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thelexxx

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Cover des Buches Die Chemie der Tränen (ISBN: 9783100102379)

Bewertung zu "Die Chemie der Tränen" von Peter Carey

Die Chemie der Tränen
thelexxxvor 9 Jahren
Die Mechanik einer Geschichte

Als der Kurator Matthew Tindall urplötzlich an einem Herzanfall stirbt, hinterlässt er eine Ehefrau, zwei Söhne und eine heimliche Geliebte. Catherine, eine auf alte Uhrenmechaniken spezialisierte Restauratorin Anfang vierzig, die gemeinsam mit ihm am Swinburne Museum, einem "fast unbekannten Schatzkästlein der Stadt London", arbeitete, ist diese Geliebte - und nun ist sie völlig allein; mit sich, ihrer schmerzenden Trauer und ihren Erinnerungen an eine jahrelange Affäre, die für sie - neben ihrer Arbeit - alles im Leben war. Von einem Tag auf den anderen ist für Catherine alles, aber auch wirklich alles aus den Fugen geraten. Lediglich einer ihrer Vorgesetzten am Museum scheint eingeweiht. Wissend um all das Elend und die Trauer im Verbogenen, betraut er Catherine, auch, um sie von alledem abzulenken, mit der aufwendigen Wiederinstandsetzung einer mysteriösen alten Apparatur, die ein englischer Gentleman namens Henry Brandling (der zweite große Protagonist dieses Romans) einst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Schwarzwald hatte bauen lassen, um seinem schwindsüchtigen Sohn in der Heimat ein Geschenk zu machen, das diesem wohlmöglich neuen Lebenswillen einhauchen würde. Catherine stürzt sich mehr und mehr in dieses neue Projekt, verschlingt die hinterlassenen Notizen und Pläne des Engländers und verliert so nach und nach, auch mithilfe des Wodkas, die Bindung zu allem, was sie einst hatte.

In "Die Chemie der Tränen" begibt sich der - im englischen Sprachraum deutlich bekanntere - australische Schriftsteller Peter Carey auf eine vielschichtige und intelligente Suche nach dem, was Natur und Mechanik im Wesentlichen voneinander zu trennen scheint: der Seele - und rüttelt dabei doch kräftig an diesem vermeintlichen Grundsatz. Sollte der Mensch alles daran setzen, das Leben auf künstliche Art und Weise selbst erschaffen zu können, um so vielleicht den Tod zu besiegen? Oder liegt in alledem die eigentliche Tragödie und Wurzel allen Übels?

Alles, was Carey in diesem Roman schreibt, scheint einen doppelten Boden zu haben, und auch die Akribie, mit der er, einem Mechaniker gleich, seine Figuren, Bilder und Szenen - im tatsächlichen Sinne - konstruiert, fügt sich auf der Metaebene beinahe schlüssig in das Gesamtbild des Romans. Alles greift zahnradgleich ineinander. Und doch ist es eben diese - möglicherweise gewollte - mechanische Kälte, die für seine wohlwollenden Anhänger einen genialen, literarischen Kniff Careys, für mich jedoch den unübersehbaren Schwachpunkt seines Romans ausmacht: Es fehlt der "emotionale Drive", wenn man so will. Keiner seiner Charaktere ist wirklich sympathisch oder liebenswert. Und so bleibt der Leser lediglich kühler Beobachter, ohne dass die von Carey heraufbeschworenen Szenen wirklich so etwas wie Spannung oder Mitgefühl hervorrufen; es fehlt ihnen die Seele. Das mag ein Kunstgriff sein, für mich fehlt dadurch jedoch ein essenzielles, erzählerisches Element, ohne dass dieser Roman zweifellos ein sehr kluges, anregendes und philosophisches, aber auch blutleeres Buch bleibt, das einen tatsächlich lebendigen Roman lediglich täuschend echt nachahmt.

Cover des Buches Der dreizehnte Monat (ISBN: 9783499248764)

Bewertung zu "Der dreizehnte Monat" von David Mitchell

Der dreizehnte Monat
thelexxxvor 10 Jahren
Kartographie eines Teenager-Jahres

Ohne Umschweife: David Mitchell zählt für mich zu den besten Erzählern der gegenwärtigen Literaturlandschaft, und auch, wenn er mit seinem 2006 auf Deutsch erschienenen Episoden-Epos "Der Wolkenatlas" sicherlich sein bisheriges - und gerade durch die mit Tom Hanks verfilmte Version viel beachtetes - Meisterstück geliefert hat, ist dies eigentlich nur ein weiterer Grund, sich einmal mit dem übrigen Schaffen des Briten auseinanderzusetzen.

In "Der dreizehnte Monat" spielt sich diesmal nun jedoch das ganze Geschehen in einer einzigen Episode ab: das Jahr 1982 im Leben des 13-jährigen Jason Taylor aus Black Swan Green, Worcestershire, einem grauen Kaff in der Provinz der englischen West Midlands. Black Swan Green ist genau jenes England, das wir uns, zugegebenermaßen ein wenig oberflächlich, vorstellen, wenn wir versuchen, an alles Englische, jenseits des allmächtigen Londons, der mit Schornsteinen gespickten Industriemetropolen Manchester, Birmingham oder Liverpool, oder der kitschigen pilcheresken Idylle Cornwalls, zu denken. Black Swan Green in der Thatcher-Ära, das sind kleine Häuser mit Garten, Wind, Regen, Äcker und Wälder. Ein Nest, wie Mitchell eine seiner Romanfiguren zynisch bemerken lässt, indem man nie ein Einheimischer werden würde, wenn mich nicht schon seit den Rosenkriegen dort lebte.

Für Jason Taylor ist es ein Jahr der Konflikte, denn diese scheinen sich in jeder Faser und auf jeder Ebene seines Lebens zu äußern. Da ist der Krieg zwischen England und Argentinien um einige karge Inseln, weit, weit entfernt von Britannien. Da ist das raue Leben in der Schule: Die Dorfjugend ist verstrickt in pubertäre Grabenkämpfe um Ansehen und Mädchen. Auch in der Familie ist bei Weitem nicht alles harmonisch: Während sich seine Eltern in einer Art ehelichem Kalten Krieg befinden, muss Jason immer wieder unter den ruppigen Anfeindungen seiner älteren Schwester leiden. Dabei hat der junge Teenager schon genug Probleme mit sich selbst. Er ist begeistert von Gedichten und Literatur, bemüht sich jedoch nach Kräften, dies geheimzuhalten, gelten solche Dinge doch unter Jungen als "schwul" und würden demnach seine Bemühungen um Anerkennung unter den Altersgenossen selbstverständlich torpedieren. Doch ein Problem schwebt über allem wie ein großer dunkler Schatten, der sich nie so ganz vergessen lässt: Jason stottert.

Wie seine Romanfigur war auch David Mitchell selbst in seiner Jugend Stotterer, was selbstverständlich den Verdacht autobiografischer Bezüge nahelegt, zumindest aber erklärt, wie es Mitchell möglich war, so eindringlich die Zerrissenheit und Verletzlichkeit des jungen Jason zu vermitteln. Jede Sekunde und jeder Gedanke sind ein Kampf mit dem Dämon - nur, wenn Jason schreibt, also mit seiner inneren Stimme spricht, wenn man so will, stottert er nicht.

"Der dreizehnte Monat" ist ein durchweg solider Coming-of-Age-Roman, eindringlich und persönlich, dessen sympathisch jugendlicher Erzähler mit all seinem Jargon und seiner dramatisierten Ausweglosigkeit Erinnerungen an die eigene Jugend als Junge in einer zuweilen kauzigen Kleinstadt weckt. Zugegeben, dies ist kein Wolkenatlas, zumindest aber die Kartographie eines Teenager-Jahres in einer komplizierten Welt, voller realer Grausamkeiten, Widersprüche und Missverständnisse.

Cover des Buches Das wilde Kind (ISBN: 9783423140652)

Bewertung zu "Das wilde Kind" von T. C. Boyle

Das wilde Kind
thelexxxvor 10 Jahren
Zurück zur Natur!

Als 1779 in den Wäldern, nahe des südfranzösischen Dorfes Aveyron, ein nacktes und verwahrlostes Geschöpf gesehen wird, dass sich flink und fremd wie ein Tier im Unterholz bewegt, sind sich die Männer des kleinen Ortes erst einmal gar nicht so sicher, was es war, dass sie dort gesehen haben. Doch die Berichte häufen sich und die Gewissheit beginnt zu dämmern, dass es sich bei dem vermeintlich gottlosen Geschöpf um ein in den Wäldern ausgesetztes Kind handele, statt um einen Dämon oder ein Tier, wie auch vermutet wurde. Wenn nun auch mit etwas Zögern, man war sich sicher, dass es so etwas nicht geben durfte, jetzt, wo Frankreich im Aufbruch war. Schnell verbreitet sich die Nachricht vom Wolfskind im ganzen Land. Eilig beginnt man, sich des streunenden Kindes anzunehmen, es zu fangen und ihm einen Namen zu geben - entspricht dies doch der vermeintlichen Ordnung der Dinge. Das wilde Kind, so ist man sich einig, muss zivilisiert werden, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Doch der junge Victor, wie man ihn inzwischen genannt hat, sträubt sich mit jeder Faser seines geschundenen Körpers gegen das Leben, das ihm aufgezwungen werden soll.

Hat uns der Fortschritt blind für die eigentlichen Werte des Lebens und der Natur gemacht? Haben wir unseren Sinn für den Einklang verloren und befinden uns auf dem Niedergang? Ist also vielleicht eher eine Dezivilisation erstrebenswert? Das sind die Fragen, denen sich der amerikanische Literatur-Rebell in seiner - im Übrigen auf wahren Begebenheiten beruhenden - Erzählung widmet.

"Das wilde Kind" ist reinste Zivilisationskritik à la Boyle, dem völlig zurecht stets pessimistischen Öko-Rock-'n'-Roller der literarischen Gegenwart. Während die konsumierende Welt sich im tiefschwarzen Strudel aus Gier und Müll abwärts bewegt und sich gleichsam in schnöder Ignoranz und Selbstbetrug übt, schreibt Boyle, patzig in der Sonne Kaliforniens sitzend, die Beine überschlagen, weiter gegen den bedrohlichen Zeitgeist der ewigen industriellen Revolution, und für das sterbende Gewissen unserer Epoche. Es ist eben diese Haltung, die spürbar zwischen den nüchtern gehaltenen Zeilen Boyles nahezu rousseauistischer Geschichte um das Wolfskind im neuzeitlichen Frankreich, prangert.

Boyle kann nicht aus seiner Haut und das ist gut. "Das wilde Kind" ist eine gelungene Erzählung (auch jenseits jeglichen Umweltaktivismus), deren sprachlicher Glanz von Dirk van Gunsteren hervorragend ins Deutsche gerettet wurde.

Cover des Buches Der Fürst des Parnass (ISBN: 9783596198825)

Bewertung zu "Der Fürst des Parnass" von Carlos Ruiz Zafón

Der Fürst des Parnass
thelexxxvor 10 Jahren
Weiterhin im Windschatten

Die Bücher und Geschichten Carlos Ruiz Zafóns waren schon immer als eine Art Liebeserklärung an die Literatur selbst zu verstehen, und daraus machte der spanische Bestsellerautor auch nie einen Hehl. Stets bediente er Zitate und Anspielungen auf die Großen der Zunft und webte vermeintlich klassische literarische Motive wie Liebe, Tod und Rache in die wohlig warme Flickendecke aus Mythen und Legenden um seine Heimatstadt Barcelona, das er in seinen Büchern gerne zu einer romantisch düsteren Festung, voll von Geheimnissen und Abenteuern, erhebt. Während die früheren Gehversuche Ruiz Zafóns im Fantasy- und Jugendbuchsegment der Literaturlandschaft noch eher unbemerkt blieben (und zwar nicht ganz zu unrecht), avancierten seine Romane um den mysteriösen "Friedhof der vergessenen Bücher" in Barcelona, angefangen mit dem wirklich großartigen "Der Schatten des Windes", dann zu internationalen Megasellern, die sowohl von ehemaligen deutschen Außenministern als auch von Heranwachsenden verschlungen wurden.
Mit "Der Fürst des Parnass" ist seit ein paar Wochen nun ein weiteres Puzzleteil aus Ruiz Zafóns Kosmos um den "Friedhof der vergessenen Bücher" auch auf Deutsch zu haben. Diesmal in Form einer kleinen, knapp neunzigseitigen Erzählung, die anlässlich des Welttages des Buches und zugunsten karitativer Zwecke im Fischer-Verlag erschienen ist. Bisher hatte ich stets den Standpunkt vertreten, dass man, anstatt sich den Nachfolgebüchern "Das Spiel des Engels" (2008), "Der Gefangene des Himmels" (2012) oder dem eigentlich älteren, in Deutschland jedoch erst später veröffentlichten, "Marina" (2011) zu widmen, lieber viermal hintereinander "Der Schatten des Windes" (2003) lesen sollte - von den anderen Büchern Ruiz Zafóns ganz zu schweigen. 
Leider muss ich diesem Prinzip treu bleiben, denn was sich schon bei den letzten Romanen angedeutet hat, tritt auch in der kurzen Erzählung, "Der Fürst des Parnass", zutage. Diese neunzig Seiten dokumentieren gar das ganze Dilemma. Sicher, Ruiz Zafón war nie ein schnöder Realist oder nüchterner Schreiber, und gerade diese Eigenschaft mochten wir ja so an ihm, aber das hier trieft nur so vor schnulzigem Pathos - und zwar so sehr, dass man sich fast wundert, wie sich die Seiten des Buches überhaupt voneinander lösen können. Denis Scheck hatte wahrlich recht damit, als er, bezogen auf den letzten Roman Ruiz Zafóns, von "literarischer Zuckerwatte" sprach. Und wie "Der Gefangene des Himmels" eine reine Homage und Ehrerbiertung an Alexandre Dumas' "Der Graf von Monte Christo" war, ist "Der Fürst des Parnass" nun Ruiz Zafóns Liebeserklärung an den spanischen Nationaldichter Miguel de Cervantes, den Schöpfer des legendären "Don Quijote". Ohne Ruiz Zafón nun Überheblichkeit oder Selbstherrlichkeit unterstellen zu wollen, muss zumindest die Frage danach erlaubt sein, wer hier wessen Werk erheben soll, denn die um das Jahr 1600 angesiedelte Erzählung macht den altehrwürdigen Cervantes - einfach mal blindlinks - zu einem Teil von Ruiz Zafóns Geschichte um den "Friedhof der vergessenen Bücher", dessen Ursprünge nun hier auf die Zeit des spanischen Nationalheiligtums zurückgehen. All dies geschiet darüber hinaus nicht einmal besonders geschickt. So trifft Cervantes schlicht auf Urahnen der Charaktäre aus "Der Schatten des Windes".

Auch zu lesen auf: buchpiraten.blogspot.com

Cover des Buches Stoner (ISBN: 9783423280150)

Bewertung zu "Stoner" von John Williams

Stoner
thelexxxvor 10 Jahren
Der Wert eines Lebens

William Stoner, der namensgebende Titelheld von John Williams dritten Roman, wird 1891 als Sohn einfacher Farmer in das provinzielle Herz des Mittleren Westens der USA geboren. Booneville, Missouri, das bedeutet ein tristes Leben in harter Arbeit auf dem Feld, Staub, Schmutz und die unnachgiebige feste Erde, die Jahr um Jahr, Generation um Generation die Lebensgrundlage der Familie Stoner gewesen ist. Es ist ein raues, ein ärmliches Leben hier draußen und jede Saison scheinen die Ernten schlechter und schlechter zu werden. Doch mit diesem Schicksal scheint hier kaum jemand zu hadern; dafür bleibt am Ende eines harten Tages auch schlicht zu wenig Zeit. Mit dem neuen Jahrhundert wehen dann jedoch auch neue Ideen von den Städten auf das Land herüber, und so beschließt Williams Vater, den jungen und überraschten Stoner nach dessen Highschool-Abschluss auf die staatliche Universität nach Columbia zu schicken, um Landwirtschaft zu studieren und so der kleinen Farm den Weg in die Zukunft zu ebnen. Ohne Bedenken fügt sich William in sein Schicksal - ebenso, wie er es gewohnt ist. In Columbia, an der University of Missouri, begegnet Stoner dann jedoch in einem eher nebensächlichen Einführungskurs seiner großen und ewigen Liebe: der klassischen englischen Literatur, der er fortan sein Leben widmen und bis zu seinem Tod treu bleiben wird.

Und so folgt der Roman einem ganzen Leben mit all seinen großen Momenten der Wärme, aber natürlich auch der Tragik. Der Protagonist ist dabei stets alles andere als ein niedlich-trotteliger, hundertjähriger Forrest-Gump-Verschnitt, sondern vielmehr ein in sich gekehrtes und behutsames Paradebeispiel dafür, dass sich zu viel Genügsamkeit oft auf der Grenze zur Selbstaufgabe bewegen kann. "Stoner" ist nicht nur das grandiose Portrait eines Menschen, einer Ehe oder des Mikrokosmos Universität, das noch dazu eine fast unbeteiligte, jedoch auch eigenwillig traurige Perspektive auf eine der grausamsten Epochen der Menschheit, nämlich auf die erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts eröffnet, im Kern handelt der Roman von nicht weniger als einer unserer ganz großen Fragen: Was macht den Wert eines Lebens aus?     

Es gibt Bücher, bei denen wird einem erst klar, wie unglaublich besonders sie sind, nachdem man die letzten Zeilen gelesen und den Buchdeckel wieder zugeklappt hat. "Stoner" von John Williams ist eines dieser Bücher, die für lange Zeit nachhallen. Ebenso zart wie gewaltig, und mit einer ausgesprochen treffenden und wunderbaren Sprache ausgestattet, ist diese, in den vergangenen Jahrzehnten nahezu unbeachtete, Geschichte aus dem Jahre 1965 wahrlich ein Diamant, der nun völlig zurecht seinen Weg zurück ans Tageslicht gefunden hat. Manchmal ist es also tatsächlich gar nicht so nicht verkehrt, dem Hype zu glauben, denn "Stoner" ist nicht nur mehr als lesenswert und mitreißend, der verspätete Ruhm ist auch absolut gerechtfertigt.

Auch nachzulesen auf: www.buchpiraten.blogspot.com

Cover des Buches Süßer König Jesus (ISBN: 9783849303112)

Bewertung zu "Süßer König Jesus" von Mary Miller

Süßer König Jesus
thelexxxvor 10 Jahren
Die letzten Tage Kaliforniens

Schreibt man in den USA einen Roman über das Erwachsenwerden und die damit verbundenen Schwierigkeiten, so scheint es unumgänglich zu sein, nicht mit dem vermeintlichen Heiligen Gral der Coming-of-Age-Literatur, Salingers "Der Fänger im Roggen", verglichen zu werden - was in den meisten Fällen nicht nur unfair, sondern auch schwachsinnig ist. Doch diesem scheinbaren Naturgesetz entsprechend schreien es die Spatzen der Literaturszene bereits von den Dächern der Verlagshäuser und Medienanstalten: Mary Miller sei es nicht nur gelungen, einen weiblichen Holden Caulfield auferstehen, sondern ihn auch erneut die Wirren des Heranwachsens erleben zu lassen - in einem neuen, einem aktuellen Amerika, zwischen Wirtschaftskrise, gekränktem Stolz und religiösem Fundamentalismus. Millers Debütroman, "Süßer König Jesus", der im Amerikanischen übrigens den fantastischen Titel "The Last Days of California" tragen wird, ist jedoch wesentlich mehr als eine bloße Reminiszenz an einen altehrwürdigen Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wie viele gute Geschichten beginnt auch "Süßer König Jesus" auf dem Rücksitz eines Wagens; dort sitzen die fünfzehnjährige Jess und ihre zwei Jahre ältere Schwester Elise. Gemeinsam mit ihren Eltern befinden sich die beiden Mädchen auf dem Weg von Alabama nach Kalifornien - wo ließe es sich auch besser auf den Weltuntergang warten? In sieben Tagen würde alles im Feuer der Apokalypse vergehen, der Erlöser würde zurückkehren und diejenigen, die wahren Glaubens sind, würden mit ihm ins Paradies gehen - so hatte es zumindest Marshall, der Prophet der christlich-fundamentalistischen Sekte, der auch Familie Metcalf angehört, vorhergesagt. Doch während ihr sturer Vater mit missionarischem Eifer am Steuer des alten Fords sitzt, und sich Kleinkriege mit der rebellischen und vor allem heimlich-schwangeren Elise liefert, weiß die Titelheldin, Jess, langsam überhaupt nicht mehr, woran sie noch glauben und woran sie sich halten soll. Verzweifelt ist Jess hin-und-hergerissen zwischen Religion und der Wirklichkeit der Pubertät, zwischen sich selbst und der Familie, zwischen der Zuneigung zu ihren Eltern, und der zu ihrer zynischen Schwester Elise - aber auch dem Neid und der latenten Eifersucht auf deren gutes Aussehen. Und währenddessen rast an den Fensterscheiben des, mit christlichen Flyern vollgestopften, Wagens unentwegt das vermeintlich wahre Amerika vorbei, und der missionarische Roadtrip führt die Familie über staubige Highways und Interstates von Kaff zu Kaff, von Tankstelle zu Tankstelle und von Motel zu Motel, immer dem vermeintlichen Weltuntergang entgegen.

Zwischen Fast Food, Selbstzweifeln und Dankgebeten erzählt Mary Miller in wunderbar schonungslosen und dennoch nahezu poetischen Worten vom komplizierten Innenleben einer amerikanischen Familie aus dem Bible Belt - und ganz nebenbei von den Wirrungen und Sehnsüchten des Teenager-Daseins und der Konfrontation mit den Paradoxen der Welt der Erwachsenen. Mit ihrem unglaublich scharfen Blick für Details, Stimmungen und Emotionen ist es Miller gelungen, einen wirklich fantastischen und klugen Roman der Gegenwartsliteratur zu schreiben, der für mich nicht nur zu dem Besten gehört, was ich seit Jahren gelesen habe, sondern auch gleichzeitig Erwartungen und Vorfreude auf mehr Romane aus der Feder der - für mich - brillanten Texanerin weckt.

Lesen Sie "Süßer König Jesus" von Mary Miller, erschienen in der hervorragenden Übersetzung von Alissa Walser - andernfalls würde Ihnen wirklich etwas Seltenes und Großartiges entgehen!

Cover des Buches Vincent (ISBN: 9783257236477)

Bewertung zu "Vincent" von Joey Goebel

Vincent
thelexxxvor 10 Jahren
Das Paradies als Feind des Künstlers

In die Jahre gekommen und todkrank, blickt Medienmogul Foster Lipowitz zurück auf sein Leben, und stellt dabei fest, dass sein Imperium aus Verlagen, Kino-, TV- und Musikfirmen in den vergangenen Jahrzehnten wahrlich nichts als immer seichter werdende, gewalt- und pornografiegeschwängerte Wegwerfunterhaltung produziert hat, die tatsächlich nichts mehr mit vermeintlich richtiger Kunst gemein hat; Kunst, geschaffen für die Ewigkeit, statt bloßer Bedürfnisbefriedung eines anspruchslosen, müden und verdummten Publikums. Lipowitz selbst hat zu dieser Verdummung der Massen beigetragen, dessen ist er sich nun, am Abend seines Lebens, bewusst - und so will er keineswegs das Zeitliche segnen.

Mit unternehmerischer Akribie fasst der gealterte Magnat einen komplexen Plan, wie es gelingen soll, der Hochkultur ihren Weg in die modernen Medien der Unterhaltungsindustrie zu ebnen. Eine zweite Renaissance in Form von Kinofilmen, Popsongs und Fernsehserien soll herbeigeführt werden - durch eine neue, wahrhaft künstlerische Elite von Autoren. Um dies zu bewerkstelligen, setzt die zwielichtige, von Lipowitz gegründete, "New Renaissance" geheimniskrämerisch nicht nur auf eine umfassende Frühförderung hochbegabter Autorentalente, die im Rahmen einer Academy mitten im Nirgendwo - bereits von Kindesalter an - in den entscheidenden Disziplinen zu Songwritern und Drehbuchautoren ausgebildet werden, sondern vertritt außerdem den Ansatz, dass wahre und große Kunst nur von einem leidenden Künstler hervorgebracht werden kann. Und tatsächlich, wirft man einen Blick auf die Geschichte, so scheint es, als hätten viele der größten Künstler eine gewisse Portion dieser großen Traurigkeit gemein. Weltschmerz, unerwiderte Liebe, ein Leben in Armut, Sucht, Depression, Krankheit oder eine schwere und komplex-fördernde Kindheit scheinen die perfekten Zutaten für zeitlose Meisterwerke zu sein. Man denke nur an Chopin, Mozart, Van Gogh, Poe, Melville oder Wilde - die Liste könnte noch endlos weitergehen.

Für Foster Lipowitz und seine Mitstreiter von "New Renaissance" steht somit fest: Um zu gewährleisten, dass die neue Generation von Autoren Bahnbrechendes hervorbringt, muss sie diesen Weltschmerz, diese tiefe Traurigkeit empfinden, und wenn nicht, dann muss eben nachgeholfen werden. Und so wird auch dem talentiertesten der jungen New-Renaissance-Schüler, Vincent Spinetti, in dem zynischen und gescheiterten Harlan Eiffler, ein persönlicher Manager (mehr Rache- als Schutzengel) zur Seite gestellt, der fortan im Geheimen dafür Sorge tragen soll, dass es sich im Leben und in der Liebe für den sensiblen Vincent wirklich niemals zum Besten wendet - zum Wohle der Kunst versteht sich. Und der perfide Plan scheint tatsächlich aufzugehen.

Joey Goebels tiefschwarze Satire über den Zirkus hinter dem Zirkus unserer gegenwärtigen Medienkulturlandschaft ist nicht nur erschreckend unterhaltsam zu lesen, zielsicher und amüsant, sondern entfacht außerdem einen tiefsinnigen Exkurs über Inspiration, die Kunst und ihrer Perversion und Vergänglichkeit, Gewissen, Moral und den Wert des Lebens selbst. Mühelos und voller literarischer Leichtigkeit überspringt Goebel mit "Vincent" die Latte, die er sich selbst legt. Ein gutes, grundsolides, witziges, nachdenkliches und - wie Sie sehen - vielschichtiges Buch, das man lesen sollte, wenn man sich auch schon einmal über all den Scheiß im Radio, im Kino und im Fernsehen geärgert hat.

Cover des Buches Der Wind in den Weiden (ISBN: 9783868734232)

Bewertung zu "Der Wind in den Weiden" von Kenneth Grahame

Der Wind in den Weiden
thelexxxvor 10 Jahren
Cover des Buches Die Schatzinsel (ISBN: 9783868735727)

Bewertung zu "Die Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson

Die Schatzinsel
thelexxxvor 10 Jahren
Die Mutter aller Abenteuer

Als ich vor ein paar Wochen diese Ausgabe von Stevensons Klassiker in die Hände bekam, vorsichtig den Schutzumschlag entfernte und die Prägung des Jolly Roger, also des Totenkopfes mit zwei gekreuzten Knochen, auf dem dunkelgrün ledrigen Buchdeckel erblickte, schoss die Vision einer fiktiven Zukunft vor mein inneres Auge: Während draußen ein düsterer Sturm über dem Meer tobt und die Wellen an die schroffe Küste peitscht, auf der mein kleines fiktives Haus steht, gehe ich mit genau diesem Buch im Arm über knarrende Dielen in das Zimmer meiner beiden fiktiven Kinder. Und dann möchte ich den Beiden aus genau dieser Ausgabe des legendären Abenteuerromans von 1883 vorlesen.

Nachdem das australische Illustratoren-Genie Robert Ingpen bereits mit illustrierten Neuauflagen von Jugendbuchklassikern wie "Der Zauberer von Oz", "In 80 Tagen um die Welt", "Alice im Wunderland" oder "Tom Sawyer" brillierte, die für den deutschen Buchmarkt ebenfalls im Hause Knesebeck erschienen sind, ist mit "Die Schatzinsel" nun auch ein weiteres Meisterwerk im Gewand dieser fantastischen Reihe erschienen. Und auch wenn es nach Blasphemie klingen mag: Ingpen ist so gut in seinem Handwerk, dass selbst diese völlig zurecht gerühmten Meilensteine der Weltliteratur von seinen Arbeiten profitieren, entwickeln die Geschichten, garniert mit den träumerisch detaillierten Gemälden Ingpens, doch noch einmal einen ganz neuen märchenhaften und romantischen Charme.


Die Geschichte um den jungen Jim Hawkins, dem durch Zufall eine gefährlich begehrte Karte in die Hände fällt, die den Weg zum Schatz des berüchtigten Piratenkapitäns Flint weist, sollte eigentlich jedem ein Begriff sein, wurde der Stoff des Schotten Stevenson innerhalb der letzten einhundert Jahre doch immer wieder neu aufgelegt, gefühlte tausendmal verfilmt und unzählige Male zum Gegenstand von wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Dokumentationen oder sogar Verschwörungstheorien gemacht. Eine davon geht, nebenbei bemerkt, übrigens davon aus, dass die Figur des Jim Hawkins keinem Geringeren als Stevenson selbst nachempfunden sei, der also einfach seine Jugenderinnerungen zu Papier gebracht hätte.

Der junge Hawkins sucht Rat beim Arzt Livesey und dem wohlhabenden Mr. Trelawney, die daraufhin ein Schiff, die Hispaniola, chartern, eine Crew anheuern und mit Kurs auf die mysteriöse Schatzinsel des Kapitän Flints in See stechen. Auch Hawkins ist als Schiffsjunge mit an Bord. Doch der geschwätzige Trelawney erwies sich als etwas zu redselig im Vorfeld der brisanten Glücksritter-Expedition und so kam es, dass sich ehemalige Besatzungsmitglieder des berüchtigten Kapitän Flints selbst unter die Crew der Hispaniola mischen konnten - allen voran der bösartig charmante, einbeinige Schiffskoch "Long" John Silver, ein Bild von einem Bösewicht. Und natürlich, die Piraten planen bereits die blutige Meuterei, sobald der legendäre Schatz in greifbarer Nähe ist.

Robert Louis Stevenson hat sich mit "Die Schatzinsel" völlig zurecht ein Denkmal für alle Zeiten gesetzt; eine wunderbare Geschichte voller Abenteuer, Spannung, Witz und Magie. Man hört förmlich die tosende See rauschen, spürt die brennende Sonne und den salzigen Westwind auf der Haut und weiß wieder, was es heißt, mit Hilfe eines Buches - und noch dazu eines so schönen, in einer so fantastischen Ausgabe - in eine andere, wunderbare Welt einzutauchen. 

Auch zu lesen auf: buchpiraten.blogspot.com

Cover des Buches Die Juliette Society (ISBN: 9783453268869)

Bewertung zu "Die Juliette Society" von Sasha Grey

Die Juliette Society
thelexxxvor 10 Jahren
Schuster, bleib' bei deinen Blowjobs.

Ich will gar nicht lang um den oft zitierten heißen Brei herumreden. Eigentlich sollte man Sasha Grey dankbar sein, denn mit "Die Juliette Society" ist der ehemaligen Porno-Actrice ein Denkmal, nein, was sag ich, ein Mahnmal gelungen, erinnert es uns doch schmerzhaft an vieles, das Literatur nicht sein sollte. Jetzt immer nur auf der Vergangenheit Marina Hantzis, so Greys bürgerlicher Name, herumzureiten, mag unfair erscheinen, aber es entspricht doch schließlich genau dem Kalkül, welches sich die Autorin, ihr Management und ihre Verleger selbst zu eigen machen, denn ohne die Pornovergangenheit Sasha Greys hätte diese Sammlung an Papierverschwendung vermutlich nicht einmal einen Platz in der Kummer gewohnten Erotikliteraturlandschaft gefunden.

Sasha Grey mag, gemessen an den meisten ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, sicherlich etwas Besonderes sein, interessiert sie sich doch so herzzerreißend für Filmgeschichte, beschäftigt sich mit Philosophie, liest fast ununterbrochen und vergöttert avantgardistische Musik vergangener Jahrzehnte. Der Kunst, der Kunst, ja der Kunst habe sich dieser gebildete Sonderling im Körper eines scharfen Dirty-Girls verschrieben. Und auch ich habe ihr geglaubt, als der Rolling Stone vor ein paar Jahren Sasha Grey mit einem Interview und einer Feature-Story mit einem weltweiten Publikum bekannt zu machen versuchte.

Und so ist es im Lebenslauf der äußerst ambitionierten Grey nur natürlich, dass nach der Pornokarriere und dem ersten Foto-Buch "Neü Sex" nun mit "Die Juliette Society" auch endlich ein Roman aus ihrer Feder erschienen ist. Ich will ehrlich sein, ich war gespannt! Sofort, nachdem ich davon gehört habe, drängte ich mich bei den Damen und Herren der Random-House-Abteilung "Heyne Hardcore" auf, um ein Rezensionsexemplar zu ergattern - und dank des ganzen PR-Zirkus, ausgelöst durch das Erscheinen Sasha Greys auf der diesjährigen Buchmesse, stand es um die Kapazitäten wohl so günstig, dass mir innerhalb weniger Tage eines zugesandt wurde.

Doch leider wird bereits nach zwei gelesenen Seiten eines bittere Gewissheit: Ein Image kann kein Buch schreiben, denn nur ein richtiger Mensch mit all seinen Facetten ist hierzu in der Lage. Sasha Grey ist nicht mehr als ein Image. Die fade und völlig von jeglicher Tiefe befreite Story um die Filmstudentin Catherine, die in den Strudel ihrer eigenen Fantasien gerät, während sie sich mit einer ominösen Sex-Geheimgesellschaft einlässt, hätte nun wirklich auch auf die Rückseite eines Sex-Shop-Kassenbons gepasst, stattdessen bekommt der Leser in dieser auf 320 Seiten aufgeblähten Fick-Schmonzette jede Menge angeberisches Namedropping quer durch die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, haufenweise aufgesetzen Palahniuk-Slang, Sexszenen, die schocken sollen, die meiste Zeit jedoch eher nerven, und einen so handlungsleeren Plot, wie eher einem von Sasha Greys alten Filmen angemessen wäre. 
Permanent drängt sich einem das Gefühl auf, man wird beim Lesen dieses Ergusses um sexuelle Unter- und Überwerfung lediglich Zeuge des Versuches vonseiten Greys, das eigene Profil zu schärfen, was hier jedoch meisterlich in die Hose geht, denn die Hülle ist dünn. Zu offensichtlich kokettiert sie mit dem eigenen Image, stets jedoch, ohne wirklich etwas zu sagen zu haben. Laberig, langweilig und eingebildet, vor allem aber ohne jede Leidenschaft, dümpelt "Die Juliette Society" langsam vor sich hin und lässt mich, gerade nach den teilweise doch ganz guten Kritiken, voller Unverständnis zurück. "Die Juliette Society" ist nämlich einfach nur ein schlechtes Buch.

Ganz zu schweigen von der Prosa Greys, die sich mitunter dann so liest: "Ich sehe Anna, die mitten in einer großen, düsteren, nasskalten, schmutzigen, unheimlichen Lagerhalle an eine Kloschüssel auf einem Betonsockel gekettet ist" oder "Ich weiß nicht, ob ich Anna ficken oder sie retten will". Da muss ich schon fast lachen. Wem hierbei die Hand in die Hose gleitet, der hat es wirklich nicht anders verdient. Und wer hier eine fantastisch künstlerische Meta-Ebene vermutet, der ebenfalls nicht. Ich habe schon schlechtere Bücher gelesen, aber bestimmt nicht all zu viele.

Auch zu lesen auf: buchpiraten.blogspot.com

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