In Abistan, Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Individuelles Denken ist abgeschafft: eine allgegenwärtige Elite unter Führung von Abi dem Entsandten steuert die Ideen und verhindert abweichendes Handeln.
Offiziell heißt es, die Bevölkerung lebt einvernehmlich und im guten Glauben.
Doch Ati, der Protagonist dieses Romans, der ausdrücklich anknüpft an Orwells Klassiker „1984“, hinterfragt die vorgegebenen Direktiven: Er macht sich auf die Suche nach einem Volk von Abtrünnigen, das in einem Ghetto lebt, ohne in der Religion Halt zu suchen ...
In seinem Roman entwirft Boualem Sansal ein Regime, das auf der religiösen Überhöhung einer Ideologie beruht und sich die Suche des Individuums nach persönlichem Glück auf erschreckende Weise zunutze macht: Das vom System auferlegte Streben nach spiritueller Erleuchtung diktiert das Leben eines jeden Bürgers und wird zum Motor der Gemeinschaft.
Sansals Vision ist zugleich faszinierend und beunruhigend – in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche mahnt sie zu gelebter Brüderlichkeit, toleranter Demokratie und einsichtiger Freiheit.
Abistan, das „Land der Gläubigen“, ist nach dem Propheten Abi genannt, dem Abgesandten Yölahs auf Erden. „Gkabul“ oder „Hinnahme“ heißt das Heilige Buch, verfasst in „abilang“, der einzigen Sprache, die in Abistan benutzt werden darf. „Die Unterwerfung ist der Glaube und der Glaube ist die Wahrheit“ lautet einer der 99 Schlüsselsätze, die Abistans Jugend lernen muss. Neun Mal am Tag muss gebetet werden. Ansonsten werden die Massen mit Pilgerfahrten und Exekutionen von Ungläubigen beschäftigt.
Sind es radikale Islamisten, die in Abistan herrschen? Das Werk spielt in ferner Zukunft, und Boualem Sansal behauptet im Vorwort, alles frei erfunden zu haben. Parallelen mit aktuellen Ereignissen tun sich dennoch auf: So gibt es in Abistan keine Vergangenheit, keine Geschichte. Der Leser denkt an die reale Zerstörung der Tempel in Palmyra...
Ati, Anfang Dreißig, ein kleiner Beamter, steht vor der Entlassung aus einem Sanatorium in den Bergen der Provinz Sîn, wo er seine Tuberkulose ausgeheilt hat. Sorgsam befolgt er alle Gebote und Riten, um nicht als Mitglied der Sekte der „makoufs“ verdächtigt zu werden, den Propagandisten des „Großen Unglaubens“. Und doch wachsen Zweifel in ihm: Vom Sanatorium führt eine verbotene Straße zur „Grenze“.
Wenn es eine Grenze gibt, muss es auch ein Jenseits der Grenze geben. Wie ist dies möglich, wenn nichts existiert als Abistan? Ein Jahr lang dauert Atis Rückkehr in die Hauptstadt Qodsabad, vorbei an endlosen Pilgerzügen: „Auf der Erde laufen wir, in den Himmel wollen wir, lasst fahren dahin das Leben“. Seine Zweifel am Gottesstaat wachsen...
Das Thema mag bekannt vorkommen: Die Islamisierung behandelte auch Michel Houellebecq in seinem Roman Unterwerfung. Der Roman war am am 7. Januar 2015 erschienen, dem Tag des Anschlags auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo.
Und es gibt eine zweite literarische Parallele: “2084” – das erinnert an “1984”, dem berühmten Roman von George Orwell. Der Sozialist beschrieb ebenfalls eine Diktatur – die des totalitären Überwachungsstaats, des “Big Brother”. Boualem Sansal sieht seinen Roman als dessen Fortsetzung. Sansal kommt aber nicht an das große Vorbild ran - zu kompliziert ist die Sprache zu Beginn. Sie wirkt besonders zum Einstieg starr, scheint nicht zu fließen.Vielleicht spielt der Autor aber auch auf die "novlang" an: Denn Sansal geht so weit, das Orwell’sche „Neusprech“, die „novlang“, wie sie in 2084 heißt, als Basis des abistanischen Systems auszugeben, eine Sprache, die den Willen und die Neugierde der Sprecher vernichte und zu Pflichterfüllung und Gehorsam anleite. Dann ist es genial! (Aber ich musste anfangs kämpfen...)
Dann ändert Sansal seinen Stil, spricht in Petahpern, zaubert Bilder in die Köpfe des Lesers - einfach nur gut. Boualem Sansal hat mit 2084 Das Ende der Welt einen großartigen Roman geschrieben, der im französischen Original – 2084 La fin du monde – bereits im Erscheinungsjahr 2015 mit dem Grand prix du roman de l'Académie française ausgezeichnet wurde; ein politisches Werk und ein Werk über die Schönheit der Sprache, das uns eindringlich warnt vor einem Ende der Geschichtlichkeit und einer Abilangisierung der Sprache - und schreibt damit ein Plädoyer für die Freiheit.