Grace ist 99 Jahre alt, als sie den Brief einer Drehbuchautorin erhält, in dem sie um ein Gespräch bittet. Ihr neuster Film handle von einer Zeit, die Grace nur zu gerne vergessen würde: das Leben in Riverton, als sich der Dichter R. S. Hunter erschoss. Sie war dabei. Die Begegnung bringt all die Erinnerungen in ihr wieder hoch, die sie zu verdrängen versucht hat. Und mit ihnen ein dunkles Geheimnis...
Es ist ja immer so eine Sache mit den Büchern im Urlaub. Nicht leicht, abzuschätzen, wie viele man mitnehmen soll. Als mich das Gefühl beschlich, dass mir meine Bücher nicht reichen könnten, hatte ich allerdings Glück: ich bekam ein Buch ausgeliehen, das wohl schon mehrere Leute in ihren Bann geschlagen hat. Die Vorteile, wenn man bei befreundeten Deutschen unterkommt.
Und auch mich hat es in seinen Bann geschlagen. Ich war regelrecht gefesselt, auch wenn ich mich die meiste Zeit gefragt habe, wieso die Dinge so passieren wie sie passieren. Das Buch ist voller Geheimnisse und voller Schicksalsschläge... unglaublich! Ich meine, ich mag es gerne, weil es das Leben viel besser widerspiegelt als diese Bücher, in denen alles sich rein zufällig in die richtigen Bahnen lenkt. So ist das Leben nicht. Trotzdem wünscht man sich am Ende ja doch irgendwie ein gutes Ende. Auch wenn uns klar ist, dass es nicht immer ein gutes Ende geben kann.
Das Buch hat kein gutes Ende. Wobei das Ende zwei Seiten hat: zum einen wird Grace endlich erlöst (es hat beinahe den Anschein, dass sie erst jemandem die Geschichte erzählen musste, um zuletzt ihren Frieden finden zu können) und zum anderen wird das Geheimnis und das schreckliche Missverständnis aufgelöst, das Grace das Leben schwer gemacht haben muss - zumindest hat es mich am Ende nicht gewundert, dass sie sich selbst die Schuld an der Tragödie gegeben hat. Aber das Ende ist echt. Das Ende zeigt eine Entscheidung, die ich keinem wünsche. Absolut niemandem! Es musste eine Entscheidung gehen, wie jede Situation in gewisser Weise eine Entscheidung braucht. Doch egal, wie die Entscheidung ausgefallen wäre - sie wäre verheerend gewesen.
Was mich an dem Buch besonders fasziniert hat, ist die Vielseitigkeit, die Morton nutzt, um die Situation zu schildern. Sie nutzt Teile des Drehbuchs, über das die Drehbuchautorin mit Grace sprechen möchte, aber auch Briefe, Zeitungsartikel aus unterschiedlichen Zeiten (Vergangenheit und Gegenwart) und Berichte. Und das alles neben der eigentlichen Geschichte, in der ich das Gefühl hatte, dass das Zeitgefühl der alten Grace immer mehr verschwimmt und sie immer häufiger in die Vergangenheit abdriftet, ja, die Konfrontation mit der Vergangenheit die mehr und mehr in Beschlag nimmt, bis eine etwas unüberlegte Frage sie beinahe das Leben kostet.
Es ist nichts Neues, dass die Vergangenheit für Menschen tatsächlich eine gewisse Gefahr bergen kann. Dass es besser ist, nicht darin rumzustochern. Dass manche Geheimnisse einen ein Leben lang verfolgen. Und vor allem... dass man noch so sehr versuchen kann, die Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen - irgendwann holt sie einen immer wieder ein. Ich habe Grace dafür bewundert, dass sie sich am Ende ihres Lebens doch noch dafür entscheiden konnte, ihre Geschichte und vor allem die Geschichte ihrer Mistress zu erzählen, ihre Geheimnisse ihrem Enkel zu offenbaren, ob er die Nachrichten nun erhält oder nicht. Dass sie zu besonderen Personen instinktiv eine gewisse Verbindung aufbauen konnte, ohne sich genau im Klaren zu sein, woher diese Vertrautheit kommt. Aber auch das Leben, das sie geführt hat, finde ich bewundernswert. Heute ist es vermutlich wahnsinnig schwer, das Leben des 20. Jahrhunderts in der Weise, wie Grace es erlebt hat, nachzuvollziehen. Sich immer zu ducken, Ja und Amen zu sagen, unsichtbar zu sein... Natürlich hat sie dieses Betragen von klein auf gepredigt bekommen, und konnte sich demnach leichter damit identifizieren und sich eingliedern. Ich kann auch ihre Mutter verstehen, dass sie der kleinen Grace das immer und überall auf die Nase gebunden hat, dass jeder seinen Platz hat und diesen auch wahren soll. Trotzdem ist es aus heutiger Sicht heftig. Auch wenn Grace ihr Leben Freude gemacht hat.
Die Schicksalsschläge, die das Buch beschreibt, sind teilweise grausam und doch ist es in gewisser Weise nachvollziehbar. Wie ich schon sagte: es sind Entscheidungen. Hopp oder Top. Und doch hatte ich letztlich den Eindruck, dass sich am Ende doch alles irgendwie löst. Ja, die beiden Schwestern haben nicht mehr viel erlebt, weil sie beide jung gestorben sind, aber Grace... Sie hat letztlich erstens etwas aus sich gemacht und ist ihrem Gefühl gefolgt, auch wenn sie vermutlich in erster Linie vor der Vergangenheit weggelaufen ist und zum anderen hat sich auch ihre missliche Lage der Liebe gegenüber irgendwie geglättet, auch wenn ich das gar nicht mehr erwartet hatte. Das war etwas, an dem ich mich wahrlich erfreut habe, auch wenn ich da gerne noch das ein oder andere Detail erfahren hätte. Aber das war letztlich ja nicht direkt Thema des Buches.
Das Buch ist voll von verschiedenen Themen, die alle eine gewisse Brisanz enthalten. Der Wandel der Zeit, besonders nach dem Ersten Weltkrieg. Die Differenzierung von Dienstbotenschaft und Adel. Die Loyalität unter Bediensteten. Die schleichende Emanzipation der Frauen. Die Schrecken des Krieges. Die Folgen unüberlegten Handelns. Und besonders die Problematik, die aus unausgesprochenen gemeinsamen Geheimnissen entstehen kann. Hätte Hannah Grace an jenem Tag im Dorf zu Wort kommen lassen, dann wäre das alles so nicht passiert. Und wenn sie je darüber gesprochen hätten... Im Grunde sind es immer Kleinigkeiten, die den größte Schaden anrichten können. Morton reiht diese Themen (und viele weitere) so gekonnt aneinander, dass ein herrliches Gesamtwerk entsteht. Sie gestaltet ihre Personen und Situationen so detailreich, dass ich mich hineinversetzt fühlte. Mir war zum Heulen zumute, als Grace von Hannahs Schwierigkeiten erzählt. Von ihrem Unglück. Aber auch von ihren eigenen Sorgen, besonders wenn es um ihren Enkel geht. Es wirkt alles so unglaublich... lebendig! So charakterstark und dramatisch. Die Inszenierung der Details ist so gekonnt, dass ich zwar immer wieder Gedanken hatte, was letztlich passiert sein könnte, nur um im nächsten Moment wieder über den Haufen geworfen zu werden. Es war ein Auf und Ab der Gefühle und manchmal hätte ich es wahrscheinlich wirklich gerne in die Ecke geworfen und geschmollt, nur um es wieder zurückzuholen und wieder darin zu versinken.
Ich glaube, jetzt hab ich mich genug ausgelassen, auch wenn ich diesmal nicht direkt auf die Einzelheiten und Feinheiten eingegangen bin, sondern mehr die inhaltliche Basis besprochen habe. Aber das ist, was mich daran so sehr gefesselt hat. Die inhaltliche Basis wurde durch den Stil, den Aufbau des Buches, die Ideen der Autorin nur bekräftigt und galten als Unterstützung dessen, was bei mir diese Begeisterung ausgelöst hat. Und somit ist Das geheime Spiel für mich eines der wohl besten Bücher, das ich in diesem Jahr, wenn nicht sogar in meinem Leben gelesen habe. Es ist mitreißend, stürmisch und brisant. Eine Geschichte der drastischen Lebensentscheidungen, die auf jeden Fall Gehör finden sollte. Gehör finden MUSS. Also: lest dieses Buch!