David lebt in einer Berliner „Homo-WG“ (seine Worte) und seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, einen zahlenden Mitbewohner für das kürzlich frei gewordene Zimmer zu suchen. Kai, gerade mit seinem Rucksack von einer Weltreise zurück, noch ohne Studienplatz und vor allem ohne Job, scheint nicht der geeignete Kandidat zu sein. Trotzdem nimmt David ihn mit heim und sorgt sogar dafür, dass er eine Nacht lang kostenlos in der WG schlafen kann. Seine soziale Ader lässt sich einfach nicht abstellen …
David hadert mit seinen Gründen, Kai in die WG zu holen: Einerseits findet er ihn der ersten Sekunde an unheimlich anziehend und kommt nicht dagegen an ihn heimlich anzuschmachten, andererseits hat er überhaupt keine Lust auf die Komplikationen mit einer Hetero zusammenzuwohnen, der ihm gegenüber zwar nicht ganz gleichgültig ist, aber offen zugibt, dass er sich eine ernsthafte Beziehung zu einem anderen Mann nicht vorstellen kann.
Zwischen Job, Studium und sozialem Engagement findet David kaum genug Zeit zum Schlafen, geschweige denn dafür, sein Liebesleben auf die Reihe zu bekommen. Zum Glück sind die Jungs und Mädels in seiner WG nicht nur Mitbewohner, sondern auch die besten Freunde, die sich ein Mensch vorstellen kann.
Ich bin ohne wirkliche Erwartungen an diese Geschichte heran gegangen, eigentlich sogar ohne den Klappentext groß zu lesen, weil mich schon das letzte Buch von Tim Spohn völlig in seinen Bann geschlagen hat. Im Gegensatz zum „Faustus-Institut“ (Wann kommt eigentlich endlich die Fortsetzung???) enthält „Big Blind“ keinerlei Urban-Fantasy Elemente, sondern ist ein zeitgenössischer Roman über junge Erwachsene und ihre Suche nach einem Platz im Leben. Gemeinsam haben sie alle eigentlich nur eines: ihre Homosexualität. Diese bedingt aber bei den meisten erhebliche Probleme mit den Eltern und / oder der Umgebung, die nicht immer freundlich reagiert. Die WG bildet eine eingeschworene Gemeinschaft, in der sie sie selbst sein können und bietet ihnen den Rückhalt, den die Familien nicht geben können oder wollen.
Tim Spohn schafft es, eine wunderbare Liebesgeschichte, voller Zärtlichkeit und auch voller Romantik zu präsentieren, ohne den Zweifel, den Stress und die Probleme zu verschweigen, mit denen David und seinen Mitbewohner zu kämpfen haben. Manche der Schwierigkeiten sind hausgemacht, wie die vom Davids Freund Nik, der mit 25 schon Angst vorm Alter hat, oder auch die von David selber, der immer zuerst an andere und erst ganz zum Schluss an sich und seine Bedürfnisse denkt.
Andere werden durch die Erwartungen und Vorurteile der Familien in die WG hereingetragen. Es ist nicht fair, dass alleine die sexuelle Orientierung dazu führt, dass der junge Freddy von seinen Eltern regelrecht gehasst wird und der ruhige, kompetente Berkan seine Neigungen nur im Geheimen ausleben darf. Auch wenn die WG immer wieder für ihre Bewohner da ist, so können sie doch ihre Familien und deren Erwartungen nicht einfach vor der Tür lassen. Sie tragen die Menschen im Herzen und es ist schwierig und schmerzhaft, sich damit auseinanderzusetzen, dass diese Liebe nach dem Outing nicht mehr erwidert oder vielleicht sogar in abgrundtiefe Abneigung umschlagen wird.
David hat übrigens ein anderes Problem: Er weiß, wie und wo er ohne Probleme schnellen, anonymen Sex bekommen kann. Aber er sehnt sich nach einem festen Partner, einem Menschen mit dem er über Gott und die Welt reden kann, mit dem er abends einschläft und morgens aufwacht. Dass er sein Herz ausgerechnet an den heterosexuellen Kai verliert, lässt ihn panisch werden. Vor lauter Sorge, dass diese Beziehung keine Zukunft haben könnte, will er sie erst gar nicht beginnen.
Mich hat „Big Blind“ begeistert. Ich pokere nicht und weiß nicht wirklich, was der Begriff in Zusammenhang mit dem Spiel bedeutet. Mir gefällt er trotzdem als Titel für das Buch außerordentlich gut. David, Kai und ihre Mitbewohner und Freunde wissen (so wie wir alle) nicht wirklich, was die Zukunft bringen wird. Blind und mit aufgeregt klopfendem Herzen müssen sie (und wir) es wagen, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, wohl wissend, dass jede Handlung Konsequenzen hat. Manche sind unerwartet, dramatisch und schrecklich. Andere wieder so wunderbar, dass es sich lohnt, sich in „blindem“ Vertrauen fallen zu lassen, oder - um vielleicht doch wieder in den Poker-Jargon zu fallen - alles aufs Spiel zu setzen.
Fazit: Die Geschichte in „Big Blind“ ist ganz einfach und doch unendlich vielschichtig. Sie ist berührend, eindringlich, manchmal richtig heiß und einfach wunderbar erzählt. Der Handlungsbogen ist rund und doch habe ich eigentlich noch lange nicht genug davon. Die Charaktere wirken so lebendig und echt, dass ich ihnen von Herzen alles Gute wünsche und hoffe, irgendwann, irgendwie noch einmal etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Der Roman ist eine Romanze, keine Frage. Aber er hat auch etwas von einem richtig gut geschriebenen Entwicklungsroman.
Ich könne jetzt noch eine ganze Weile weiter schwärmen. Mache ich aber nicht. Ich jede hier 10 von 5 Punkten und eine wirklich begeisterte Leseempfehlung. Dann erfährt man selber, warum David von seinen WG-Mitbewohnern den Beinamen „Sankt“ bekommen hat und wer am Ende sein Ritter sein wird.
P.S.: Warum das etwas nostalgisch anmutende Titelbild richtig gut zu einer Geschichte passt, die eigentlich hauptsächlich im Berliner Nachtleben spielt, offenbart sich am Ende.