Bücher mit dem Tag "Longlist Deutscher Buchpreis 2020"

Hier findest du alle Bücher, die LovelyBooks-Leser*innen mit dem Tag "Longlist Deutscher Buchpreis 2020" gekennzeichnet haben.

8 Bücher

  1. Cover des Buches Allegro Pastell (ISBN: 9783462001785)
    Leif Randt

    Allegro Pastell

     (60)
    Aktuelle Rezension von: Julietta89

    In "Allegro Pastell" von Leif Randt tauche ich in eine moderne Liebesgeschichte ein, die die Fernbeziehung zwischen Tanja und Jerome beleuchtet. Das Buch ist in verschiedene Beziehungsphasen unterteilt, von ihrem Kennenlernen über ihre Trennung bis hin zu weiteren Entwicklungen.

    Während ich die Themen zwischenmenschliche Beziehungen und die Selbstreflexion unserer Gesellschaft ansprechend finde, habe ich Schwierigkeiten, einen echten Zugang zu den Hauptcharakteren zu finden. Tanja und Jerome wirken auf mich selbstgefällig und überheblich, ständig in ihren eigenen Gedanken verloren. Diese ständige Selbstbesessenheit empfinde ich als anstrengend.

    Dennoch fand ich das Buch insgesamt gut geschrieben. Randt schafft eine schnelllebige Atmosphäre, die mich durch die Handlung trägt.

    Während der Drogenkonsum der Charaktere ein präsentes Element ist, empfinde ich persönlich, dass dieser Aspekt nicht so dominierend ist, wie es zunächst scheint. Vielmehr dient er dazu, die Lebensweise und die Weltanschauung der Figuren zu beleuchten.

    Insgesamt hinterlässt "Allegro Pastell" bei mir den Eindruck, dass die Hauptcharaktere nicht sympathisch oder zugänglich genug sind. Dennoch schätze ich die schnelle Erzählweise und die thematischen Aspekte des Buches.

  2. Cover des Buches Herzklappen von Johnson & Johnson (ISBN: 9783518471326)
    Valerie Fritsch

    Herzklappen von Johnson & Johnson

     (29)
    Aktuelle Rezension von: Ein LovelyBooks-Nutzer

    Kann ein Kind ohne Schmerzen, das die Aspekte der Verwundbarkeit auswendig lernt wie Vokabeln, sich zu einem mitfühlenden Wesen entwickeln – und das in einer Familie, die Jahrzehnte der Schuld und des Traumas stumm weiterreicht?_
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    Der Klappentext lässt vermuten, der kleine Emil sei der Protagonist – der Charakter, auf dem für einen Großteil des Buches das Hauptaugenmerk liegt, aber vor allem der Akteur, der die Geschichte aktiv vorantreibt. Tatsächlich wird er jedoch erst zur Hälfte des Buches geboren, und auch danach sieht man die Dinge höchst selten aus seinem Blickwinkel. Der Leser betrachtet ihn vielmehr durch die Augen seiner Mutter Alma von außen, besorgt und fasziniert._
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    Alma ist schon als Kind hochintelligent, hinterfragt alles, sperrt sich gegen Erwartungen – beobachtet die familiären Strukturen wachen Auges und erahnt die sorgfältig versteckten Abgründe. Sie, die vom Krieg nichts wissen kann, spürt dessen Nachwehen in der emotionalen Kälte des Elternhauses. Die Großmutter fängt erst an, über die schlimme Zeit zu reden, als die Demenz ihr die Hemmungen raubt, der Großvater ist wenig mehr als eine stille Abwesenheit._
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    “Das Bild der gelben Narzissen in den Händen der alten, nackten Frau, ihre Gänsehaut über der haarlosen Scham, diese asketische Galgenschönheit, die dem Tod vorausging, sollte Alma ihr Leben lang nicht mehr vergessen.”_
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    Später, erfährt der Leser, lernt Alma Friedrich kennen und lieben, was nach einer langen Fernbeziehung zu einem mehr oder weniger glücklichen Miteinanderleben ohne Illusionen und zu Emils Geburt führt – gefolgt von einer Wochenbettdepression und der erschütternden Erkenntnis, dass Emil anders ist._
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    Es sind Alma und ihre Großeltern, die für einen Großteil des Buches auf der Bühne der Geschehnisse stehen, doch Emil ist durch seine Analgesie Inbegriff und gleichzeitig Kontrapunkt der Thematik. Seine Schmerzlosigkeit unterstreicht vergangenes und gegenwärtiges Leid._
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    Emil legt die Hand auf die heiße Herdplatte, weil die Brandblasen so lustig blubbern. Er rammt sich einen Stift so heftig in den Arm, dass er steckenbleibt. Sein Kinderzimmer ist geschmückt mit unzähligen Röntgenaufnahmen, eine Galerie gebrochener Knochen und lädierter Organe._
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    “Es waren intime Porträts, der vollständige Bauplan eines Kindes, ein ganzes gespenstisches Menschengerüst von den Zehenknöchelchen bis zur Schädelkalotte hing an den Zimmerwänden. Immer wieder staunte Alma, das man so leicht zerbrechen und doch so aufrecht stehen konnte.”_
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    Alma kümmert sich aufopfernd um ihn, widmet ihr waches und träumendes Leben seiner Unversehrtheit. Gleichzeitig regt seine Schmerzblindheit sie dazu an, der Familiengeschichte nachzuspüren, dem Schmerz und der Schuld von Generationen._
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    Denn was eint die Menschen mehr als der Schmerz?_
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    Es ist ein Empfinden, das jeder kennt, das keiner Erklärung bedarf. Emil jedoch, der Schmerzlose, der Unschuldige, wird zum Symbol: fleischgewordene Sühne, das Negativbild seines Urgroßvaters, dessen Kriegstraumata und Kriegsverbrechen niemals beim Namen genannt werden._
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    Dabei wirkt es fast so, als seien auch ihre Körper Abbilder des jeweils anderen: während Emil nach unzähligen Knochenbrüchen Schrauben und Metallplatten in sich trägt, wurde sein Urgroßvater nur durch die titelgebenden Herzklappen aus Metall am Leben erhalten._
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    In Alma wächst die Entschlossenheit, bestimmte Orte aus dessen Kriegserleben mit eigenen Augen zu sehen, um mit dem ererbten Leid abschließen zu können – um die schuldbewusste Traurigkeit zu verbannen, die die Familie umgibt wie ein dunkles Miasma._
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    Der Schreibstil ist großartig. Ruhige, fast schon karge Sätze entfalten sich in bestechend präzisen Beobachtungen, die ein Stück Leben nach dem anderen aus dem Würgegriff der vermeintlichen Normalität befreien. Das ist mal der einsame Alltag eines frühreifen Kindes, mal die persönliche Hölle eines Kriegsgefangenen, mal das stille Leiden einer gebrechlichen Alten._
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    Dann folgen wiederum traumhafte Passagen mit fast schon lyrischem Timbre. Die Autorin schildert die Geschehnisse einfühlsam und subtil, in wunderschönen Formulierungen und klaren, eindrücklichen Bildern – ohne zu beschönigen oder kleinzureden._
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    Die Autorin hat ein besonderes Gespür für den Schmerz, den alltäglichen wie den außergewöhnlichen: sie sieht das, was nicht zusammenpasst, was zuwiderläuft, was hätte sein sollen aber nicht ist. Man atmet erstaunt auf, nur um dann bekräftigend zu nicken: ja, so ist das. Auch das, was vom eigenen Leben so weit entfernt ist wie nur irgend möglich, hat den Klang der Wahrheit, den Widerhall des selbst Erlebten._
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    Fazit_
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    Der Roman erstreckt sich über vier Generationen einer Familie: vom Urgroßvater, über dessen Opfer- und Täterschaft im Krieg nicht gesprochen wird, bis hinunter zum Urenkel, der durch einen Gendefekt keinen Schmerz empfinden kann._
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    Für mich war “Herzklappen von Johnson & Johnson” ein Roman mit unwiderstehlicher Sogwirkung – alleine schon wegen der großartigen Sprachmelodie, aber die Autorin konnte mich auch inhaltlich voll überzeugen.

  3. Cover des Buches Der letzte Satz (ISBN: 9783446267886)
    Robert Seethaler

    Der letzte Satz

     (214)
    Aktuelle Rezension von: _liesmich_

    Oja, dieses wunderbare Buch über Gustav Mahlers letzte Stunden hat mich mit dem Lesen wieder versöhnt. Mahler befindet sich auf seiner letzten Reise und blickt ab und an auf sein Leben und Alma zurück. Der Autor beschreibt in einer sachlichen Sprache, Ereignisse im Gestern und Heute. Nachdem ich bereits *Die Muse von Wien* (Leben von Alma) gelesen habe, ist dieses Buch eine großartige und sehr berührend zu lesende Ergänzung. Top!

  4. Cover des Buches Triceratops (ISBN: 9783218012294)
    Stephan Roiss

    Triceratops

     (48)
    Aktuelle Rezension von: Jin_ny

    Ich mache mir sehr oft Gedanken darüber, warum ein Autor einen Titel wählt; schließlich ist es meistens das erste, was der Leser mitbekommt und daher sollte es eine bestimmte Bedeutung haben, die der Leser spätestens am Ende der Geschichte erkennen sollte.

    Wir sagten Mutter, dass wir sie lieben. Es war nicht wahr. Wir wollten nichts sagen, sie nicht berühren, nicht alleine mit ihr sein.

    Ein Triceratops ist ein Dinosaurier mit 3 Hörnern und einer "Nackenkrause" als Panzer. Trotz des furchteinflößenden Aussehens war es ein Pflanzenfresser und man weiß nicht, ob es Herden- oder Einzeltiere waren, so wie es im Buch erklärt wird. Ich habe mich gefragt, warum man gerade den Triceratops genommen hat und keinen Sauropoden oder sogar einen Tyrannosaurier. Ich selbst habe als Kind allerdings auch den Triceratops am meisten geliebt, er wirkte so stark und gab Halt.

    Der Hauptcharakter, ein Junge, der während der knapp 200 Seiten zum Teenager heranwächst, sieht sich selbst als ein Triceratops, vielleicht auch aus den oben genannten Eigenschaften. Die schuppige Haut des Jungen am Hals oder wie er immer wieder Hörner zeichnet oder sich vorstellt, dass welche wachsen oder wie er sich als letzten Überlebenden sieht in einer Welt, wo er nirgendwo hingehört. Ein Panzer, der ihn beschützen soll, anstelle einer Familie, die nur Zerstörung verursacht. Hörner, die ihm Kraft und Mut geben sollten, aber nie wirklich nützlich sind. Natürlich beherrscht so ein Tier keine menschlichen Fähigkeiten wie das Sprechen oder soziale Anpassungsfähigkeit; die Geschichte fängt nämlich schon damit an, dass der Junge sich einfach in allem fremd und distanziert fühlt, zum Beispiel wie er nicht Mama, sondern Mutter sagt. Und diese Fremdartigkeit zieht sich durch bis zum Ende hin.

    "Wenn ich die Augen schließe", sagte sie zu ihrer Sitznachbarin, "kann ich die Wellen noch fühlen."
    Wir schlossen die Augen. Stimmt doch gar nicht.

    Die Geschichte schafft es nur mit wenigen Worten und Sätzen die Gefühlslage des Jungen zu vermitteln, und geht dabei nicht konkret auf die inneren Emotionen des Jungen ein. Eher sehen wir aus den Augen des Jungen -aus einer sicheren Distanz- wie die Welt sich auf ihn stürzt, vieles abverlangt, aber niemals das gibt, was der Junge bräuchte: Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit. Man muss als Leser viel Arbeit leisten um die Geschichte zusammenzusetzen wie ein Puzzle, aber gerade das fand ich sehr spannend. Es war ein kurzes, aber sehr starkes Buch, was zwar nicht unbedingt ein Lächeln auf meinem Gesicht gezaubert hat, aber trotzdem kraftvoll war, sodass es einen großen Eindruck hinterlassen hat.

    Unsere Schwester schnitt uns das Wort ab: "Alles ist gut."
    "Nichts ist gut", hörten wir uns sagen.

    ** Dieses Buch wurde mir über NetGalley als E-Book zur Verfügung gestellt **

  5. Cover des Buches Die Infantin trägt den Scheitel links (ISBN: 9783990272428)
    Helena Adler

    Die Infantin trägt den Scheitel links

     (47)
    Aktuelle Rezension von: mariameerhaba

    Mir ist das Buch aus der Hand gefallen. Kann ja passieren. Das Lesezeichen ist rausgeflogen, die Seiten haben sich geschlossen und als ich das Buch hochhob, war ich irgendwo in der Mitte gelandet. Also blätterte ich zurück, glaubte die richtige Stelle gefunden zu haben und las weiter. Drei Seiten später fiel mir auf, dass ich das doch gelesen hatte und ich eigentlich viele Seiten weiter war. Und das ist ein Problem.

    Es gibt nichts in der Geschichte, das einen Halt bietet, das einen roten Faden hat, eine Ordnung, sondern alles wird so verwirrend geschrieben, als wollte die Autorin nicht, dass seine Leser sich auskennen. In einer Szene wird von dem kleinen Mädchen erzählt, wie sehr sie die Schule nicht mag und ihr Lehrer ihr auf die Nerven gehe, und im selben Absatz wird dann beschrieben, wie sie mit dem Lehrer geschlafen habe und das Bild, das ich davon hatte … na ja, so ein Bild will ich nicht im Kopf haben!

    Ja, sie beschreibt außergewöhnlich, abstrakt, irgendwie auch unruhig, was eigentlich toll ist, aber wenn jeder einzelner Satz in dieser Form geschrieben wird, wenn nach jedem Punkt ein neues Verwirrspiel startet, wird das Lesen nicht nur anstrengend, sondern man schweift ab. Und das habe ich oft in dem Buch getan. Ich lese zwar die Zeilen, aber es will sich kein Bild bilden und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich zwar lese, meine Augen folgen jedem Wort, jeder Zeile, aber gleichzeitig meine Aufgaben für den Tag eingeteilt habe, dass ich mir Gedanken über irgendetwas anderes gemacht habe, als irgendeine Nähe zu dem Buch aufzubauen.

    Das Cover ist toll, die Hintergrundgeschichte der Autorin traurig, aber das alles genügt mir nicht, um mich so quälen zu lassen. Nein, danke. Abgebrochen.

  6. Cover des Buches Serpentinen (ISBN: 9783548064758)
    Bov Bjerg

    Serpentinen

     (46)
    Aktuelle Rezension von: kingofmusic

    „Um was geht es?“ Diese Frage, die sich wie ein roter Faden durch „Serpentinen“ von Bov Bjerg zieht, habe ich mir genauso oft gestellt, wie sie im Buche steht *g*.

    Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich sie jetzt – nach Beendigung der Lektüre und beim Verfassen dieser Rezension – kompetent und richtig beantworten kann. Dafür hat mich das Buch zu sehr mitgerissen (auf der einen Seite) und verwirrt (auf der anderen Seite). Aber die Frage ist ja: will ich das überhaupt? Jeder setzt schließlich andere Prioritäten. Wir können zwar alle dasselbe Buch lesen, aber jeder wird für sich die Geschichte anders lesen.

    Ich habe es so gelesen: Es ist eine Vater-/Sohn-Reise. Es ist eine Reise in die Vergangenheit. Es ist eine Reise durch die dunklen Gedanken des Vaters, der eine „Tradition“ seiner Familie unterbrechen will, nämlich die der Selbsttötung (Vater, Großvater, Urgroßvater).

    Kurvig wie eine Serpentinenstraße verfolgen die Leserinnen und Leser dem Erzähler durch sein Leben. Dabei befindet man sich mal am Anfang, mal am Ende der Straße ohne direkt zu wissen, wo oben und unten ist. Soweit so unklar? *g* Genauso ging es mir während der Lektüre.

    Die Gedanken und Zeiten springen munter hin und her, so dass einem schon mal schwindelig werden kann ob der Detailfülle auf der einen und dem Nichtgesagten auf der anderen Seite. Und doch kann man sich dem Fahrtwind die Serpentinen rauf und runter nicht entziehen, wird um eine Kurve nach der anderen geschleudert, obwohl man angeschnallt ist und die Geschwindigkeit durch eigene Gedanken(pausen) drosseln kann – und sollte.

    Denn der Autor fordert seine Leserinnen und Leser heraus – nachzudenken, was war, was ist, was ist „vererbt“, was kann ich oder was lässt sich überhaupt ändern…

    Das Buch hallt nach. Definitiv. Und ich bin noch nicht am Ende meiner „Serpentinen“ sprich meiner Gedanken zu dieser Geschichte. Darum zücke ich auch noch nicht die Höchstnote, aber wie ein Auto vier Reifen hat, ziehe ich 4* und spreche eine klare Leseempfehlung aus für alle, die es auch mal experimentell und kurvig mögen.

    ©kingofmusic

  7. Cover des Buches Der Halbbart (ISBN: 9783257246377)
    Charles Lewinsky

    Der Halbbart

     (87)
    Aktuelle Rezension von: awogfli

    Nach Tell von Joachim B. Schmidt  bin ich innerhalb kürzester Zeit erneut in die Schweizer Bergwelt des Mittelalters zur Zeit der Habsburgerherrschaft irgendwo in das Grenzgebiet zwischen dem Kanton Glarus und Schwyz eingetaucht. Ehrlich gesagt, hat mich zuerst die hohe Seitenanzahl des Romans Halbbart von mehr als siebenhundert ein bisschen abgeschreckt, denn ich hatte 2022 schon mit einem anderen, ebenso riesenumfänglichen Epos meine veritablen Probleme. Diese zwar episch breite Story hat jedoch nicht ein einziges Wort zu viel, sie ist in jeder Phase rasant, atemberaubend spannend und sehr ansprechend. Kein Wunder, dass das Werk 2020 für den deutschen Buchpreis nominiert wurde, meiner Meinung nach wohlverdient.

    Die Geschichte handelt von einer Familie, ihren Freunden und einem Dorf, eingebunden in historische Geschehnisse vor der Gründung der Schweiz irgendwo in den Schwyzer Alpen, vom Schicksal des Protagonisten Sebi (Eusebius), seiner Brüder Geni und Poli, des Onkels Alisi, des guten Freundes Halbbart, des Lehrmeisters und Freundes Stoffel, der Geschichtenerzählerin Teufels-Anelli und vielen anderen. Der Autor führt also nach und nach sehr viel Personal ein, das aber so detailliert und tief beschrieben ist, dass keine Sekunde Verwirrung zwischen den Figuren aufkommt.

    Die drei Brüder sind höchst unterschiedlich Geni, der Älteste, übernimmt nach dem Tod der Mutter die Rolle des Familienvorstands. Seine herausragenden Eigenschaften sind Intelligenz, Vernunft, vorsichtige Abwägungen, Fleiß und Diplomatie.

    Poli, der mittlere Bruder ist ein gewalttätiger, recht einfältiger Heißsporn, der schnell ohne nachzudenken zuschlägt und seinen jüngeren Bruder Sebi und viele andere mit Lust drangsaliert. Schon früh eifert er seinem in fernen Ländern weilenden Onkel Alisi nach, der das Handwerk des Berufssoldaten ausübt und marodierend, klauend, kämpfend und tötend durch ferne Länder zieht, immer demjenigen verpflichtet, der ihm für dieses schmutzige Handwerk das meiste Geld offeriert.

    Protagonist Sebi, das Nesthäkchen, ist noch sehr jung und weiß über weite Strecken der Geschichte nichts mit sich anzufangen. Für die Feldarbeit ist er auf Grund seiner schmächtigen Konstitution nicht geeignet, kämpfen will er auch nicht, sein Talent liegt eher im ausgezeichneten Gedächtnis und in der wortwörtlichen Widergabe von allem, was er gehört hat.

    Eine weitere wichtige Figur ist der Namensgeber des Romans, Halbbart, der deshalb so heißt, weil eine Körperhälfte massive Brandwunden aufweist. Zu Beginn der Geschichte strandet er als Flüchtling im weit abgelegenen Schweizer Bergdorf und freundet sich mit Sebi und später mit Geni an. Nach und nach wird schrittweise aufgedeckt, welches Schicksal der Halbbart durchleiden musste. Er kommt ursprünglich aus Korneuburg in Österreich, hatte irgendwie eine medizinische Grundausbildung und die Habsburger haben ihm etwas ganz Schlimmes angetan, das nicht nur die Brandwunden umfasst.

    Schon in den ersten Szenen rettet der Halbbart Genis Leben, indem er sein septisches Bein amputiert. Nachdem ein Dorfbewohner durch die Heilkünste des Halbbarts dem Tode gerade noch von der Schippe gesprungen ist, wird dieser auch für andere Fälle konsultiert und als Fremder dennoch sehr schnell in die Dorfgemeinschaft integriert.

    Was dann folgt, ist irgendwie sogar eine Coming-of-age-Story im mittelalterlichen und bäuerlichen Setting mit Entbehrungen, Aberglauben, Tod, Krankheit, Gott und Teufel, denn Sebi muss seine Bestimmung und seinen Platz in der Welt erst finden. Zuerst wird er ob seiner Talente ins Kloster Einsiedeln gesteckt, von dem er flüchtet, weil die Vorgesetzten unglaubliche Sünden begehen und Sebi befehlen, als Komplize bei Schandtaten zu fungieren. Das Kloster ist also wegen Gotteslästerlichkeit nicht geeignet.

    Anschließend wird er zum Schmied Stoffel als Geselle in den Hauptort Ägeri geschickt, der ihn zwar sehr gerne mag, aber schnell feststellt, dass Sebi für diesen Beruf überhaupt nicht geeignet ist. Einen Vorteil hat diese Lehrstelle jedoch, Stoffel fertigt für den Geni eine Beinprothese an. Der Halbbart wird zwischendurch beschuldigt, vom Teufel besessen zu sein, weil ihn einige missgünstige Dorfbewohner verleumdet haben, aber er kann sich reinwaschen.

    Die Story geht indes rasant weiter, man kommt kaum zum Atemholen bei den spannenden Ereignissen. Mittlerweile hat Geni eine politische Funktion als Diplomat und Berater beim Landammann in Ägeri erreicht, Onkel Alisi ist aus dem Krieg ins Bergdorf zurückgekehrt und fordert das Haus und die Stellung als Familienoberhaupt, was zu Konflikten zwischen Neffen und Onkel führt. Der ehemalige Soldat Alisi kann die Gewalt und sein Handwerk nicht lassen, er wiegelt das ganze Dorf, insbesondere die Jugend und vor allem Poli auf und schart auch sonst marodierende, besoffene Soldaten um sich, um sie zu bewirten.

    Sebi ist irgendwann am Ende seiner Suche zu sich selbst angekommen, hat seine Bestimmung gefunden und geht beim Teufels-Anelli als Geschichtenerzähler in die Lehre.

    Alle Geschehnisse spielen sich vor dem historischen Hintergrund ab, in dem die Bergbevölkerung die Klerikalen und die Klöster, die sie ausbeuten, belehren und gängeln, abgrundtief hassen und mit ihnen natürlich auch die Habsburger, die für die Klöster und die Kirchen als Schutzmacht auftreten. Die aufgestaute Wut entlädt sich, indem eine Rotte aus mehreren Dörfern das Kloster Einsiedeln überfällt. Als vernünftiger Gegenpart in diesem politischen Spiel fungieren der Landammann des Kanton Schwyz, seine Soldaten und der Berater Geni, die mit Diplomatie und Verhandlungen einen Bürgerkrieg und einen Krieg mit den Habsburgern verhindern wollen.

    Im furiosen Finale und der ultimativen Schlacht müssen sich alle entscheiden, auf welcher Seite sie stehen, jener der Vernunft und Verhandlung oder jener der Gewalt, des Kampfes und des Bürgerkrieges, mit allen Konsequenzen, die vom übermächtigen Feind Habsburg langfristig drohen. Die Bruchlinien gehen mitten durch Dörfer, Familien und Freundschaften. Lediglich Protagonist Sebi laviert wieder herum und ist wie so oft zur falschen Zeit zufällig und ungewollt am Ort des Geschehens. Das ist aber nicht problematisch, denn einer muss ja ein bisschen neutral und am Leben bleiben, um die Geschichte den nachfolgenden Generationen zu erzählen. 😉

    Die vielen Figuren sind derart tief, konsistent und liebevoll entwickelt und dann auch noch so interessant in den historischen Kontext eingebettet, dass es eine reine Freude ist. Beim wohlkonzipierten Plot kommt keine Sekunde ein Fünkchen Langeweile auf. Das Stimmungsbild der mittelalterlichen Gesellschaft in den Schweizer Bergen hat mich auch gepackt und nicht mehr losgelassen.

    Fazit: Hammer! Atemberaubend und spannend, ein Meisterwerk, trotz seiner epischen Länge.

  8. Cover des Buches Ich an meiner Seite (ISBN: 9783552059887)
    Birgit Birnbacher

    Ich an meiner Seite

     (68)
    Aktuelle Rezension von: Elenchen_h

    Als der 22-jährige Arthur aus seiner 26-monatigen Haftstrafe entlassen wird, stellt er fest, dass sich an seiner Perspektivlosigkeit vor dem Gefängnis nicht viel verändert hat: Niemand möchte einen Ex-Häftling einstellen, geschweige denn ihm eine Wohnung vermieten. Er nimmt an einem Resozialisierungsprogramm in Form von betreutem Wohnen inklusive Starring-Therapie teil, einem Therapieansatz, der an der Stelle ansetzt, dass es bei der Wiedereingliederung hilft, für sich selbst eine Hauptrolle zu erfinden, auf die man in herausfordernden Situationen zurückgreifen kann. Gemeinsam mit seinem unkonventionellen Therapeuten, seinem anstrengenden Mitbewohner in der WG, seiner berühmten Ersatzmutter und den anderen Beteiligten des Programms beginnt er, seinen eigenen Weg zurück in die Gesellschaft zu suchen.


    Mit großer Empathie und zugleich anklagend erzählt Birgit Birnbacher in ihrem Roman "Ich an meiner Seite" von einem jungen Mann, der aus einer Mischung aus persönlichen Tragödien und bürokratischen Hürden in die Kriminalität abrutscht, eine traumatische Haftstrafe verbüßt und im Anschluss an einem Resozialisierungsprogramm teilnimmt, um wieder ein "wertvoller" Teil der Gesellschaft zu werden. Ihr Buch ist eine Mischung aus Gesellschaftsstudie und Coming-Of-Age- Roman, mit klarer Sprache erzählt sie in Rückblenden von Arthurs Kindheit und Jugend, die von Verlusten und Einsamkeit geprägt sind, und lässt dabei immer genau so viel offen, dass die Lesenden die Geschichte mit großer Spannung verfolgen. Den Rückblenden gegenüber stehen Arthurs Erfahrungen in der Resozialisierung, sein Leben in der Wohngemeinschaft und seine Teilnahme an der Starring-Therapie. Birnbachers Figuren sind eigenwillig, teils tragisch und urkomisch, sie tragen diese Geschichte, die mir noch lange im Kopf bleiben wird. "Ich an meiner Seite" ist ein Roman über zweite Chancen und neue Anfänge, im Leben, in Beziehungen und in der Gesellschaft -habe ich gerne gelesen!

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