Mit „Wer, wenn nicht wir“ startet Alicia Zetts neue New-Adult-Dilogie, in der es um das Thema Bisexualität geht. Nachdem ich bereits ihre dreibändige Love-is-Reihe gelesen und geliebt habe, war ich sehr gespannt auf dieses neue Projekt – und wurde nicht enttäuscht. Die Geschichte von Lena, Leo und Kate bietet eine feinfühlige Erzählung über Identitätsfindung, Lebensentscheidungen und die Suche nach einem erfüllten Leben.
Zuerst wie immer ein paar Worte zum Cover. Mit dem warmen Farbverlauf der Bi-Flagge und den sanft gezeichneten Charakterskizzen passt das Cover perfekt zur ruhigen, warmherzigen Stimmung des Buches. Besonders toll ist natürlich, dass die Figurenkonstellation des Buches durch die Abbildung der Figuren widergespiegelt wird. Indem Lena zwar sehr nah bei ihrem Freund Leo steht, aber Blickkontakt mit Lena aufbaut, wird die Entwicklung der Beziehungsdynamiken hier schon angedeutet. Auf Band 2 wird das dann fortgesetzt, indem Lena zögernd nach Kates Händen greift, während Leo abseits zusieht. Bei der Gestaltung wurde sich also definitiv wieder Gedanken gemacht und ein optisch ansprechendes wie inhaltlich passendes Cover entworfen.
Erster Satz: "Seien wir ehrlich: Hochzeiten sind nichts anderes als ausufernde Besäufnisse"
Nach einem kurzen Ausschnitt aus Lenas anonymem Fotografie-Blog, steigen wir in das Leben der Anfang zwanzigjährigen Lena ein, das ganz schön durcheinanderkommt, als ihre ehemals beste Freundin Kate nach fünf Jahren Funkstille wieder zurück in die Stadt kommt. Auf den folgenden 400 Seiten wird die Beziehung der beiden in der Gegenwart und Vergangenheit kunstvoll entwirrt und zu einer Dreiecksgeschichte gesponnen. Dabei wird abwechselnd aus der Perspektive von Kate, Lena und deren Freund Leo erzählt. Zu Beginn dachte ich noch, dass Leos Perspektive unnötig ist, fand seine Sicht dann im Laufe der Zeit aber eine sehr gute Ergänzung, um seine Wahrnehmung der Beziehung der beiden besser zu verstehen. Zusätzlich zum Perspektivwechsel gibt es regelmäßig Rückblicke sowie Ausschnitte aus Lenas Blog, die ich ebenfalls nicht zwingend gebraucht hätte, da wir auch durch die Dialoge und in ihrer Perspektive genügend Einblicke in ihre Reflexionen und ihr Innenleben erhalten. In den Rückblicken springt die Autorin mehrere Jahre zurück in die Zeit vor und während des Abiturs, um die Freundschaft der drei, ihre Zukunftspläne und schließlich die schicksalshaften Ereignisse in der Nacht des Abiballs zu schildern. So erfahren wir langsam, was tatsächlich vorgefallen ist und zur Ausgangssituation geführt hat.
Auf diese Art und Weise benötigt die Geschichte einige Zeit, um anzulaufen und bleibt auch später ein sehr ruhiges Buch. Auf der reinen Handlungsebene passiert erstmal nicht besonders viel und auch der im Klapptext groß angeteaserte Roadtrip nimmt nur einen Bruchteil der Geschichte ein, sodass die Figuren, Themen und die Atmosphäre klar im Vordergrund stehen. Bei einer Reihe, die sich auf eine queere Themen und die Beziehung der Figuren fokussiert, hat mich das nicht wirklich überrascht und so kann sich die Geschichte viel Zeit für die Entwicklung ihrer Figuren und die behandelten Themen nehmen. Denn anders als gedacht, handelt es sich hier gar nicht um eine klassische Liebesgeschichte. Vielmehr erzählt "Wer, wenn nicht wir" erstmal eher vom Ende einer Liebesgeschichte, davon sich einzugestehen, dass man unglücklich ist, mehr will und von der Schwierigkeit, sich von einem Leben zu lösen, das zwar wundervoll ist, aber langfristig doch nicht ausreicht.
"Was wäre, wenn? Das ist die alles entscheidende Frage. Was wäre, wenn ich all die ängstlichen Stimmen in mir einmal ausschalte und nur auf mein Herz höre?"
Kurzum: Es geht um die Quarter-Life-Crisis, dieses nostalgisch-verzweifelte Gefühl in der Mitte der Zwanziger, noch nicht das geschafft zu haben, was man als Kind unbedingt wollte, irgendwo im Leben stecken geblieben oder falsch abgebogen zu sein. Lena, Kate und Leo sind alle in einer ganz anderen Lebenssituation, als sie das als Teenager erwartet oder geplant hatten und anlässlich des Jahrgangstreffens kommen viele Fragen auf. Mit dem Thema der Rückkehr nach der Studienzeit in den Heimatort, dem Wiedersehen mit alten Freunden, das irgendetwas zwischen Nostalgie und Fortschritt auslöst, das Hinterfragen und Vergleichen der eigenen Lebenslage mit der von anderen.... - damit konnte ich mich extrem gut identifizieren, da ich mich gerade ebenfalls circa 6 Jahre nach meinem Abitur befinde und eine erste innere Bestandsaufnahme über meine seitdem getroffenen Entscheidungen und wohin sie mich geführt haben, durchführe, um herauszufinden, wohin ich weiterhin gehen möchte.
Zusätzlich zum Thema Lebensentscheidung und Zukunftsplanung steckt Lena noch in einem zweiten Gefühlschaos, da sie angesichts der Nähe zu Kate nicht nur ihre Beziehung und Zukunft mit Leo, sondern auch ihre Sexualität hinterfragt. Das Gefühlschaos, das sich dadurch in allen drei Perspektiven ergibt, erzählt Alicia Zett extrem empathisch und sensible, sodass man jederzeit allen Figuren ihre Gefühle abnimmt. Obwohl sich Kate und Lena fünf Jahre nicht gesehen haben und in kurzer Zeit ein sehr weiter emotionaler Weg zurückgelegt wird, hat sie mich kein einziges Mal verloren. Das liegt vor allem daran, dass die Figuren Großteils sehr erwachsen und reflektiert handeln und trotz der schwierigen Situation fair miteinander umgehen. Statt in aufgebauschtem Drama zu versinken, geben sie sich gegenseitig Raum, zeigen ihre Emotionen offen und sind trotz aller Fehler, die sie machen, schlussendlich immer ehrlich zueinander.
"Leo hat es nicht verdient, dass ihm das Herz gebrochen wird. Aber hat er es verdient, dass ich mit ihm zusammenbleibe obwohl ich das gar nicht will?"
Abgerundet wird der Leseeindruck durch den Schreibstil der Autorin. Egal ob im Alltag auf dem Hof von Leos Eltern, bei Fotoshootings, im Camper auf dem Weg nach Portugal oder in der Vergangenheit im Kinderzimmer - die Autorin schafft es immer aus alltäglichen Situationen eine nostalgische, magische Leseerfahrung zu machen, sodass man mit dem Lesen gar nicht mehr aufhören möchte.
Als nach 400 Seiten dann das Ende kam, habe ich lange überlegt, ob die Geschichte für mich abgeschlossen ist, oder ob ich Band 2 noch lesen muss. Denn auch wenn einiges offenbleibt, könnte man "Wer, wenn nicht wir" problemlos so stehen lassen, da alle wichtigen Entscheidungen getroffen sind und eine Richtung eingeschlagen ist. Da ich die Figuren aber wirklich sehr ans Herz geschlossen habe, freue ich mich aber auch auf "Wer, wenn nicht du", das sich dann ganz Kate und Lena widmet.
Fazit
„Wer, wenn nicht wir“ ist ein ruhiges, aber intensives Buch, das weniger eine klassische Liebesgeschichte erzählt als vielmehr von deren Ende und den Mut, Neues zu wagen. Alicia Zetts außergewöhnlicher Schreibstil, die authentischen Figuren und die sensible Auseinandersetzung mit queeren Themen machen diese Geschichte zu einem echten Highlight.