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tausend_leben

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Cover des Buches Zusammen ist man weniger allein (ISBN: 9783596173037)

Bewertung zu "Zusammen ist man weniger allein" von Anna Gavalda

Zusammen ist man weniger allein
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Anna Gavalda zeichnet mit ihrem Buch skurrile, liebenswürdige Charaktere, die man sofort ins Herz schließt und ungern wieder gehen lässt.
Eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft


"Sie hatte einen Ort gefunden, an dem sie gerne lebte. Einen seltsamen Ort, ausgefallen wie die Leute, die darin wohnten."
Die junge, magersüchtige Camille arbeitet trotz großem künstlerischem Talent in der Putzkolonne. Der stotternde, zurückhaltende Philibert ist ein historischer Einstein und scheint seinem Habitus nach selbst aus einer anderen Zeit zu stammen. Der permanent wütende Feinschmeckerkoch Franck interessiert sich neben gutem Essen nur für Frauen und Motorräder - und für seine Großmutter Paulette, die an Alzheimer erkrankt, aber nicht die geringste Lust auf das Altersheim hat. Schicksalhaft kreuzen sich die Lebenswege dieser vier grundverschiedenen Menschen, die alle irgendwie auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft sind. Und bald finden sie sich wieder in einer höchst ungewöhnlichen Wohngemeinschaft inmitten von Paris, in der geliebt, gelacht, geweint, debattiert, gekocht, gemalt und gestritten wird.
Schon vor zehn Jahren ist "Zusammen ist man weniger allein" in Deutschland erschienen und ich habe diesen wundervollen Roman erst jetzt gelesen. Manchmal hat man Schätze im Buchregal stehen und fragt sich nach dem Lesen, warum man nicht schon früher danach gegriffen hat. Ich könnte mir vorstellen es lag daran, dass ich die Verfilmung mit Audrey Tautou schon gesehen hatte - ein Freund hatte mir die DVD geschenkt - und sie mich nicht so wirklich aus den Socken gehauen hat. Ganz anders das Buch.
Anna Gavalda zeichnet mit ihrem Buch skurrile, liebenswürdige Charaktere, die man sofort ins Herz schließt und ungern wieder gehen lässt. Besonders Philibert hat es mir angetan, die gute Seele der Wohngemeinschaft, so herrlich kauzig, unschuldig und wunderbar.

"Und Camille beeilte sich, dieses Lächeln festzuhalten, die belustigte Verzückung eines Jungen, der die Geschichte Frankreichs zerpflückte wie andere ein drittklassiges Pornoheft."
Die Autorin schreibt dabei in einfacher Sprache, aber so lebendig, dass man versucht ist zu glauben es gäbe sie wirklich - Camille, Franck, Paulette und Philibert. Wie realitätsnah die ganze Geschichte ist, sei mal dahingestellt. Das Thema Magersucht - und ihre Überwindung - scheint mir hier doch etwas fernab der Realität. Allerdings kenne ich mich mit dem Thema auch nicht wirklich gut genug aus um das beurteilen zu können.
Eins steht fest: die Charaktere in ihrem Alltag zu begleiten, sich gemeinsam mit ihnen zu entwickeln, ihnen dabei zuzusehen, wie sie voneinander lernen und sich gegenseitig das Leben retten, macht einfach große Freude.

"... wenn intellektuell sein heißt, sich zu bilden, erschüttert zu sein, verstehen zu wollen, wie alles zusammenhängt, damit man etwas weniger dumm ins Bett geht als am Abend zuvor, dann fordere ich dies für mich ein: Nicht nur bin ich dann eine Intellektuelle, ich bin auch noch stolz darauf."
"Zusammen ist man weniger allein" ist ein Buch über Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt. Es ist ein Buch über die Höhen und Tiefen des Lebens.
Wer sich nicht von vielen Dialogen abschrecken lässt (bei denen man manchmal erst auf den zweiten Blick erkennt, wer gerade spricht) - und wer auf herzerfrischende, romantische Geschichten mit kauzigen Charakteren steht, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.

"Laß die Geschirrtücher und das Frottee in derselben Schublade, das Leben ist viel netter mit ein bißchen Chaos."
Über die Autorin
"Anna Gavalda, 1970 in der Nähe von Paris geboren, ist eine der erfolgreichsten französischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie studierte Literatur und arbeitete als Lehrerin, bis sie mit ihrem ersten Buch schlagartig berühmt wurde. Die Verfilmung ihres Bestsellerromans ›Zusammen ist man weniger allein‹ erreichte ein großes Publikum in ganz Europa. Anna Gavalda lebt mit ihren zwei Kindern bei Paris."

Cover des Buches Anklage (ISBN: 9783453438422)

Bewertung zu "Anklage" von John Grisham

Anklage
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Das Buch lässt sich gut lesen und Langeweile kommt nicht auf - doch irgendwie auch keine rechte Spannung. Ok, mehr nicht.
Kann man lesen, muss man aber nicht.


Samantha Kofer führt ein erfolgreiches Leben als Anwältin in New York. Doch dann kommt das Jahr 2008 und mit ihm der große Crash an den Finanzmärkten. Nicht nur an der Wall Street verlieren die Leute ihre Jobs, sondern auch scharenweise Anwälte landen auf den Straßen. Plötzlich steht Samantha ohne Job da - und ohne Perspektive... Bis sie in einer Pro-Bono-Anwaltskanzlei im 2000-Seelen-Ort Brady, in Virginia, landet und sich mit den Ängsten und Sorgen der Menschen in der Kohleregion konfrontiert sieht. Hier erlebt Samantha eine Verwandlung, vom Aktenhengst zu einer Anwältin, die nicht länger nur Datenrecherchen für Immobiliengeschäfte durchführt, sondern sich mit echten Menschen und ihren Problemen konfrontiert sieht - und zum ersten Mal im Leben im Gerichtssaal steht. Hin und her gerissen, ob sie in der tiefsten Provinz ihren verlorenen New Yorker Lifestyle betrauern, oder sich über die Sinnhaftigkeit ihrer Aufgabe und ihre neu gewonnene Freiheit ohne 90-Stunden-Woche freuen soll, gerät Samantha unwillentlich in die Machenschaften der Kohleindustrie - und muss plötzlich um ihr eigenes Leben bangen.

Von John Grisham habe ich bereits mehrere Bücher gelesen, aber lange lange ist's her. "Die Firma", "Die Jury" oder "Die Akte" gehören zu den ersten "Erwachsenenromanen" die ich gelesen habe - und haben mir damals sehr gut gefallen. Ich mochte den Schreibstil des Autors, der zu den bekanntesten Thrillerautoren der Gegenwart zählt und dessen Justizthriller regelmäßig Schauplatz spannender Konflikte sind. Nicht umsonst wurden seine Bücher zum großen Teil verfilmt - oder?!

Nun habe ich dank dem Gewinn einer LovelyBox den ersten Grisham der letzten 20 Jahre gelesen. In "Anklage" erfahren die Leser diesmal eine Menge über den Bergkuppentagebau und seine skrupellosen Machenschaften, über die amerikanische Kohleindustrie und ihre furchtbaren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Könnte eine gute Story sein. Das Buch lässt sich auch gut lesen und Langeweile kommt nicht auf - soweit trügt mich meine Erinnerung an den Schreibstil des Autors also nicht... Doch irgendwie will auch keine rechte Spannung aufkommen. Viele kleinere und größere Fälle werden angerissen, viele Charaktere gezeichnet... doch ich konnte das große Ganze nicht wirklich erkennen. Die Handlung und auch die Charaktere bleiben oft flach und eben "angerissen" - und selbst für Protagonistin Samantha will sich bei mir keine rechte Sympathie einstellen. Weder die Liebesszenen, noch die Szenen in der Kanzlei, dem Gericht oder die Beschreibungen über den Raubbau an der Natur haben mich gepackt, waren mir einfach zu nüchtern. Das Ganze endet dann auch recht enttäuschend ohne einen einzigen echten Knaller - und ohne dass ich mich mit einem der Charaktere identifizieren konnte.

Mir drängt sich die Vermutung auf, dass die Romane den Ansprüchen meines 13-jährigen Ich's noch genügt haben, meinem 34-jährigen Ich jedoch nicht mehr. Oder John Grisham hat sein Talent zum Schreiben in den 80er und 90er Jahren einfach besser genutzt. Ich müsste nochmal einen der Romane von damals lesen, um das herauszufinden.

Mein Fazit: Man kann den Roman lesen, muss es aber nicht. Und ich denke, es werden wieder 20 Jahre ins Land gehen, bevor ich den nächsten Grisham lese... Immerhin hatte ich nicht das Bedürfnis, den Roman abzubrechen und habe mich trotz aller Kritik nicht gelangweilt - von mir gibt's daher knappe 3 Sterne.


Über den Autor

John Grisham praktizierte zehn Jahre als Strafverteidiger und politischer Funktionär im Parlament von Mississippi, bevor er 1986 mit "Die Jury" einen seiner größten Erfolge fertigstellte. Lange Zeit suchte er vergeblich nach einem Verlag und verkaufte in der ersten Auflage nur 5.000 Exemplare. Doch vom Schreiben ließ er sich dadurch nicht abhalten. Erst mit "Die Firma" gelang ihm 1988 der Durchbruch auf den Bestsellerlisten. Zeitgleich mit "Die Akte" wurde auch "Die Jury" nochmal neu aufgelegt. Seit diesem Jahr schreibt der Autor jedes Jahr ein Buch und führt regelmäßig die Bestsellerlisten an. John Grisham lebt zurückgezogen mit siener Frau und den Kindern in Charlottesville, Virginia und Oxford, Mississippi.

Cover des Buches Becks letzter Sommer (ISBN: 9783257066760)

Bewertung zu "Becks letzter Sommer" von Benedict Wells

Becks letzter Sommer
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Tragikomischer Roman über (un-)erfüllte Träume, Freundschaft & Neid, über die Liebe, die Musik & das Leben - schräg, humorvoll, scharfsinnig
Tragikomischer Selbstverwirklichungstrip

"Sie sind hier, weil Sie keine Entscheidungen treffen. Und das ist schlecht. Denn wenn Sie es nicht tun, dann tut's das Leben für Sie. Und das Leben trifft oft die schlechteren Entscheidungen."
Robert Beck steckt in einer Art Midlifecrisis. Er ist Ende 30 - und statt gefeierter Rockstar ist er gelangweilter Lehrer geworden. Beck sträubt sich gegen feste Bindungen, sein kaltschnäuziger Vater ist tot und seine Mutter möchte er nicht einmal mehr zur Beerdigung sehen. Die einzige emotionale Konstante in seinem Leben ist sein deutschafrikanischer, psychisch labiler und hypochondrischer Freund Charlie, mit dem er abends um die Häuser zieht.
Doch dann trifft Beck auf zwei Menschen, die sein Leben für immer verändern sollen. Lara - die Frau, die eigentlich gar nicht sein Typ ist und trotzdem die erste, mit der Beck vielleicht länger als drei Monate zusammen sein möchte. Und sein Schüler Rauli Kantas, musikalisches Ausnahmetalent. Plötzlich schöpft Beck Hoffnung, dass sein Leben vielleicht doch kein Ende in der Mittelmäßigkeit finden muss, dass er noch immer groß rauskommen kann - und nimmt den geheimnisvollen Rauli unter seine Fittiche. Mit sehr viel Eigennutz und einer gehörigen Portion Neid macht Beck sich daran, Rauli zu einer großen Musikerkarriere zu verhelfen. Doch der junge Litauer kämpft gegen seine eigenen Dämonen - und bald ist ganz und gar nicht mehr klar, wer hier eigentlich wen instrumentalisiert.
"Wie einfach und kompliziert es ist. Ich brauche nur vier oder fünf Tasten in der richtigen Reihenfolge zu spielen, und schon hab ich einen Welterfolg. Auf der anderen Seite ist es viel wahrscheinlicher, dass ich mein Leben lang die falschen Tasten in der falschen Reihenfolge spielen werde."
Als sein Kumpel Charlie dann auch noch einen psychischen Zusammenbruch erleidet und seine Beziehung zu Lara in den Sternen steht, findet sich Beck plötzlich wieder auf einem verrückten Roadtrip quer durch Europa - von München bis nach Istanbul - und konfrontiert mit der Frage, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen möchte.
"Vielleicht gewinnen Sie ja auch gar nichts dabei. Nur eines steht fest: Wenn Sie es nicht tun, verlieren Sie."
Nachdem ich 'Vom Ende der Einsamkeit' verschlungen und zu meinem neuen Lieblingsbuch erkoren hatte, war natürlich klar, dass ich mir auch die vorherigen Werke von Benedict Wells zulegen musste. 'Becks letzter Sommer' ist sein Debütroman und als solchen fand ich ihn schon ziemlich beeindruckend. Der Autor hat einfach ein grundlegendes Talent für Sprache und Dialoge - und auch ein Talent, fundamentale Fragen und Ängste des Lebens einzupflechten - ohne seine Leser emotional zu überfrachten.
"Stell dir vor", sagte sie. "Vierundneunzig Jahre alt. Das muss ein tolles Gefühl sein." "Nein", sagte Beck. "Ich glaube, das ist ein ganz beschissenes Gefühl. {...} Du bist einsam, alle um dich herum sind tot, für neue Freunde bist du zu alt. Dir tut alles weh. Du gehst abends ins Bett, siehst noch fern, dann legst du deine Brille auf den Nachtisch und knipst das Licht aus. Und du weißt, dass du am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr aufwachst. {...} Und es gibt keinen Ausweg, keinen Vertrag, den man verlängern kann. Deine Zeit ist um."
Was Benedict Wells in 'Vom Ende der Einsamkeit' in Perfektion gelungen ist, findet sich hier andeutungsweise. Jedoch muss ich bekennen, dass mich das Buch und seine Charaktere nicht so gepackt haben wie im neuesten Werk. Das wäre aber für einen Debütroman auch ziemlich viel verlangt - zumal meine Messlatte nach 'Vom Ende der Einsamkeit' wohl auch recht hoch lag. Schade fand ich, dass die besuchten Städte während des Road Trips nur am Rande erwähnt werden und nicht wirklich atmosphärisch rüber kommen.
Die wesentlichen Themen des Lebens scheinen Wells zu beschäftigen. So geht es auch in diesem Buch um Ängste und Einsamkeit, um Freundschaft und Liebe, um Verlust und die Angst vorm Tod, um Talent, Mut und Selbstverwirklichung.
"Auf einmal hielt er es nicht mehr aus. Er stand ruckartig auf, wollte irgendwas tun, irgendwas verändern. Seine Fäuste waren geballt. Da war so viel Wille.Eine Weile stand er einfach nur so da und wollte.Dann setzte er sich wieder hin und sah fern."
'Becks letzter Sommer' ist ein tragikomischer Roman über unerfüllte und erfüllte Träume, über Freundschaft und Neid, über die Liebe, die Musik und das Leben an sich - schräg, humorvoll und scharfsinnig. Ich vergebe 4 Sterne.
Über den Autor
"Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin."

Cover des Buches Der Trafikant (ISBN: 9783036959092)

Bewertung zu "Der Trafikant" von Robert Seethaler

Der Trafikant
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Hin und her gerissen - tolle Sprache, aber Charaktere, mit denen ich nicht richtig warm wurde...
Österreich kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges

Österreich im Jahr 1937 - kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges: Der 17-jährige Franz Huchel muss seine dörfliche Heimat verlassen um in Wien sein Glück zu suchen. Er beginnt eine Lehre in einer Trafik, und begegnet dort Sigmund Freud. Der junge Trafikant und der alte Psychoanalytiker entwickeln eine Faszination füreinander und Franz sucht regelmäßig Rat beim bekannten "Deppendoktor" - in Fragen des Lebens und der Liebe. Während Franz in sein neues Leben hinein findet, setzen unaufhaltsam die gesellschaftlichen Veränderungen durch den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten in Österreich ein. Sie werden das Leben des naiven Trafikanten grundlegend verändern.
Eines vorab: Falls es euch so ergeht wie mir und ihr keine Ahnung habt was ein Trafikant überhaupt ist: ein Trafikant arbeitet in einem Tabakwaren- und Zeitungsgeschäft - bei uns in Köln würden wir es auch als Büdchen bezeichnen ;-) .
Über verschiedene Empfehlungen bin ich auf Robert Seethalers Roman aufmerksam geworden - und bin hin und her gerissen wie ich ihn denn nun finde. Seethalers Sprache ist schnörkellos, melodisch und leichtfüßig. Der Autor schafft es stimmungsvoll, seine Leser in das Wien der späten 30er Jahre zu versetzen - und gewährt uns dabei immer wieder kleine Einblicke, wie der einziehende Nationalsozialismus sich auf das Leben, den Alltag und die Gedanken der Menschen ausgewirkt hat. Wir erleben den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Und wem es ergeht wie mir, das heißt wer ebenfalls eine Bildungslücke bei sich feststellt, der verspürt nach der Lektüre den Drang, mehr über die geschichtlichen Details und Zusammenhänge zu erfahren. Mühelos gelingt es Seethaler, die unfassbaren Schrecken der damaligen Zeit mit einer erzählerischen Leichtigkeit einzupflechten. Dabei werden die Ereignisse und Hintergründe allenfalls angerissen. Jedoch denke ich, das lag in der Absicht des Autors. Es handelt sich ja auch nicht um eine geschichtliche Abhandlung, sondern um einen fiktiven Roman. Die Dialoge und Gedankenaufzeichnungen schwanken zwischen Humor, Melancholie und Nüchternheit. Seethaler schafft es zu vermitteln, wie damals der ganz normale Alltag und die unglaublichen Gräuel der aufkeimenden Nazizeit Hand in Hand gingen.

"Drei Wochen später, am Morgen des 17. Mai 1938 kündigte sich der Sommer an. Ein angenehm laues Lüftchen trieb die Nachtkühle aus den Straßen und über die Donau weit in die Schwechater Ebenen hinaus. Überall in der Stadt gingen die Fenster auf, Decken und Polster wurden ausgeschüttelt, und Daunenfedern schwebten durch die Luft wie weiße Blüten. In der Früh standen vor den Bäckern die Schichtarbeiter und die Hausfrauen Schlange, und es roch nach frischen Semmeln und Kaffee. [...] Im Keller der Gestapo-Dienststelle, in der ehemaligen Wäscherei des Hotels Metropol, mussten sich fünfzehn jüdische Geschäftsleute nackt ausziehen und mit den Händen über dem Kopf auf die Abholung zum Einzelverhör warten. In der Mitte des Raums waren ihre Kleider zu einem Haufen zusammengeworfen, dessen Spitze eine Mütze bildete, kariert und zerknautscht wie die Mütze eines amerikanischen Stummfilmkomikers. Am Gleis II des Wiener Westbahnhofts saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab."
Toll finde ich auch die Wiener Schmäh sowie die Einblicke in das Leben als Trafikant, bevor der Nationalsozialismus mit voller Wucht in Österreich einschlägt und die Medien infiltriert. Einen Einblick in die Welt von Zeitungen, Zigarren, Schlagzeilen und Gewohnheiten. Und wie Franz beginnt, das Weltgeschehen zu verfolgen, die Zeitungsartikel zu analysieren und bemerkt, das sein wachsendes Wissen die Dinge sowohl leichter als auch komplizierter macht.

"Nach ein paar Wochen schließlich konnte er die Zeitungen fast flüssig lesen, wenn nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zum größeren Teil. Und obwohl ihn die unterschiedlichen, manchmal sogar völlig gegensätzlichen Standpunkte und Sichtweisen gehörig durcheinanderbrachten, bereitete ihm die Lektüre doch auch irgendwie ein gewisses Vergnügen. Es war eine Ahnung, die da zwischen den vielen Druckbuchstaben herausraschelte, eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt."
Jetzt wisst ihr warum ich hingerissen bin. Was ist es nun, was mich hergerissen hat? Ich würde sagen es sind die Charaktere. Mit keinem konnte ich so richtig warm werden. Da wäre Franz mit seinem reinen Herzen und seiner Naivität, dessen Kindlichkeit nicht so recht zu einem 17-jährigen heranwachsenden Mann passen will. Die illegale Böhmin Anezka, in die sich Franz verliebt, konnte sich ebenfalls nicht in mein Herz schleichen. Zu flach, zu einfältig. Auch die eindeutige Unterteilung des Romans in Gut und Böse - der gute einbeinige Trafikanten-Lehrmeister Otto und der böse Fleischermeister von nebenan - ist mir zu einfach gewählt. Das Einpflechten der Figur Sigmund Freuds in die Handlung empfinde ich als tolle Idee; die Umsetzung hat mich jedoch nicht ganz überzeugt. Freud, eine faszinierende vielschichtige Persönlichkeit, Begründer der Psychoanalyse und laut Wikipedia einer der "einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts", kommt hier etwas faszettenlos mit zu flachen Lebensweisheiten daher.

"Die richtige Frau zu finden ist eine der schwierigsten Aufgaben in unserer Zivilisation. Und jeder von uns muss sie vollkommen alleine bewältigen. Wir kommen alleine zur Welt,  und wir sterben alleine.  [...] Wir müssen uns immer wieder fragen, was wir möchten  und wohin wir wollen. Anders gesagt: Du musst deinen eigenen Kopf bemühen. Und wenn dir der keine Antworten gibt, frag dein Herz."
Normalerweise ist es ein K.o.-Kriterium, wenn die Charaktere im Buch nicht restlos überzeugen. Ich bin aber dennoch sehr froh, das Buch gelesen zu haben. Es hat mich zum Nachdenken gebracht und zum Recherchieren - und ließ sich trotz der charakterlichen Schwächen wunderbar lesen. Ich bin nun wieder ein bisschen schlauer und weiß, wie es den Nationalsozialisten gelungen ist, Österreich noch vor Beginn des zweiten Weltkrieges in das Deutsche Reich zu integrieren. Und ich habe im Nachgang viel erfahren über das Leben und Leiden des Juden Sigmund Freud. Da ich keine 3,5 Sterne vergeben kann, bin ich mal großzügig und runde auf auf 4 :-) .

Über den Autor
Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, wurde 2007 für seinen Roman »Die Biene und der Kurt« mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, schrieb Drehbücher und Romane. Bislang erschienen: »Die weiteren Aussichten« und »Jetzt wirds ernst«. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.

Cover des Buches Ein ganzes Leben (ISBN: 9783442482917)

Bewertung zu "Ein ganzes Leben" von Robert Seethaler

Ein ganzes Leben
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Ein großes Buch über die kleinen Momente des Glücks
Über das Leben selbst - und die ganz einfachen Momente des Glücks


"Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen."
Nachdem "Der Trafikant" - na ja - OK war, mich aber ja nicht so vollkommen von den Socken hauen konnte, habe ich dem neuen Buch von Robert Seethaler - und dem neuen Protagonisten - eine Chance gegeben. Zum Glück kann ich da nur sagen. "Ein ganzes Leben" ist ein großartiges Buch über das Leben selbst, über seine Höhen und Tiefen - und über die ganz einfachen Momente des Glücks.
Andreas Egger ist ein einfacher Bursche, der in einem Dorf in den Alpen aufwächst. Von seinem Pflegevater in der Kindheit zum Krüppel geprügelt, wächst er doch zu einem gestandenen Mann heran, der harte Arbeit nicht scheut, sich durch's Leben schlägt und sich an den kleinen Dingen im Leben erfreut. Egger verliebt sich in Marie, und um seiner großen Liebe etwas bieten zu können, schließt er sich einem Arbeitstrupp an, der die erste Seilbahn der Region baut und damit den Fortschritt ins Tal bringt. Zufrieden mit sich und dem Leben wünscht sich Egger, das Leben möge immer so bleiben. Doch so soll es nicht kommen...
Klar, Andreas Egger ist ein Eigenbrötler, der nicht viel spricht, und manchmal auch nicht viel denkt. Seethaler scheint einen Hang zu Außenseitern zu haben. Sein Protagonist ist anständig, eifrig und steckt sich im Leben keine hohen Ziele. Manchmal ist Egger mir etwas zu einfach. Obwohl der Roman - wie auch schon Der Trafikant - zu Zeiten des zweiten Weltkrieges spielt, findet der Krieg nur als Nebenschauplatz Erwähnung. Egger kriegt nicht viel mit vom Weltgeschehen und hinterfragt es auch nicht. Trotzdem finde ich in dem Buch auch viel Weisheit. Immer wieder mit dem Tod konfrontiert - in den Bergen, beim Seilbahnbau, im Krieg und in Gefangenschaft - lernt Egger das Leben zu akzeptieren und die Momente des Glücks zu ehren.

"Man kann einem Mann seine Stunden abkaufen, man kann ihm seine Tage stehlen oder ihm sein ganzes Leben rauben. Aber niemand kann einem Mann auch nur einen einzigen Augenblick nehmen."
Ich habe dieses Buch gelesen wie im Rausch - an einem Vormittag. Es ist eine einfache und gerade deshalb ergreifende Erzählung über den Sinn des Lebens. Was ist es, was wirklich im Leben zählt? Ist ein Leben nur erfüllt, wenn der Mensch viel gesehen, viel erlebt, viel besessen hat - wenn er Spuren hinterlassen hat? Müssen wir nach dem Außergewöhnlichen streben, um unseren Leben einen Sinn zu geben? Oder ist es nicht vielmehr außergewöhnlich, wenn wir lernen jeden noch so kleinen Moment des Glücks zu schätzen und in bescheidener Zufriedenheit alt werden? Ich finde, das ist eine gute Frage, über die es sich lohnt nachzudenken - und die bestimmt nicht für jeden gleich zu beantworten ist. Glücklich ist, wer sich selbst findet - wie auch immer dieses Selbst aussehen mag.
Seethalers Roman ist aber auch eine Hommage an die Schönheit der Alpen und eine Liebeserklärung an die Berge. Und er lässt uns daran teilhaben, wie der Einzug des technischen Fortschritts innerhalb nur einer Generation das Leben und unseren Alltag komplett verändert hat. Ich kann nur jedem empfehlen es zu lesen.

Über den AutorRobert Seethaler, 1966 in Wien geboren, wurde 2007 für seinen Roman »Die Biene und der Kurt« mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, schrieb Drehbücher und Romane. Bislang erschienen: »Die weiteren Aussichten« und »Jetzt wirds ernst«. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.

Cover des Buches Ein untadeliger Mann (ISBN: 9783446249240)

Bewertung zu "Ein untadeliger Mann" von Jane Gardam

Ein untadeliger Mann
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Mit großem Einfühlungsvermögen und einem grandiosen Sinn für Ironie lässt Jane Gardam uns teilhaben am bewegenden Leben des Edward Feathers.
Ein faszinierendes Leben im untergehenden British Empire


"Er war sagenhaft sauber. Geradezu ostentativ sauber. Der Rand seiner Fingernägel war reinweiß. Die wenigen Haare unter den Fingerknöcheln waren immer noch golden und wirkten stets wie frisch shamponiert, ebenso wie sein lockiges, immer noch rötlich braunes Haupthaar."
Edward Feathers ist ein Mann ohne Fehl und Tadel, stets adrett, höflich, mustergültig, formvollendet. In seinem Leben scheint einfach alles mühelos gelungen zu sein. Gesegnet mit hoher Intelligenz und gutem Aussehen, verlässt 'Old Filth' als junger Mann London und steigt in Hongkong zum einflussreichen Kronanwalt und später zum Richter des British Empire auf. Er wird ein vermögender Mann und lebt mit seiner Ehefrau Betty angesehen und erfolgsgekrönt in China, bis er sich im beschaulichen Dorset in Südwestengland zur Ruhe setzt. Doch ist das Leben des Edward Feathers wirklich so geradlinig verlaufen? Wer hat ihn überhaupt wirklich gekannt? Als seine Betty stirbt, bewahrt er wie gewohnt seine Haltung. Doch eines Morgens setzt er sich ans Lenkrad seines Wagens und begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, um sich und sein zurück liegendes Leben zu ergründen.
Mit großem Einfühlungsvermögen und einem grandiosen Sinn für Ironie lässt Jane Gardam uns teilhaben am bewegenden Leben des Edward Feathers. Obwohl er kauzig ist und irgendwie ein Sonderling, schließt man 'Old Filth' schnell ins Herz und taucht ein in ein außergewöhnliches und faszinierendes Leben im untergehenden British Empire.

"Ich werde Historiker. Das ist mein Plan. Das ist die einzige Hoffnung – dass wir lernen, wie wir das geworden sind, was wir sind. Ich meine, Primaten. Aggressionen. Das Empire geht unter. Es säuft ab. Das wird ein ziemliches Chaos, wenn es verschwunden ist, und wir werden dann kein besseres Volk sein."
Fast 90 Jahre ist sie alt, diese großartige Autorin. Ihren Roman "Old Filth" hat Jane Gardam bereits 2004 geschrieben. Warum es so lange gedauert hat, bis sie auch hierzulande Anerkennung erfährt, ist mir schleierhaft. Gardam hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie ihr Protagonist in der Kindheit aus den Kolonien gerissen und von ihren Eltern getrennt in die Heimat geschickt wurden.
Obwohl der Roman anspruchsvoll ist mit seinen Spitzen und Rückblenden, lässt er sich doch federleicht lesen. Es geht um Menschlichkeit, Empathie und schicksalhafte Erlebnisse und Begegnungen. Dem ein oder anderen mag es an Spannung oder Zuspitzung fehlen, aber ich fand die erfrischende, sehr britische und sehr ironische Erzählweise großartig. Wer skurile, kauzige Charaktere mag und gerne einen Blick ins britische Leben zu Zeiten des Empires erhaschen möchte, dem sei "Ein untadeliger Mann" wärmstens empfohlen. Ich habe ihn schnell ins Herz geschlossen, den eigenbrötlerischen Edward Feathers und ihn sehr gerne beim Rückblick auf sein Leben begleitet.
"Ein untadeliger Mann" ist ein großartiges Buch über die Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Ein Buch über die Upper Class im untergehenden British Empire, voller Humor, Ironie und Gefühl. Das Schöne: der Fortsetzungsroman der Trilogie "Eine treue Frau" ist bereits im März erschienen.

Über die AutorinJane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren und lebt in East Kent. Als einzige Schriftstellerin wurde sie gleich zweimal mit dem Whitbread/ Costa Award ausgezeichnet. Mit Ein untadeliger Mann stand sie auf der Shortlist des Orange Prize.

Cover des Buches Die Interessanten (ISBN: 9783832163396)

Bewertung zu "Die Interessanten" von Meg Wolitzer

Die Interessanten
tausend_lebenvor 8 Jahren
Cover des Buches Ohrfeige (ISBN: 9783446250543)

Bewertung zu "Ohrfeige" von Abbas Khider

Ohrfeige
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Beeindruckende Geschichte aus Hoffnung, Verzweiflung, Ausgrenzung, Bürokratie und endlosem Warten und Bangen
Zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit - Die Situation junger Asylsuchender in Deutschland


"Stumm und starr vor Angst hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt. {...} Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?"
Karim kommt aus dem Irak - und er ist stinksauer. Er hat seiner Sachbearbeiterin Frau Schulz in der Ausländerbehörde etwas mitzuteilen. Doch wie so oft will sie ihm nicht richtig zuhören. Um sich Gehör zu verschaffen, verpasst Karim Frau Schulz eine Ohrfeige, fesselt sie an ihren Stuhl - und erzählt ihr seine Geschichte...
In "Ohrfeige" setzt sich Autor Abbas Khider mit der Situation junger Asylbewerber in Deutschland am Anfang des neuen Jahrtausends auseinander. Als der junge Iraker diesen Roman vor vier Jahren begonnen hat, konnte er noch nicht ahnen, welche Brisanz er bei seiner Veröffentlichung haben wird. Wie ergeht es jungen Asylsuchenden, wenn sie in ihrer neuen "Heimat" ankommen? Wie fühlen sie sich? Mit welchen Hürden haben sie zu kämpfen? Was erleben sie in den Mühlen deutscher Behörden? Und welche Zukunftsaussichten haben sie?
Aus der Sicht des jungen Irakers Karim erleben die Leser verschiedene Stufen des Asylverfahrens und die Odysee, die Flüchtlinge erleben bis sie hier eine dauerhafte Heimat finden - oder eben auch nicht. Während seiner verschiedenen Stationen in Bayern kreuzen zahlreiche Flüchtlinge Karims Weg - jeder mit seiner eigenen Geschichte. Mehr oder weniger gemeinsam versuchen sie Erlebtes hinter sich zu lassen, sich auf ihr neues Leben in diesem fremden Land einzulassen - und den Alltag und die Hürden der Bürokratie zu meistern. Aber das ist leichter gesagt als getan - wenn einen die deutsche Bürokratie zum Nichtstun verdammt. Kein Sprachkurs, keine Arbeit, keine Wohnung.

"Im Exil entstehen so viele seltsame Probleme und Rätsel, auf die man als normaler Mensch nie kommen würde. Schwierigkeiten aller Art brechen so plötzlich und unerwartet wie Naturkatastrophen über einen herein. Wir sind komplett ausgeliefert. Um zu überleben und nicht vollständig wahnsinnig zu werden, brauchen wir die Vermittler, die Mafiosi, die Geldgeilen, die Schmuggler, die bestechlichen Polizisten und Beamten, wir benötigen all die Blutegel, die von unserer Situation profitieren wollen."
Die Leser tauchen ein in eine beeindruckende Geschichte aus Hoffnung, Verzweiflung, Ausgrenzung, Bürokratie und endlosem Warten und Bangen. Dennoch verliert Karim nicht seinen Humor - und das wirre soziale Gefüge und die vielen, zum Teil skurrilen, Charaktere im Asylbewerberheim lassen einen auch immer wieder schmunzeln. Man fragt sich unweigerlich, wie viel von dem Roman der Autor wirklich erlebt haben könnte. Allerdings fragt man sich ebenfalls unweigerlich, ob Khider tatsächlich das deutsche System so erlebt hat wie im Buch beschrieben. Mir erscheinen Khiders Beschreibungen Deutschlands oft so stereotypisch. Polizisten sind grausam, rassistisch und voreingenommen und Beamten sind bürokratisch, gefühl- und anteilnahmslos. Es ist wohl leider nicht ganz unwahrscheinlich. Ich hoffe aber sehr, dass Abbas Khider hier absichtlich eine sehr überzogene Darstellung gewählt hat.

"Den irakischen Behördenapparat habe ich beizeiten hassen gelernt, weil er so chaotisch und bürokratisch ist wie eine göttliche Strafe, die keine Gnade kennt. Nun aber gab mir die stumpfsinnige entseelte deutsche Verwaltung wirklich den Rest. Ich war schon nach wenigen Minuten des Nachdenkens erschöpft von all den Stolpersteinen, die ich umgehen musste, und versuchte an einer Lebensgeschichte zu basteln, die das Gesetz anerkennen würde."
Der Schreibstil des Autors hat mir sehr gefallen - flüssig, knapp, kurzweilig und leicht satirisch. Der Autor verwendet für seine Geschichte überwiegend einfache Worte, aber sie ist komplexer als sie beim ersten Durchlesen erscheint. Sie erzählt vom Leben und von den Träumen junger Männer, die in der Fremde zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit schwanken, zwischen Humor und Aggression, zwischen Rückhalt und Verzweiflung. Bewusst lässt der Khider die Deutschen nicht zu Wort kommen in seinem Roman. Er soll die Augen öffnen für die Sicht der Asylsuchenden - und das gelingt ihm ganz hervorragend. Die ewig gleichen Gesichter im Asylantenheim, der Wunsch nach Kontakt zu Einheimischen, die verzweifelte Suche nach Abwechslung, die Sprachprobleme, die fehlende Zukunftsperspektive.

"Andere, normale Bürger waren wie Fabelwesen aus einem fernen Märchenland für uns, die wir bei unseren Streifzügen durch die Stadt beobachten konnten oder durch den Zaun hindurch sahen, der das Asylantenheim umgab. Hellhäutige Menschen aller Art, vermummt in dicke, warme und schöne Kleidung, die sehr gepflegt aussahen. Saubere Kinder, hübsche Mütter, stolze Väter."
Ganz bewusst spielt Abbas Khider auch mit den Asylgründen. Denn Karim ist gar kein politisch Verfolgter. Er ist aus ganz anderen Gründen aus seinem Land geflüchtet. Doch mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Die Geschichte findet ihren Ausklang in den Zeiten nach dem 11. September 2001.

"Nach diesem verdammten Tag wurde der wichtigste Ausdruck für uns Araber in Deutschland: verdächtig. Ich hätte niemals gedacht, dass Terroristen, die sich in den Bergen des Hindukusch in Afghanistan versteckt hielten, mit ihren Anschlägen in den USA mein Leben im bayrischen Niederhofen komplett auf den Kopf stellen könnten. Aber auch das ist wohl Globalisierung."
Schade, ich wäre sehr gerne zur Autorenlesung gegangen, als der Autor im Literaturhaus in Köln war - und hätte Abbas Khider einige Fragen zu seinem Werk gestellt. Leider konnte ich an dem Tag nicht. Dafür habe ich aber einen Artikel im Feuilleton der FAZ gelesen, in dem Julia Encke ein interessantes Interview mit dem Autor geführt hat - über das Buch, Khiders eigene Erlebnisse und wie er zum Thema Flüchtlingsproblematik steht.
Ich kann den Roman empfehlen und finde ihn sehr lesenswert.

"Wir sind alle wie die geschmacklosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann. Wir werden mit dem Lastwagen hierhergeschleppt wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt in den Müll."

Über den Autor
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren und mit 19 Jahren wegen seiner politischen Einstellung verhaftet. Nach seiner Entlassung floh er 1996 aus seinem Heimatland und hielt sich als illegaler Flüchtling in verschiedenen Ländern auf, bevor er 2000 seine Heimat in Deutschland fand. Hier studierte er Literatur und Philosophie. "Ohrfeige" ist bereits der vierte Roman des jungen Irakers. 2008 erschien sein Debütroman "Der falsche Inder". Seine Romane verfasst der Autor nicht in seiner Muttersprache, sondern in Deutsch. Er wurde bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nelly-Sachs-Preis und dem Hilde-Domen-Preis. Abbas Khider lebt und arbeitet in Berlin.

Cover des Buches Die Deutschlehrerin (ISBN: 9783426304099)

Bewertung zu "Die Deutschlehrerin" von Judith W. Taschler

Die Deutschlehrerin
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Ganz großes Kino.
Vielschichtiges Beziehungspuzzle mit überraschenden Wendungen


"Sein ganzes Leben hängt von dieser einen Entscheidung ab! Warum kann man nicht mehrere Entwürfe seines Lebens versuchen und sich dann für einen entscheiden? Ein Leben ist, als hätte man keines! Wenn man sich falsch entschieden hat und sich das im Alter eingestehen muss, wie schrecklich muss das sein."
Sechzehn Jahre lang sind sie ein Paar, die engagierte Deutschlehrerin Mathilda Kaminski und der Schriftsteller Xaver Sand - bis Mathilda eines Abends nach Hause kommt und er nicht mehr da ist. Sechzehn Jahre später sehen sich die beiden durch einen vermeintlichen Zufall wieder - und arbeiten ihre gemeinsame und getrennte Vergangenheit auf. Was ist damals passiert? Wieso hat Xaver Mathilda verlassen und was passierte in der Zeit danach? In E-Mails und Zwiegesprächen reden die beiden über Liebe & Hass, über Ehrgeiz & Schwermut, über Komplexe & Eitelkeit, über Eheleben & Familie, über Ängste & Abgründe. Ein vielschichtiges Beziehungspuzzle mit überraschenden Wendungen.
Was Mathilda Kaminski und Xaver Sand verbindet ist die Liebe zur Literatur und zum Erfinden von Geschichten. Und so ist auch der Roman eine ganz große Geschichte, die sich aus vielen kleinen Geschichten wie ein Puzzle zusammen setzt. Oft habe ich beim Lesen Mitleid mit Mathilda, schäme mich auch manchmal für sie - und bin dann doch wieder von ihr beeindruckt. Xaver findet mein Verständnis und gleichzeitig meine Verständnislosigkeit. Ich glaube ein bisschen Mathilda und Xaver steckt in jedem von uns.

"Wie lange würde es dauern, dachte sie sich, bis er ihre Unzulänglichkeiten bemerken und sich aus dem Staub machen würde?  {...} Bevor er zu ihr kam, plagte sie sich oft eine Stunde lang, ihr Zimmer, das Abendessen und sich selbst so herzurichten, dass alles zwar gepflegt und ordentlich aussah, dennoch wie zufällig - und flippig - wirkte und auf gar keinen Fall konventionell rüberkam. Xaver hasst Konventionalität. {...} Wenn sie zusammen waren, beobachtete sie ihn, speicherte jede noch so kleine Bemerkung von ihm in ihrem Gedächtnis, sie wollte ihn so schnell wie möglich gut und genau kennen, welche Musik gefiel ihm?, welche Bücher beeindruckten ihn?, was waren seine Träume?, wie stellte er sich sein Leben vor? Und vor allem: Welcher Typ von Frau war seine Traumfrau? Alles wollte sie von ihm wissen, um darauf reagieren zu können."
Die Geschichte von Mathilda und Xaver ist so ganz anders als alles was ich bisher gelesen habe - und ich möchte hier nicht zu viel vorwegnehmen. Sie ist ein bisschen Krimi und ein bisschen Thriller, sie ist ein Drama und eine große Liebesgeschichte. Immer wieder gelingt es Judith Taschler, mich beim Lesen zu überraschen. Die Erzählweise ist ungewöhnlich, mit wechselnden Perspektiven und eingeschobenen Erzählsträngen. Mal schreiben sich Mathilda und Xaver E-Mails, mal sind sie gedanklich für sich, mal im Zwiegespräch, mal erzählen sie sich Geschichten. Durch den raffinierten Sichtwechsel kann man sich nie so ganz sicher sein, was Lüge und was Wahrheit ist und wo die Geschichte hinführen wird. Ganz großes Kino.

"Jeder Mensch trägt in sich ein Motiv, ein Thema, das die Partitur und Melodie seines Lebens prägt. Meistens ist es so, dass dieses Motiv stark verwoben ist mit der Herkunft und sich dann über das gesamte Leben ausbreitet und stärker wird. Man schafft es nicht, davon loszukommen, ganz egal, wie sehr man sich bemüht, es zumindest blasser werden zu lassen. Manchen Menschen ist ihr Lebensthema durchaus bewusst, zumindest in gewissen Lebensphasen, manchen wiederum nicht, oft deshalb nicht, weil sie nicht in der Lage sind, es sich einzugestehen. Und oft umspielt ein zweites Motiv das erste und gibt ihm die besondere, persönliche Note.”

Cover des Buches Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (ISBN: 9783446249417)

Bewertung zu "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" von Rafik Schami

Sophia oder Der Anfang aller Geschichten
tausend_lebenvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Angst, Widerstand & Menschlichkeit vor dem Hintergrund politischer Ereignisse in Syrien. Und eine ganz große Hommage an die Liebe.
Die wahre Religion ist die Liebe


"Die wahre Religion aber sei die Liebe, und die kenne weder Krieg noch Rassismus, noch Inquisition."
40 Jahre nach seiner Flucht aus Syrien kehrt Salman in seine Heimat Damaskus zurück. Nie hat sie ihn losgelassen - diese Stadt, die so unberechenbar und doch so wunderschön ist. Obwohl Salman in Rom, mit seiner italienischen Frau und seinem Sohn eine neue Heimat gefunden hat, obwohl die Geschäfte mehr als gut laufen, fühlt er eine tiefe Sehnsucht nach seinem Vaterland und die Gewissheit, dass er diese Reise antreten muss. Er weiß, dass es für ihn gefährlich werden kann, denn in Syrien gilt er als gesuchter Mann.
Salman nimmt uns mit auf seine Reise in die Vergangenheit, lässt uns eintauchen in das Land Syrien - von den Nachkriegsjahren bis zum Beginn des Arabischen Frühlings. Er lässt uns teilhaben an den Streifzügen durch seinige einstige Heimat Damaskus, doch Salman findet nicht mehr die Stadt aus seiner Kindheit vor, nicht die Stadt, die ihn in den letzten 40 Jahren in seinen Gedanken begleitet hat.

„Was für eine Gesellschaft hat der Assad-Clan in dieser Fabrik der Angst produziert? Die Syrer, das lauteste Volk des Orients, sind heute gebrochen, leise und feige. Sie kriechen und gehorchen.“
Die Leser lernen Salmans wunderbare, laute Familie kennen, seine Nachbarn, seine Freunde - und seine Feinde. Denn sein Cousin Elias, dem er einst das Leben gerettet hat und der inzwischen ein hochrangiger Offizier beim Geheimdienst ist, hat noch eine Rechnung mit ihm offen. Als Salman eines Tages sein Fahndungsfoto in der Zeitung entdeckt, muss er untertauchen und dabei jede Hilfe in Anspruch nehmen, die er kriegen kann...
Der Roman erzählt von der Geschichte Syriens, vom syrischen System mit seinen zersplitterten Geheimdienst-Apparaten und von den Menschen, die unter diesem Regime leben müssen. Er erzählt von Brutalität und Angst, aber auch von Widerstand und Menschlichkeit vor dem Hintergrund politischer Ereignisse in Syrien.

"In den arabischen Ländern wird es keine Veränderung geben, solange nicht die Struktur der Sippe zerschlagen wird, die uns körperlich und geistig versklavt. Die Sippe baut auf Gehorsam und Loyalität und pfeift auf Demokratie, Freiheit oder die Würde der Menschen. Sie durchdringt und zersetzt alles wie ein Pilz. Zuckerbrot und Peitsche: Ein bisschen Geborgenheit bietet sie gegen ein bisschen Würde..."
"Sophia" ist aber dennoch kein politischer Roman im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie eine große Hommage an die Liebe. Das Buch zeigt sie in all ihren Faszetten. Es erzählt von den ersten Frühlingsgefühlen und der Leidenschaft des Kennenlernens. Es erzählt von Untreue und Versuchung. Es erzählt von Ehe, Familiengründung und Mutterliebe. In einem zweiten Erzählstrang erleben die Leser außerdem die unglaubliche Liebesgeschichte von Karim und Aida. Wunderschön sind Rafik Schamis Beschreibungen über Liebe und Leidenschaft bis ins hohe Alter und man wünscht sich nichts sehnlicher, als diese Leidenschaft ebenfalls bis ins hohe Alter zu spüren.
Sophia ist daher auch ein Roman über starke Frauen, über Heimatliebe und Familie. Anfangs noch im Unklaren erkennt man im Laufe der Geschichte, dass Sophia, Salmans Mutter, die leise Heldin des Romans ist und das verbindende Element - eben der Anfang aller Geschichten.

Ist es nicht wundervoll, ein Buch aufzuschlagen und sich gleich in den ersten Satz zu verlieben?
Es ist mein erstes Buch von Rafik Schami - übrigens ein Synonym das "Damaszener Freund" bedeutet - und ich habe mich gleich in die orientalische Erzählweise des Autors verliebt. Trotz blumiger Worte wirkt sie überhaupt nicht kitschig, sondern einfach nur wunderschön. Sie lässt einen eintauchen in die Geschichte, in die Schicksale und in die Orte, die Schami mit seinen Worten zum Leben erweckt. Und so spürt man auch ganz deutlich die Liebe zu seiner Heimatstadt Damaskus, die er selbst seit 45 Jahren nicht mehr betreten kann. Gerade deshalb fand ich es beeindruckend, mit welcher Genialität es dem Autor gelingt, die Stadt vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen, wie er sie mit seinen Worten zu Leben erweckt. Und Schami weiß wovon er spricht. Als er in einem Interview gefragt wurde, was seinen Protagonisten Salman dazu treibt nach Damaskus zu reisen, obwohl er weiß dass diese Reise gefährlich werden kann, antwortete Schami:

"Es ist die Wunde des Exils. Auch ich stand 2009 kurz vor der Rückkehr, ich bekam ein sehr verführerisches Angebot von der syrischen Regierung, doch im letzten Augenblick habe ich abgelehnt, weil ich das Spiel durchschaut habe. Heute bin ich froh, dass ich meiner Eitelkeit nicht gefolgt bin."
Die Stimmung des heutigen Syriens musste der Autor daher in den Medien und in Gesprächen mit Oppositionellen unterschiedlichster Anschauungen einfangen.
Im gesamten Buch ist fühlbar, dass Rafik Schamis Herz sowohl für den Orient als auch für den Westen schlägt. Und so sind auch die Handlungsorte des Romans gewählt: Damaskus, Homs, Beirut, Heidelberg und Rom. Viele Kapitel sind mit passenden Sprichwörtern versehen, die sowohl dem Arabischen als auch dem christlichen Abendland entstammen, und die einen aus tiefster Seele mitten ins Herz treffen.
Der Autor versteht es, die verschiedenen Erzählstränge gekonnt zu einem gemeinsamen Nenner zu verknüpfen.  Dem Leser bietet sich eine unglaubliche Themenvielfalt: Krieg, Politik, Verfolgung, Flucht und Exil, Drama, Spannung, Angst, Verlust - und das alles beherrschende Thema: die Liebe.
Kurzum: UNBEDINGT LESEN!
Über den Autor
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und flüchtete 1971 nach Deutschland. Seine Bücher wurden in 24 Sprachen übersetzt und sind mehrfach ausgezeichnet. Schami ist in vielen Genres zuhause. Bei Hanser erschienen außer "Sophia" seine Romane "Die dunkle Seite der Liebe", "Das Geheimnis des Kalligraphen" und "Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte". Im Hanser Kinderbuch erschienen außerdem "Das Herz der Puppe" und "Meister Marios Geschichte". 

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Krimis und Thriller, Fantasy, Liebesromane, Jugendbücher, Historische Romane, Kinderbücher, Erotische Literatur, Literatur, Unterhaltung

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