 76 Essays und ein sehr kurzweiliger „Reiseführer“, in dem Wissenschaftler, Autoren und Journalisten ihre „Mekkas der Moderne“ aus sehr persönlicher Perspektive beschreiben.

Ob das Forschungszentrum Cern, Galápagos, die Couch Sigmund Freuds oder die Apple-Garage: Der Leser kann sich quer durch das Buch auf eine anre- gende Entdeckungsreise begeben. Auf verschiedenen Routen, Schleichwegen und Lesepfaden stellt sich jeder – je nach Interesse – seine eigene Tour zusammen. Chronologisches Lesen ist wie im Internet nicht zwingend nötig. Verwei- se im Text verleiten immer wieder dazu, vertraute Wege zu verlassen und sich in fremde Fachbereiche hineinzuwagen.

Warum nicht einmal auf geologischen Wegen und „Philosophenpfaden um die Welt“ wandeln? Oder den „Olymp der Wissenschaftsgesellschaft“ erklimmen, wie die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm, die jedes Jahr die Nobelpreise vergibt? Oder Nature in der Cinan Street 4 in London?

Der Titel des Buchs wurde bewusst widersprüchlich gewählt. Er verdeutlicht die Schnittstellen, Parallelen und Grauzonen zwischen säkularer Wissenschaft und Religiosität. „Denn auch Wissenschaft hat für säkular denkende Menschen manchmal eine erhebende, beinahe spirituelle Dimension“, sagt Hilmar Schmundt, einer der drei Herausgeber. Warum das so ist, versucht dieses Buch zu ergründen.

Deshalb bleibt die Sammlung der „Pilgerstätten der Wissenschaftsgesellschaft“ vorläufig und diskussionswürdig. Jeder kann sich fragen: Was ist mein Mekka der Moderne – und warum? Welche Erlebnisse überhöhen eine Universität, ein Museum, ein Labor?

Auf der Internetseite www.mekkas- dermoderne.de, wo das Buch seinen Anfang nahm, diskutieren die Leser über diese Fragen und veröffentlichen ihre Ideen. Interessierte können sich Leseproben als PDF herunterladen oder das Buch im Schnelldurchlauf als Film ansehen.

Wegen der brillanten Essays, des außergewöhnlichen Konzepts und der optisch schönen Aufmachung mit Sepia-Fotografien wurde das Buch auch von der Zeitschrift bild der wissenschaft als „Wissenschaftsbuch 2010“ nominiert. Eine Auszeichnung, die es meiner Meinung nach zu Recht verdient.

(Barbara Abrell)

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Kultursendung „Scala“ im WDR5: „Ein Buch, bei dem man denkt: Wie schade, dass man nicht selber auf die Idee gekommen ist.“
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