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weg-von-hier_16

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Cover des Buches Endlich daheim (ISBN: 9783887697976)

Bewertung zu "Endlich daheim" von Regina Nössler

Endlich daheim
weg-von-hier_16vor 8 Jahren
Kurzmeinung: Ein spannender und zugleich einfühlsam erzählter Thriller mit überzeugenden Charakteren und eindrucksvollen Bildern
Aus der Welt gefallen?

„Kim nahm oft Dinge wahr, die den anderen verborgen blieben, als würde sie in eine Art Parallelwelt blicken, zu der nur sie Zutritt hatte. Die Kim-Welt. Sie war darin allein. Sie war fast immer allein, selbst jetzt, als sie zusammen mit fünfundzwanzig anderen im Klassenraum saß.“ (S. 5)
Die fast 14-jährige Kim ist eine Außenseiterin: Sie wird in der Schule wegen ihrer Figur gehänselt, sie gilt als zu ernst, kompliziert und verträumt und selbst ihre Mutter äußert manchmal die Befürchtung, dass Kim nicht ganz normal sei und sich Dinge einbilde, die nicht existieren. Auch mit ihrer „Notfreundin“ (S. 18) Merle hat sie nichts gemeinsam – abgesehen von der Tatsache, dass beide Mädchen außerhalb der Klassengemeinschaft stehen. Die einzigen Menschen, von denen sie sich verstanden fühlt, sind ihre Tante Felicitas und ihr geheimnisvoller Freund Peter. Bis zu einem gewissen Grad hat Kim sich mit dieser Situation arrangiert: Sie ist vielseitig interessiert, liebt Bücher, einsame Spaziergänge und die Geborgenheit in ihrem Zimmer – und sie freut sich sehr auf ihren 14. Geburtstag. Doch am 14. November, dem Tag vor ihrem lange herbeigesehnten Geburtstag, ist plötzlich nichts mehr, wie es war: Schon am Vormittag ereignen sich seltsame Dinge, die Kim im Nachhinein als Vorzeichen der Katastrophe deutet. U. a. läuft auf dem Schulhof ein Fuchs umher, den außer ihr niemand bemerkt, und als sie mit Merle auf dem Weg zur U-Bahn ist, kommen sie an einer Uhr vorbei, die eine Zeit anzeigt, die es gar nicht geben kann, was ihrer Klassenkameradin jedoch nicht auffällt. Da sie keine Möglichkeit hat, ihre eigene Wahrnehmung mit einer Fremdwahrnehmung abzugleichen, verstärken diese ungewöhnlichen Erscheinungen nachträglich die Zweifel an ihrem eigenen Verstand, die sich einstellen, als sie vor ihrem Haus in Berlin-Kreuzberg ankommt. Dort ist ein Albtraum Realität geworden – an sämtlichen Klingelschildern stehen fremde Namen und ihr Schlüssel passt nicht mehr. Was ist hier bloß geschehen? Träumt sie, hat sich jemand einen makabren Scherz erlaubt oder ist sie etwa tatsächlich verrückt geworden? Und was soll sie jetzt tun? Kims Eltern haben sich vor fünf Jahren getrennt, ihr Vater lebt inzwischen in Dänemark und ihre Mutter ist den ganzen Tag beruflich unterwegs. Auch bei ihrer Tante kann Kim keine Zuflucht suchen, da Felicitas einen wichtigen Termin in einer Galerie in Süddeutschland hat.
Für Kim beginnt nun eine abenteuerliche Odyssee durch Berlin – sie gerät in gefährliche Situationen, wird bei der Polizei nicht ernst genommen, fühlt sich einsam und aus der Welt gefallen und sucht immer wieder verzweifelt nach Erklärungen für das Unfassbare. Aber es kommt auch zu einer überraschenden Begegnung mit Merles Schwarm Alex, vor dem Kim sich bisher gefürchtet hat und den sie jetzt von einer ganz anderen Seite kennenlernt.
Von Rückblenden abgesehen, umfasst die Handlung des Buches weniger als 26 Stunden, wodurch die Darstellung sehr dicht wirkt. Die als Kapitelüberschriften verwendeten Uhrzeiten unterstreichen den Eindruck, Kims Odyssee in „Echtzeit“ mitzuerleben. Da die meisten Kapitel aus Kims Perspektive erzählt werden, wird es dem Leser ermöglicht, sich intensiv in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinzuversetzen, die in all ihrer faszinierenden Einzigartigkeit zugleich auch vieles offenbart, was generell für die Lebensphase der Pubertät charakteristisch sein dürfte – jene Phase, die Kim so lapidar wie treffend als „Wohneinheit im Haus der Hölle“ (S. 216) bezeichnet. Eine Formulierung von aphoristischer Qualität, die im Gedächtnis bleibt – ebenso wie Kims sprachphilosophische Reflexionen über den Konjunktiv (S. 9) und ihre Vorstellung, dass der Fuchs in einer Höhle auf dem Schulgelände lebt und sich sehnlich Ohropax wünscht (S. 11).
Neben der Protagonistin Kim fallen zwei andere Personen besonders ins Auge, die in mehrfacher Hinsicht als Parallelfiguren konstruiert sind: Felicitas und der Polizist Nikolaus Kummer, der bei der Aufklärung jener seltsamen Vorgänge im Zusammenhang mit Kims Haus allmählich eine Schlüsselrolle einnimmt. Beide wurden erst vor wenigen Wochen von ihrer Partnerin verlassen und leiden so sehr unter der Trennung, dass ihnen die Bewältigung ihres beruflichen und sonstigen Alltags unendlich mühsam erscheint bzw. nur noch eingeschränkt möglich ist (ähnliche Textstellen finden sich z. B. auf S. 52 und S. 205). Eine weitere Parallele besteht darin, dass beide über die Bedeutung ihrer Namen nachdenken und diese negativ interpretieren - Felicitas empfindet ihren Vornamen als „Hohn“ (S. 52) und Kummer seinen Nachnamen als eine Art Fluch, durch den „von Anfang an alles vorgezeichnet“ war (S. 174). Bei einer Begegnung vor Kims Haus werden diese beiden „Fäden“, also die „Leidensgenossenschaft“ und die sprechenden Namen, schließlich sehr elegant zusammengeführt:
„'Danke, dass Sie gekommen sind', sagte sie. 'Ich mache mir solche Sorgen um Kim. Meine Nichte, meine ich.' Sie lachte kurz. 'Sie heißen tatsächlich Kummer?' Er nickte. 'Dann heißen Sie so, wie ich mich fühle.'
So fühle ich mich ja selbst, dachte Kummer.“ (S. 281)
Auch der Schluss des Buches ist aus mehreren Gründen sehr überzeugend: Auf der inhaltlichen Ebene finden die mysteriösen und zunächst scheinbar zusammenhanglosen Vorfälle eine z. T. überraschende, gleichzeitig aber auch schlüssige Auflösung. Auf der Ebene der „Dramaturgie“ des Buches fällt u. a. positiv auf, dass einige Leitmotive im Schlussteil wieder aufgegriffen werden - wie etwa die Uhr, die eine irreale Zeit anzeigt und der Fuchs, der zugleich ein verbindendes Element zwischen Kim, Felicitas und Alex darstellt.
Abschließend bleibt bei mir einerseits eine gewisse Traurigkeit zurück, weil ich das Leben dieser Personen jetzt wieder verlassen muss (auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass sie außerhalb des Buches ja gar kein "Leben" haben können) - zu gern würde ich z. B. erfahren, wie Kims Leben nach dieser ebenso außergewöhnlichen wie verstörenden Erfahrung weitergeht  und wie Felicitas und Nikolaus Kummer jeweils mit ihrer Trauer über die zerbrochene Beziehung fertigwerden. Andererseits wirkt es jedoch stimmig, dass es kein Happy End in dem Sinne gibt, dass alle offenen Fragen geklärt sind bzw. sich in Wohlgefallen aufgelöst haben - das würde meiner Ansicht nach gar nicht zu diesem Buch passen und es bliebe auch kein Raum mehr für die Phantasie des Lesers.
Mein Fazit lautet: „Uneingeschränkt empfehlenswert“ – „Endlich daheim“ fasziniert gleichermaßen durch einen originellen Plot mit subtiler Spannung, durch eine raffinierte „Dramaturgie“ sowie durch eine einfühlsame und dabei angenehm unprätentiöse Schilderung von Situationen und Charakteren.


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