Bücher mit dem Tag "prix goncourt"

Hier findest du alle Bücher, die LovelyBooks-Leser*innen mit dem Tag "prix goncourt" gekennzeichnet haben.

22 Bücher

  1. Cover des Buches Karte und Gebiet (ISBN: 9783832164522)
    Michel Houellebecq

    Karte und Gebiet

     (177)
    Aktuelle Rezension von: holzmair_eva

    Der kapitalistische Kunstbetrieb, in dem Stars gemacht werden, in diesem Fall ein zurückgezogen lebender Absolvent der École des Beaux-Arts namens Jed Martin, dessen Fotos von Michelin-Regionalkarten einen PR-gesteuerten Hype auslösen. Der richtige Augenblick, um eine Geliebte zu halten, der, wenn einmal versäumt, nicht mehr nachgeholt werden kann. Die Distanz zwischen Sohn (Jed) und Vater, die zu Weihnachten nur mit Mühe ein Gespräch führen können. Die Zumutungen des Alterns, die sowohl Jeds Vater (er wird gegen Ende des Romans in Zürich assistiert Selbstmord begehen) als auch Michel Houellebecq plagen, der im Roman als versoffen der Einsamkeit fröhnend dargestellt wird und den Jed aufsucht, damit er ein Vorwort für seine nächste große Ausstellung schreibt. Die Frage, was Kunst und Künstler sein (bei Houellebecq eindeutig männlich geprägt) eigentlich bedeuten.

    All das und noch mehr ist in diesem Roman verpackt, liest sich amüsant, etwa die Porträts von Houellebecqs Kollegen wie Frédéric Beigbeder oder von Möchtegernberühmtheiten und Adabeis der Pariser Szene, nur stellenweise etwas langatmig (etwa wenn Houellebecq zu viel aus Wikipedia und anderen Schriften zitiert) und hält für ausgesprochene Houellebecq-Hasser:innen auch noch die Befriedigung bereit, dass der Autor ermordet und zerstückelt in seinem Landhaus aufgefunden wird. Was will frau mehr!

  2. Cover des Buches Die Mandarins von Paris (ISBN: 9783498004361)
    Simone de Beauvoir

    Die Mandarins von Paris

     (41)
    Aktuelle Rezension von: ninchen1809
    Ein Meisterwerk! Simone de Beauvoir gelingt in ihrem Roman eine perfekte Verknüpfung von Zeitgeschichte (politische Entwicklung in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg) und privater Schicksale. Der Roman spielt größtenteils in Paris, zwischendurch aber auch in den USA, Portugal oder Mexiko. Die Charaktere sind perfekt und äußerst real herausgearbeitet. Auf knapp 800 Seiten kommt aufgrund wunderbarer, zum Nachdenken anregender Dialoge und einer lebendigen Erzählweise auf keiner einzigen Seite Langweile auf. Besonders beeindruckend sind die zwei verschiedenen Erzählebenen: Zum einen die des Journalisten Henri in der dritten Form und der Psychologin Anne in der Ich-Form. Diese beiden Protagonisten führen in die Welt der Pariser Intellektuellen. Bei der Geschichte um Henri wird der Zerfall der durch die Résistance verbundenen Pariser Intellektuellen und der Niedergang des französischen Kommunismus aufgegriffen. Sein vergeblicher Kampf um die Zeitung „Espoir“ steht für ihn im Vordergrund. Die Schicksale dreier Damen, Paule, Josette und Nadine, und deren Liebe zu Henri sind in diese Geschichte verwoben. Anne, die Ehefrau einer Hauptfigur der „Mandarins“, ist nicht unmittelbar in die politischen Diskussionen einbezogen. Die Suche nach persönlichem Glück und eine schöne Liebesgeschichte spielen in Annes Leben eine weitaus größere Rolle. Sie verliebt sich in Chicago in einen Schriftsteller namens Lewis, der mit ihr sein Leben verbringen möchte, sie aber ihr „altes“ Leben in Paris nicht aufgeben will. Insgesamt eines der besten Bücher, das ich gelesen habe. 100% empfehlenswert!!!
  3. Cover des Buches Dann schlaf auch du (ISBN: 9783442770557)
    Leïla Slimani

    Dann schlaf auch du

     (325)
    Aktuelle Rezension von: EmmaWinter

    Wer träumt nicht davon, dass die perfekte Nanny sich nicht nur liebevoll um die Kinder kümmert, sondern auch noch kocht und die Wohnung tipptopp in Schuss hält. Mit Louise glauben Myriam und Paul einen Sechser im Lotto gewonnen zu haben. Die Nounou ist immer verfügbar und Myriam kann sich nach zwei Kindern endlich in ihren Beruf als Anwältin stürzen; sieht bereits eine Partnerschaft in der Kanzlei winken.  Sie entwickelt neue Energie und ein neues Selbstbewusstsein, das ihr als "Nur-"Mutter völlig abhanden gekommen war. Nun können beide Elternteile voll durchstarten, denn die überaus verlässliche Louise hat alles im Griff. Auch Paul fühlt sich unabhängiger, freier und trifft wagemutigere Entscheidungen, die ihn in seinem Job voranbringen.

    Bereits im ersten Satz des Romans erfährt man, was es für ein Ende mit dieser Konstellation nehmen wird. Mit diesem Wissen im Hinterkopf liest man das Buch fast atemlos und hofft irgendwie, dass es doch anders kommen wird.

    Slimani läßt uns nicht nur in die Seele von Myriam schauen, die zwischen ihren Muttergefühlen und ihrem Wunsch nach Anerkennung und beruflichem Erfolg hin und her gerissen wird. Auch Louise lernen wir immer näher kennen, durchbrechen die glatte Oberfläche und die Mauern der Unsichtbarkeit, die sie um sich errichtet hat, und blicken in einen Abgrund. 

    Der Roman hat mich sehr bewegt und wirklich heftig durchgeschüttelt. Es sind bekannte Themen, die hier angesprochen werden, das Muttersein, die Zerrissenheit mit der man/frau zu kämpfen hat, die Erkenntnis, dass sich mit Kindern eben doch alles ändert und Eltern ständig jonglieren, um alle Bälle in der Luft zu halten. Wie Slimani diese Aspekte zusammenbringt, mit den Charakteren Myriam und Louise, ist großartig gelungen. Der Roman liest sich Dank des Schreibstils, der ganz eng bei den Figuren bleibt, sehr bildhaft und man meint, in der Pariser Wohnung selbst mit am Küchentisch zu sitzen.

  4. Cover des Buches Das Salz (ISBN: 9783442747566)
    Jean-Baptiste Del Amo

    Das Salz

     (2)
    Aktuelle Rezension von: Nespavanje

    Louise möchte für ihre bereits erwachsenen Kinder und ihre übrige Familie ein Abendessen geben. Während des Tages und den Vorbereitungen für das geplante Treffen, überkommen die einzelnen Familienmitglieder, immer wieder Erinnerungen an den verstorbenen Mann und Vater Armand. Während Louise mit einer zärtlichen Melancholie an die Vergangenheit denkt, dabei immer wieder Entschuldigungen für die Brutalität ihres Mannes sucht und sich nur an positive Dinge erinnern will, sehen die Erinnerungen der erwachsenen Kinder ganz anders aus. Ihre Erinnerungen sind wie Salz in der Wunde: Sie bringen nichts als Schmerz und Bedauern hervor.

    Für seinen Debütroman „Die Erziehung“, der mir sehr gut gefallen hat, wurde der französische Schriftsteller Jean Baptiste del Amo mit dem Goncourt Preis ausgezeichnet und auch dieser Roman erzählt virtuos von der Allmacht des Todes, Sexualität und der Verderblichkeit der Liebe und schlussendlich auch nach der Suche der eigenen Identität. Geteilt in drei Teile, die den Namen der Parzen aus der römischen Mythologie tragen, Nona, Decima und Morta, springt der französische Gegenwartsliterat immer zwischen den Charakteren hin und her. Dabei richtet sich das Augenmerk in diesem Roman, weniger dem geplanten Abendessen und den äußeren Ereignisse, sondern auf das Innenleben der Hauptprotagonisten und deren Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit. Durch diese Gedankenerzählung wird das Lesen nicht kontinuierlich auf einen Punkt gebracht, sondern wandert in der Vergangenheit der Charaktere hin und her und hat dadurch keine lineare Erzählung. Manchmal hat mich der Stil ein wenig an Virginia Woolf erinnert und so war es für mich eigentlich nicht verwunderlich, dass der Schriftsteller zu Mrs. Dalloway einen Bezug herstellt, und Louise darin lesen lässt. „Das Salz“, das eindeutig aus der Masse der jährlichen Neuerscheinungen hervorsticht, ist eine Eufonie aus Liebe, Sexualität und Tod. Daraus entsteht eine so kraftvolle Erzählung, dass sie den Leser fesselt und auch lange nach dem Lesen nicht los lässt. Wer nun „Die Erziehung“ noch nicht gelesen hat, sollte dies nun schleunigst nachholen.

  5. Cover des Buches Du hast das Leben vor dir (ISBN: 9783858697615)
    Romain Gary

    Du hast das Leben vor dir

     (8)
    Aktuelle Rezension von: Susanne_Probst

    Dieser wunderbare französische Klassiker, der 1975 unter dem Pseudonym Émile Ajar erschien und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, hat eine äußerst interessante Geschichte.


    Statutengemäß und traditionell kann ein Schriftsteller nur einmal mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet werden. Der 1914 geborene Romain Gary erhielt den Preis jedoch zweimal! 

    Zuerst 1956 für „Die Wurzeln des Himmels“ und 1975 schließlich noch einmal für „Du hast das Leben vor Dir“. 

    Möglich war das nur, weil der zweite Roman unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. 

    Erst nach Romain Garys Suizid im Jahr 1980 wurde publik, wer sich hinter dem Künstlernamen verbarg. 

    Aber da war der Preis ja schon längst verliehen.


    Aber jetzt erst einmal zum Inhalt:


    Der Roman spielt in den 1960-er und 1970-er Jahren in Paris, im Stadtteil Belleville.


    Der 14-jährige Ich-Erzähler Momo, der uns seine Geschichte im Rückblick erzählt, wuchs zusammen mit anderen Kindern bei der alternden Madame Rosa im Pariser Stadtviertel Belleville auf. 

    Sie wohnten im sechsten Stock eines Hauses, dessen Bewohner eine kunterbunte Mischung darstellten: Huren, Transvestiten, Weiße, Schwarze und Araber lebten dort zusammen unter einem Dach.

    Auch Madame Rosa war eine ehemalige Prostituierte. 

    Eine ehemalige Prostituierte, die als Jüdin den Horror von Auschwitz erlebte und überlebte.

    Eine ehemalige Prostituierte, die nun ein „Etablissement für Hurenkinder“ (S. 51) betreibt.


    Was für ein Schock, als der ca. sechsjährige Araberjunge Momo erfuhr, dass er nicht der leibliche Sohn, sondern nur eines der Ziehkinder seiner geliebten Madame Rosa war, für die sie am Monatsende Geld bekam.  

    Das musste erst einmal verdaut werden und dabei half Monsieur Hamil, der weit gereiste, lebenskluge und gutmütige Teppichhändler, der Momo alles beibrachte, was er wissen musste und immer einige Weisheiten auf Lager hatte, wie zum Beispiel „Angst ist unser engster Verbündeter, ohne sie würde uns Gott weiß was passieren.“ (S. 85)


    Dass es keine familiäre Verbindung zwischen ihm und Madame Rosa gab, war nicht das einzige, das Momo nicht wusste. 

    Er hatte lange Zeit schlicht keine Ahnung, was seine Herkunft anbelangte und dass die anderen Kinder allesamt andere und lebende Mütter hatten. 

    Zwar lebende, aber größtenteils abwesende Mütter, die sich prostituierten und immer mal wieder bei ihrem Nachwuchs, der von Madame Rosa aufgezogen wurde, vorbei schauten.


    Was die Aufklärung seiner Unwissenheit über seine Wurzeln anbelangte, sagte Madame Rosa immer, dass sie ihm diese Sachen erklären werde wenn er groß und gefestigt sei, aber sie wolle nicht, dass er einen Schock kriege, wo er noch so sensibel sei. Als Allererstes müsse man sich bei Kindern doch um die Sensibilität kümmern. (S. 34)


    Als sich der gesundheitliche Zustand von Madame Rosa dramatisch verschlechterte, legte sich Momo ins Zeug, denn er „hatte das blanke Entsetzen, ja eine Heidenangst, einmal ohne sie dazustehn.“ (S. 65)

    Er half ihr bei der Versorgung der anderen „Hurenkinder“, ging für sie auf den Markt und schob die herzkranke und asthmatische Frau mit ihrem massigen Körper die sechs Etagen hoch, die zu bewältigen ihr immer schwerer fielen.

    „Die sechs Treppen waren für sie zum Staatsfeind Nummer eins geworden. Eines Tages würden die sie umbringen, da war sie sicher.“ (S. 69) 


    In ihren letzten Tagen ging Momo über seine Grenzen und stand ihr aufopferungsvoll, mit Herzblut und Phantasie bei. 

    Er tröstete sie sogar mit „der besten Nachricht ihres Lebens... dass sie nämlich keinen Krebs hatte.“ (S. 116). 

    Wie gut, dass Madame Lola, der ehemalige Boxer aus dem vierten Stock, täglich vorbei kam und den beiden hilfreich unter die Arme Griff.


    Momo ist ein cleveres und liebenswertes Bürschchen, das Redewendungen und Sprichwörter durcheinander bringt und falsch anwendet und große Sehnsucht nach einer richtigen eigenen Familie hat. Gleichzeitig hat er Madame Rosa ins Herz geschlossen. Und sie ihn! 

    Er hat keine Schulbildung, ist aber schlau und erklärt sich die Welt aus dem, was er aufschnappt und macht sich einen Reim auf alles, was er hört. Manchmal liegt er damit leider auch ziemlich daneben.

    Außerdem nimmt Momo alles so ernst, da wird’s schon mal makaber...

    Er ist so neugierig und motiviert; will etwas bewegen, hat konstruktive Ideen. Nachdem ihm der afrikanische Nachbar Monsieur Waloumba z. B. erklärt hat, dass die Alten in seiner Heimat geehrt und gut versorgt werden, hat Momo ihn gefragt: „ ... ob man Madame Rosa nicht nach Afrika zu seinem Stamm verschicken könnte, damit sie zusammen mit den anderen Alten in den Genuss der Vorteile dort kommt.“ (S. 157)

    Momo glänzt mit einer anrührenden Mischung aus Bauernschläue, Altklugheit und kindlichem Denken.




    „Du hast das Leben vor Dir“ ist eine flott und lebendig erzählte, 

    tragikomische, rührende und zärtliche Geschichte, die berührt und bewegt.

    Ernst, Dramatik und Tragik hinter der Oberfläche lassen sich durch den locker-legeren Erzählstil gut aushalten, so dass Traurigkeit und Schwermut weder im Text noch in der Gefühlswelt des Lesers einen Platz bekommen. 

    Manche Stellen sind gleichzeitig traurig, schlimm, rührend und amüsant und ich musste mir nicht selten schmunzelnd oder gar lachend ein paar Tränen wegwischen.


    Ich wurde äußerst gut unterhalten und es machte sehr viel Spaß, Momo und Madame Rosa zu begleiten und Doktor Katz, der von den starken Zaoumibrüdern in den sechsten Stock getragen wird, Madame Lola, den fürsorglichen Transvestiten, den Victor Hugo lesenden Teppichhändler Monsieur Hamil und Monsieur Waloumba, der mit seinen Stammesbrüdern die bösen Geister austreibt, kennenzulernen.

    Ja, und da ist dann noch die schöne Synchronsprecherin Madame Nadine, die einen Narren an dem kleinen Araber gefressen und immer ein offenes Ohr für ihn hat...


    Es ist äußerst interessant, durch Momo’s Augen einen Einblick in dieses untere und randständige soziale gesellschaftliche Milieu im Paris Mitte des letzten Jahrhunderts zu bekommen. Mit ihm zusammen tauchen wir in diese Welt der Randgruppen und Armen, des Rotlichtmilieus, der Drogenhändler der Prostituierten und deren Kinder ein.


    „Du hast das Leben vor Dir“ ist ein Meisterwerk, in dem es um Zusammenhalt und Menschlichkeit geht. Es stimmt nachdenklich und hallt nach.


    Roman Gary hat mit diesem Roman ein Werk geschaffen, das stark beginnt und immer stärker wird!


    Vor Kurzem habe ich ebenfalls mit Begeisterung einen anderen Roman von ihm gelesen: „Die Jagd nach dem Blau“.

    Jetzt, nach der Lektüre eines zweiten Werkes dieses Autors kann und muss ich sagen, dass er mich zu seiner „Fangemeinde“ zählen kann, bzw. könnte, wäre er noch am Leben.

    Ich bin gespannt, ob auch sein anderer, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman, „Die Wurzeln des Himmels“, auf Deutsch neu aufgelegt werden wird. Ich wäre bestimmt eine der ersten Leserinnen ;-)




  6. Cover des Buches Wie später ihre Kinder (ISBN: 9783446264120)
    Nicolas Mathieu

    Wie später ihre Kinder

     (32)
    Aktuelle Rezension von: Nicolai_Levin

    Die 1990-er. Ein Kaff irgendwo in Lothringen. Seit das Stahlwerk zugemacht hat, gibt es gutbezahlte Arbeit nur für Leute, die hinüber nach Luxemburg pendeln. Sonst bleiben schlechtbezahlte Jobs über die Zeitarbeitsfirma. Viel zu tun gibt es auch sonst nicht außer saufen, kiffen, Motorrad fahren und ficken.

    In Momentaufnahmen im Abstand von je zwei Jahren, jeweils in der Hitze des Hochsommers um den Nationalfeiertag am 14. Juli herum, beobachten wir eine Gruppe Jugendlicher und ihr Umfeld. Anthony hat ein hängendes Lid und ist nicht der Hellste. Er lebt im Hier und Jetzt und will ein bisschen Spaß im Leben; er steht auf Steph, die aus etwas besseren Kreisen kommt. Ihr Vater ist Kulturamtsleiter, und sie erkennt, dass sie weg muss aus der Enge der Provinz. Hacine hingegen will es vor Ort schaffen, anerkannt und reich zu werden. Er will nicht wie sein Vater enden, der nach Jahren der Maloche mit seiner knappen Rente in einer Sozialwohnung wohnt und immer ein Fremder bleiben wird. Als Hacine zur Besserung in die alte Heimat nach Marokko geschickt wird, baut er sich erstmal die Verbindungen auf, um in großem Stil Shit nach Frankreich zu verticken.

    Mit feinem Blick und unsentimentaler Haltung schildert Nicolas Mathieu die Tristesse der Provinz, die Träume und Sehnsüchte der jungen Leute, die Knüppel, die jedem immer wieder zwischen die Beine fliegen. Es ist lebendig und mitreißend, so dass es bei allem Scheitern dennoch nicht deprimierend wirkt. Mathieu hat für dieses Buch 2018 den Prix Goncourt gewonnen, und den hat er sich für meine Begriffe verdient.

  7. Cover des Buches Der Liebhaber (ISBN: 9783518737699)
    Marguerite Duras

    Der Liebhaber

     (188)
    Aktuelle Rezension von: das_lesewesen

    "Ich bin die Bevorzugte seines Lebens“. 

    #derliebhaber war Marguerite Duras großer Durchbruch, ihr bewegender autobiografischer Erfolg. Die Handlung spielt um 1930, als die fünfzehnjährige Lehrerstochter auf einer Fähre über den Mekong einen 35-Jährigen Chinesen kennenlernt. Sie verliebt sich und entdeckt ihre „sinnliche Genussfähigkeit“. Was bleibt ist eine ekstatische Romanze. Zwischen Liebe und Prostitution. Und eine bizarre familiäre Situation.

    Duras erzählt durchaus distanziert, beinahe kühl. Doch jederzeit authentisch, ergreifend, tabulos. Die Grenzen zwischen Erlebtem und Realität kaum zu erkennen. Aber gekennzeichnet durch Glaubwürdigkeit. Ein knisterndes Leseerlebnis. [Unbezahlte Werbung]

    Schaut doch gerne mal auf unserem Instagram-Blog vorbei 😊

    https://www.instagram.com/das_lese_wesen/

    Liebe Grüße,

    das_lese_wesen

  8. Cover des Buches Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise (ISBN: 9783423148337)
    Jean-Paul Dubois

    Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

     (41)
    Aktuelle Rezension von: schillerbuch

    Dieses Buch stand auf der Liste des Lesekreises und obwohl ich eigentlich nicht gerne Bücher französischer Autor:innen lese, war ich gespannt darauf. Immerhin wurde der Roman 2019 auch mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

    Im Mittelpunkt steht Paul Hansen, der in einem kanadischen Gefängnis einsitzt und sich die Zelle mit Patrick teilt, einem Hells-Angels-Biker. Paul ist ein einfühlsamer und besonnener Mann, der über 25 Jahre Hausmeister in einem Apartmenthaus war. Sein Beruf war seine Berufung: Er war nicht nur der Haumeister, der im Haus alles in Ordnung hielt und im Pool die richtige Textur des Wassers sorgte, sondern er war auch der gute Geist, der die Bewohner:innen in ihrem Alltag unterstützte. Was führt dazu, dass so ein Mensch im Gefängnis landet?

    Das erfahren wir Leser:innen erst ziemlich am Ende des Romans. Empathisch und mit leisem Humor erzählt Jean-Paul Dubois von Paul, dem Kind einer Französin und eines Dänen. Die Mutter erbt ein Programmkino in Paris, der Vater arbeitet als Pfarrer. Während er nach und nach seinen Glauben verliert, wird das Kino seiner Mutter “vom frischen Wind eines zweiten Frühlings ergriffen” (S. 43). Paul ist zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt und nimmt wahr, dass “jeder, der ein wenig aufmerksam war, die Scharniere der alten Welt knarzen hören” konnte (S.33). Die Mutter nimmt gegen den Willen des Vaters immer radikalere, teilweise pornographische Filme ins Programm und während das Kino floriert verliert der Vater deshalb seine Arbeit, die Ehe zerbricht.

    Paul, der seinem Vater näher steht als der Mutter folgt ihm nach Kanada, wo er eine neue Pfarrstelle gefunden hat. Nach einem abgebrochenen Studium findet Paul dann seine Bestimmung als Hausmeister im Excelsior, einer exklusiven Wohnanlage, in dem wohlhabende ältere Menschen ihre Heimat haben. Er heiratet, wird nach 11 Jahren Witwer und muss erleben, wie sich die Welt und sein Lebenskosmos langsam verändert.

    Die Zeit in der Zelle gibt Paul viel Zeit zum Nachdenken über sein Leben und Jean-Paul Dubois lässt uns teilhaben an seinen Erinnerungen. Gleichzeitig erleben wir den Alltag in der Gefängniszelle. Zwei vollkommen unterschiedliche Männer, denen auf engstem Raum keine Intimsphäre bleibt und die sich trotzdem einander annähern. Wie der Autor von der Enge des Gefängnislebens erzählt, in dem trotzdem eine gewisse menschliche Nähe entsteht, das hat mich beeindruckt.

    Auch sonst findet er immer wieder sehr schöne Formulierungen, erzählt sehr schlüssig und mit Humor nicht nur die Geschichte seines Protagonisten, sondern auch die Geschichte einer sich immer mehr verändernden Welt. Im letzten Viertel des Romans beginnt man zu ahnen, was Paul ins Gefängnis gebracht haben könnte, aber was genau, das erfahren wir Leser:innen erst ganz zum Schluss.

    Fazit: Für mich war das ein ganz “unfranzösischer” Roman, den ich sehr gerne gelesen habe und der mich nicht nur durch seine schöne Sprache, überzeugt hat sondern auch dadurch, wie der Autor sein Handlungspersonal durch und durch menschlich darstellt. Leseempfehlung!

  9. Cover des Buches Alabama Song (ISBN: 9783036991351)
    Gilles Leroy

    Alabama Song

     (45)
    Aktuelle Rezension von: Beust

    Gilles Leroy schreibt einen Roman, eine Romanbiographie, keine Biographie. Zum Glück? Weil man Zelda Fitzgeralds, der Frau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, dieses Leben nicht gewünscht hätte?

    Zelda und Scott Fitzgerald haben einander nicht gut getan. Geheiratet, weil sie berühmt werden wollten, weniger aus Liebe, zusammengeblieben aus Gewohnheit und weil es sich so gehörte, herabgerissen vom Alkohol und dem Leben im Exzess, vereint im „Krieg zu zweit“ (S. 149). Sie starben beide, noch ehe sie 50 wurden, er dem Vergessen entgegentaumelnd als versoffener Versager, sie eingesperrt in ein brennendes Irrenhaus. 

    Daraus entwickelt Leroy die Lebensbeichte Zeldas, ihren Schrei nach Leben - einem anderen nämlich, als sie es geführt hat. „Welch ein Glück, ein Mann zu sein! Wie traurig, eine Frau zu sein“ (S. 214), vor allem wenn diese Frau so selbstbestimmt ihr Leben als Abenteuer gestalten will und dabei an die Grenzen stößt, die von der Gesellschaft, der Konvention, ihrem Gatten und - hier wird es tragisch - den eigenen Beschränktheiten gesetzt werden. Die Liebe ihre Lebens nennt Zelda den Monat mit dem französischen Flieger Jozan; hier nämlich durfte sie Frau sein, ohne Ehefrau sein zu müssen; Künstlerin, ohne gekünstelt zu sein, exaltiert, ohne eine Publikumserwartung auf den nächsten Skandal erfüllen zu müssen.

    Zeldas Wahnsinn ist - in Leroys Roman - ihre Antwort auf das Scheitern ihrer Träume und den Widerstand von außen: Sie zieht sich zurück in eine andere Wirklichkeit und nimmt dorthin mit, was immer sie benötigt. Die Dialoge mit den wechselnden Psychiatern sind brillante Schaufensterblicke in Zeldas Version ihrer Vergangenheit, auch der Vergangenheit ihrer Zukunft.

    Man wünscht Zelda, dass ihr Leben besser war als Leroys Interpretation; und man hofft, dass Scott Fitzgerald ein nicht ganz so verkommenes Scheusal gewesen ist, wie Zeldas Anklage ihn dastehen lässt.

    Ein gutes Buch, das sich Seite für Seite entblättert.

     

  10. Cover des Buches Klippen (ISBN: 9783492252454)
    Olivier Adam

    Klippen

     (14)
    Aktuelle Rezension von: miss_mesmerized
    Ein Mann ist mit seiner Frau Claire und dem Baby Chloé im Urlaub in der Bretagne. Es ist dasselbe Hotel, in das er immer fährt, derselbe Ort, in dem er seine Urlaube der Kindheit verbracht hat, er blickt auf dieselben Klippen, die sich seine Mutter hinunterstürzte. Die Erinnerungen kommen wieder in dieser einen Nacht - an den Tod der Mutter, die Depression davor und das Unvermögen des Vaters, nach dem Tod mit den beiden Jungs allein das Leben zu ertragen. Die Erinnerung an Antoine, größerer Bruder und Vorbild, der den Tod der Mutter nicht verkraftet und erst mit Krankheit, dann mit Ausbruch aus dem bürgerlich-zivilen Leben reagiert. Die Freunde, die die beiden in dieser Zeit begleiten und auch aus dem Leben scheiden - wie die Mutter. Nicolas, Lorette, Léa - alle, die dem ich-Erzähler etwas bedeuten, verlassen ihn früher oder später, mal auf mehr, mal auf weniger grausame Weise. Sein Leben scheint eng mit dem Tod verbunden. Doch er hat Hoffnung und nachdem er selbst immer wieder kurz davor stand, ebenfalls alles hinter sich zu lassen, hat er nun mit Chloé zum ersten Mal eine Aufgabe, für die es sich lohnt zu leben.

    Ein intensives, stimmungsvolles Buch über den Verlust von Menschen und die Schwierigkeit, damit umzugehen. Intensive Bindungen, die jäh zerbrochen werden, Erinnerungen, die verwischen, nicht mehr zugänglich sind und plötzlich wieder an die Oberfläche drängen. Olivier Adam ist unbestreitbar einer derjenigen zeitgenössischen französischen Autoren, die mit einer enormen Sprachfertigkeit Schmerz und Glück auszudrücken wissen, die den Leser in die Geschichte ziehen und die Erfahrungen der Figuren regelrecht am eigenen Körper spüren lassen.
  11. Cover des Buches Ich gehe jetzt (ISBN: 9783833302022)
    Jean Echenoz

    Ich gehe jetzt

     (10)
    Aktuelle Rezension von: HeikeG
    Schwerelose Prosa voller Widerhaken 1999 erhielt Jean Echenoz für "Ich geh jetzt" den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt. Jean Echenoz erzählt aus dem Leben eines Galeristen, der eines Abends, an einem Sonntag im Januar, seine Frau nach fünf gemeinsamen Jahren verlässt: Auf nur 180 Seiten erlebt der Kunsthändler Ferrer nicht nur das Ende seiner Ehe, sondern den kompletten Wegfall seines gewohnten Alltags. Die Galerie, die er zusammen mit seinem Assistenten Delahaye betreibt, läuft schlecht. Angesteckt von der Neugierde Delahayes, der sicher ist, den Platz eines gesunkenen Schiffes zu kennen, reist er nach dessen Tod in die Arktis. "Hier passiert nicht viel, vor allem sonntags, wenn sich drei Faktoren eng miteinander verknüpfen, einander zum höchstmöglichen Wirkungsgrad potenzierend: Langeweile, Stille, Kälte." (Echenoz parodiert u. a. einen Mythos, die Geschichte von der Faszination des Nordens.) Dank seiner Hartnäckigkeit gelingt es Ferrer den Schatz auf dem vermissten Schiff Nechilik in Port Radium zu bergen. Doch die Freude an den Antiquitäten währt nicht lange. Ferrer wird ausgeraubt. Nun gewinnt Ferrers Leben an unglaublicher Geschwindigkeit. Nicht ganz unschuldig daran sind seine zahlreichen Frauengeschichten. Und als Ferrer am Ende, nach einem Jahr, wieder einmal konstatiert "Ich gehe", hat man nicht nur vieles über die hundertfünfzig Worte erfahren, "mit denen auf Iglulik der Schnee bezeichnet wird", man hat sich auch ausgezeichnet unterhalten - auf eine einfache, unaufdringliche, nicht bemühte Weise. Der Stil des Buches - zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig - ist den Klassikern angelehnt: der Erzähler "verbündet" sich mit dem Leser, spricht ihn direkt an, macht Andeutungen über zukünftige Ereignisse, fast im Plauderton, auf jeden Fall leicht zu lesen Anfangs springt Jean Echenoz Kapitelweise zwischen Ferrers Expedition in die Arktis und der Vorgeschichte dazu hin und her, danach zwischen den beiden Handlungssträngen, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln Ferrers und Baumgartners (seinem Widersacher) ergeben. Außerdem wechselt er immer wieder zwischen Präsens und Imperfekt, mitunter sogar im selben Satz. Gleichgültig, ob es sich um Rückblenden und Zeitsprünge oder einen geraden Erzählfluss, der plötzlich Untiefen preisgibt, handelt, Echenoz setzt alle diese Stilelemente mit großer Bravour ein. Leicht und poetisch erzählt, humorvoll, manchmal satirisch, sind Abenteuer, Liebeleien und Gaunerei miteinander verknüpft. Und trotzdem wird man als Leser unauffällig, lässig und systematisch in die Irre geführt. Es ist ein Spiel - ein ziemlich tückisches - denn die Regeln kennt nur er. Echenoz beherrscht die Kunst des Verwirrspiels virtuos, er hat einen kalten Humor und eine ganz eigene Sprache. Die scheinbar schwerelos dahingleitende Prosa steckt voller Widerhaken. Das Buch ist in Deutschland sehr zwiespältig aufgenommen worden, Befund: "zu französisch, so lala." Doch vielleicht verfügen gerade die Franzosen über bessere Antennen für die Ironie und das unbeschwert Spielerische in "Ich gehe jetzt".
  12. Cover des Buches Charlotte (ISBN: 9783328100225)
    David Foenkinos

    Charlotte

     (90)
    Aktuelle Rezension von: Martinchen

    »Das ist mein ganzes Leben« – mit diesen Worten übergibt Charlotte einem Vertrauten 1942 einen Koffer voller Bilder. Sie erzählen ihre viel zu kurze Geschichte: von der Kindheit im Berlin der Zwanzigerjahre, dem frühen Tod der Mutter, dem Zugang zu Berlins Künstlerkreisen durch die neue Frau des Vaters, dem Studium an der Kunstakademie, dem Leben als Malerin. Und dann: Flucht vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich, Leben im Exil, aber auch Liebe und Hochzeit. Nur ihre Bilder überleben – und damit ihre Geschichte, die David Foenkinos anrührend erzählt. Charlotte ist das Porträt eines verheißungsvollen Lebens, das viel zu früh beendet wurde. 

    Im vergangenen Jahr hörte ich den Namen Charlotte Salomon zum ersten Mal im Rahmen einer musikalischen Lesung. Neugierig geworden, begab ich mich auf die Suche, um mehr von der mir bis dahin unbekannten Malerin zu erfahren. Zuerst las ich die Biografie von Margret Greiner. Gleichzeitig fand ich David Foenkinos' Roman, der sich im wesentlichen auf das autobiografische Werk von Charlotte Salomon „Leben? Oder Theater?“. 

    David Foenkinos hat einen ganz besonderen Roman geschrieben, der von Christian Kolb aus dem Französichen übersetzt wurde. Jede Zeile ein Satz. Jede Zeile ein Satz, der sitzt. Der Roman wirkt wie ein Gedicht. Foenkinos hält sich sehr eng an Charlottes Biografie und streut nur hin und wieder ein, wie er sich auf die Reise zu ihren Spuren gemacht hat und was er dort findet. Es sind nur wenige kurze Sätze, die so viel aussagen. 

    Ich bin von diesem Roman, auf dessen Cover ein Ausschnitt aus einem von Charlottes Selbstporträts zu sehen ist, absolut begeistert. 


  13. Cover des Buches Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin (ISBN: 9783426507094)
    Delphine de Vigan

    Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin

     (65)
    Aktuelle Rezension von: Buchstabenliebhaberin

    Aber hier geht es um Mathilde und Thibauld. Ich habe so mitgefiebert mit den beiden! Mathilde, die viele Jahre bestens mit ihrem Chef zusammen arbeitete, wird nach einer Lappalie plötzlich mit seinem Hass konfrontiert. Einem nicht mehr endendem Hass, einem ausschließenden, vernichtenden Hass. Und Delphine de Vigan beschreibt das so gut, wie Mathilde versucht, alles wieder hinzubiegen, wie sie alles probiert, und immer weiter absteigt in der Unternehmenshierarchie, der Willkür eines psychopathischen Chefs ausgesetzt. Mathilde hat das nicht verdient! In ihrer Not konsultiert sie sogar eine Wahrsagerin. Wer hat nicht schon aus Verzweiflung sein Horoskop befragt, in der Hoffnung auf baldige Besserung ...

    Und dann Thibauld, der Rettungsarzt, was für ein harter, zermürbender Job, in einer Großstadt, Paris, wo es nur so wimmelt vor einsamen Seelen und knallharten Geschäftsleuten, die sich die Ärzte ins Büro rufen, um Zeit zu sparen. Der bindungsunfähige Mann, der sich in eine noch bindungsunfähigere  Frau verliebt. Die ihm so konstant die kalte Schulter zeigt, bis er sich trennt. Und leidet. Und wieder einsam ist.

    Delphine de Vigan erzählt wie die beiden den 20. Mai erleben, jeder auf seine Art und Weise, mit vielen Rückblicken. Eine sehr melancholische Betrachtung, sehr sensibel, verletzlich, zwei Leben voller Wunden und Narben. Sie erzählt auf eine besondere Weise, die ich sehr, sehr mag. Vielleicht reduziert und zurückgenommen, und dennoch mit viel Tiefe. Ich hätte noch ewig von den beiden weiterlesen können.

  14. Cover des Buches Drei Tage und ein Leben (ISBN: 9783608981063)
    Pierre Lemaitre

    Drei Tage und ein Leben

     (118)
    Aktuelle Rezension von: buchstaeblichverliebt

    📌 "Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Doch die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein..." (S. 29)

    1999Antoine, 12 Jahre alt, erschlägt den Nachbarsjungen Rémi, 6 Jahre alt, und versteckt dessen Leiche im Wald. Eine große Suchaktion muss aufgrund eines Jahrhundertunwetters abgeblasen werden und so ziehen die Jahre ins Land und Antoines Schuld bleibt ungesühnt. Innerlich ist der 12jährige emotional zerrissen, kann die ungeplante Tat nicht vergessen, geschweige denn verarbeiten, hegt Fluchtgedanken, versucht sich selbst das Leben zu nehmen.

    Diese innere Zerrissenheit Antoines wird aus meiner Sicht richtig gut beschrieben und der erste Teil der Geschichte punktet durch die atmosphärische Darstellung der Suchaktion, die Dorfcharaktere und die psychologische Tiefe ... 

    Nach einem Zeitsprung befinden wir uns im Jahr 2010, später 2015. Antoine ist erwachsen geworden, hat Medizin studiert - etwas aus seinem Leben gemacht und  seinen Heimatort eigentlich längst verlassen; nur seine Erinnerungen ist er nicht los geworden, wird von Panikattacken heimgesucht - die Wahrheit tief in sich verborgen. Als seine Mutter Hilfe benötigt kehrt er zurück nach Beauval und wird immer wieder mit der alten Geschichte konfrontiert, denn in dem Örtchen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und ein jeder erinnert sich an den alten Vermisstenfall des kleinen Rémi.

    Diesen Teil des Buches fand ich leider nicht mehr ganz so anschaulich erzählt, war aber sehr gespannt auf die Auflösung des Ganzen, als beim Bau eines Freizeitparks nach Jahren endlich Rémis Leiche gefunden wird und die Tätersuche neu aufgenommen wird. 

    Als Gesamtpaket betrachtet eine hervorragende Geschichte. 

    Mochte ich. 

  15. Cover des Buches Stein der Geduld (ISBN: 9783548610023)
    Atiq Rahimi

    Stein der Geduld

     (34)
    Aktuelle Rezension von: Lilli_Marleen_Art

    Stein der Geduld" von Atiq Rahimi ist ein eindringlicher Roman, der die Leser in die tiefen Abgründe menschlicher Existenz entführt. Rahimi, ein afghanischer Schriftsteller und Filmemacher, hat mit diesem Werk ein literarisches Meisterstück geschaffen, das die Grausamkeiten des Krieges und die verheerenden Auswirkungen auf das individuelle Leben einer Frau auf beeindruckende Weise darstellt.

    Das Buch erzählt die Geschichte einer namenlosen Frau in Afghanistan, die sich dazu entscheidet, während des Krieges bei ihrem im Koma liegenden Ehemann zu bleiben. Rahimi wählt eine einzigartige Erzählform: Der Leser wird zum stillen Zeugen der inneren Monologe dieser Frau, die ihre Gedanken und Gefühle in einem Akt der Selbsttherapie offenbart. Der "Stein der Geduld" wird dabei zu einem Symbol für ihre Seelenlast, ihre unterdrückten Emotionen und ihre schmerzhaften Erfahrungen.

    Die Sprache des Romans ist von intensiver Poesie geprägt. Rahimi nutzt eine klare, bildhafte Sprache, um die Atmosphäre der Trostlosigkeit und Verzweiflung inmitten des Krieges zu beschreiben. Die Protagonistin, die sich an einen steinernen Gegenstand wendet, um ihre Leiden zu teilen, wird zur Metapher für die stummen Opfer, die Frauen in Kriegszeiten ertragen.

    Die Charakterentwicklung ist subtil und tiefgründig. Die Frau durchläuft eine eindrucksvolle persönliche Transformation, während sie ihre Wut, ihre Schuldgefühle und ihre unterdrückte Sexualität erforscht. Rahimi scheut sich nicht vor tabuisierten Themen und zeigt die weibliche Sexualität in einer Gesellschaft, die von männlicher Dominanz geprägt ist.

    Die Erzählstruktur und die kurzen, intensiven Kapitel verleihen dem Buch eine besondere Dynamik. Der Leser wird in einen Sog aus Emotionen gezogen, während er die innere Zerrissenheit der Hauptfigur miterlebt. Rahimi fordert dabei auch die Konventionen der Gesellschaft heraus und stellt Fragen nach Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und dem Preis der Freiheit.

    "Stein der Geduld" ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch ein politisches Statement. Rahimi gibt den stummen Opfern des Krieges eine Stimme und beleuchtet die Schattenseiten der Gesellschaft. In einer Welt, die oft von männlicher Perspektive dominiert wird, setzt der Autor ein starkes Zeichen für die Rechte und die Würde der Frauen.

    Insgesamt ist "Stein der Geduld" ein ergreifender Roman, der durch seine kraftvolle Sprache, die tiefgehende Charakterentwicklung und die kluge Thematisierung gesellschaftlicher Probleme beeindruckt. Atiq Rahimi zeigt mit diesem Buch, dass Literatur die Macht hat, nicht nur Geschichten zu erzählen, sondern auch das Bewusstsein zu schärfen und zum Nachdenken anzuregen.

  16. Cover des Buches Drei starke Frauen (ISBN: 9783518467015)
    Marie NDiaye

    Drei starke Frauen

     (32)
    Aktuelle Rezension von: Ginevra
    Norah ist 38, arbeitet als Anwältin in Paris. Sie hat eine kleine Patchworkfamilie – und ist unglücklich, weil ihr Partner ihr unzuverlässig erscheint.
    Als ihr Vater sie drängt, in den Senegal zurückzukommen, um ihm bei einer wichtigen Angelegenheit zu helfen, fliegt sie sofort los – und gerät in einen Strudel der Erinnerungen. Aus dem reichen, protzigen Hotelbesitzer ist ein abgehalfterter Egozentriker geworden. Der Vater hatte vor vielen Jahren Norahs Mutter verlassen und den damals 5-jährigen Bruder Sony entführt, der nun – 30 Jahre später – in Schwierigkeiten steckt…

    Rudy Descas ist 43 und jobt als einfacher Arbeiter in der französischen Provinz – dabei war er im Senegal ein angesehener Gymnasiallehrer gewesen. Sein Vater war Geschäftspartner von Norahs Vater, gemeinsam hatten sie ein Feriendorf gegründet. Nach einem „Vorfall“ musste Rudy das Land verlassen und kehret zurück nach Frankreich, mit seiner geheimnisvollen Frau Fanta „im Schlepptau“. Als Rudys Chef der schönen Fanta nachstellt, dreht Rudy durch…

    Und dann ist da noch die junge Khady, die einfach nicht schwanger wird, die als junge Witwe von ihrer Familie verstossen wird und sich durch ein unerbittliches Land durchschlägt. Ihr Ziel: die Flucht aus dem Senegal nach Frankreich, zu ihrer reichen Cousine Fanta…

    Marie NDiaye wurde 1967 in Frankreich geboren. Ihr Vater, ein Senegalese, verließ die Familie früh und kehrte in seine Heimat zurück. NDiaye beschloss schon als Jugendliche, Schriftsellerin zu werden, und setzte sich in ihren Romanen mit der Problematik von Migration und Rückkehr auseinander. Nach einigen Wohnortwechseln lebt sie derzeit mit ihrer Familie in Berlin.
    Für den Roman „Trois Femmes Puissantes“ erhielt sie 2006 den renommierten Prix Goncourt.

    Mit einem eindringlichen, hypnotisierenden Erzählstil und eindrucksvollen Bildern verknüpft sie die afrikanische Erzähltradition mit der modernen. Ich konnte mich dem eigenartigen Bann dieses Buches kaum entziehen und musste viel über die Schicksale der beschriebenen Personen nachdenken.
    Alle drei Episoden dieses Buches sind inhaltlich miteinander verknüpft, und zeigen verschiedene Varianten des Themas Migration: erfolgreiche Anpassung, gescheiterte Anpassung, Flucht. 

    Die Wirklichkeit ist in allen drei Fällen ziemlich deprimierend, besonders die letzte Geschichte ging mir sehr ans Herz. Norah, die schon als Kind nach Frankreich kam, schafft es durch ihre Schulbildung, sich zu verwirklichen und hat sich in die moderne französische Gesellschaft integriert, dennoch lasten die Schatten der Vergangenheit schwer auf ihr und verhindern beinahe ihr Glück. 
    Fanta, die als Erwachsene nach Frankreich kommt,  bleibt im Hintergrund, passt sich an, scheint mit dem bescheidenen Wohlstand zufrieden zu sein, während ihr Mann damit hadert. 
    Und Khady bleibt nur die Flucht – aus einem armen Land, dessen Strukturen längst zerfallen sind.

    Fazit: ein absolut lesenswertes, poetisches und gesellschaftskritisches Buch – 5 von 5 Sternen!
  17. Cover des Buches Die Gasse der dunklen Läden (ISBN: 9783518380215)
    Patrick Modiano

    Die Gasse der dunklen Läden

     (1)
    Noch keine Rezension vorhanden
  18. Cover des Buches Der Erlkönig (ISBN: 9783596257935)
    Michel Tournier

    Der Erlkönig

     (10)
    Noch keine Rezension vorhanden
  19. Cover des Buches Die Felder der Ehre (ISBN: 9783492220163)
    Jean Rouaud

    Die Felder der Ehre

     (4)
    Aktuelle Rezension von: solveig

     

     

    … will der Schriftsteller Jean Rouaud die Mitglieder seiner Familie bewahren. In  liebevoll detaillierten Erzählungen lässt er Menschen, die er selbst kannte und auch solche, die er nicht mehr kennengelernt hat, weil sie zu früh gestorben sind, wieder auferstehen. Er entwirft ein ausdrucksstarkes Bild seiner Ahnen  -  besser als ein Foto es könnte; denn Rouaud haucht ihnen Leben ein, indem er sie in verschiedenen Episoden ihres Lebens darstellt .

    So erhalten die Toten wieder Gestalt. Melancholisch, dennoch mit leisem Humor, manchmal gar ironisch beschreibt der Autor die einzelnen Charaktere, und stets spürt der Leser Rouauds Wärme und Liebe für seine Familienmitglieder.

    Gemeinsam mit den Brüdern  Joseph und Emile, den Onkeln, die Rouaud nur aus Erzählungen kannte, durchlebt der Leser intensiv die Grauen des ersten Weltkrieges und seine Folgen. Sachlich, aber dennoch berührt und eindringlich beschreibt Rouaud die Schrecken des Krieges und das Leid der Bevölkerung.

    „Die Felder der Ehre“ beschränken sich für Rouaud allerdings nicht auf den Kriegsschauplatz, wobei er den Gedanken aufwirft, ob ein Krieg überhaupt ein Feld ist, auf dem Ehre erlangt werden kann. Andere „Felder“ sind da sicher sinnvoller: so widmet die kleine Tante Marie, deren  Lebensweg er melancholisch und amüsiert zugleich verfolgt, ihr ganzes Leben dem Unterrichten und der Bildung von Schulkindern.

    Auf faszinierende Weise versteht er es, seinen Leser mit dem Leben der einfachen Leute in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen. Ab den Fünfziger Jahren werden Rouauds Schilderungen skizzenhafter; hier taucht er in den Kosmos des Kindes Jean Rouaud und dessen eigene Erinnerungen.

    Einmal durch die Augen des genau beobachtenden Kindes, ein andermal distanziert und philosophisch  -  so fängt Rouaud Atmosphäre und Stimmungen ein und hält sie für die Nachwelt fest..

    Ein liebevolles Andenken an die eigenen Vorfahren bewahrt,  kann ich mir kaum vorstellen!
  20. Cover des Buches Weine nicht (ISBN: 9783896675644)
    Lydie Salvayre

    Weine nicht

     (10)
    Aktuelle Rezension von: AlexanderPreusse

    Rezension meines Blogs: Link siehe linktree

    Der Spanische Bürgerkrieg ist in der Literatur vielfach thematisiert, berühmte Schriftsteller wie George Orwell („Mein Katalonien“) oder Ernest Hemingway („Wem die Stunde schlägt“) haben über ihre Erlebnisse berichtet, es gehören literarische Perlen wie das Buch von Almudena Grandes („Der Feind meines Vaters“) und viele andere dazu. Auf dem vorzüglichen Literaturblog Kaffeehaussitzer findet man ein Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg, das eine anregende Buchliste enthält. 

    2014 hat die Verleihung des französischen Literaturpreises Prix Goncourt ein weiteres Buch ins Rampenlicht gestellt: Weine nicht. Deren Autorin, Lydie Salvayre, hat Wurzeln, die nach Spanien reichen. Sie wurde als Tochter einer Frau geboren, die gerade noch vor den siegreichen Streitkräften des faschistischen Diktators Franco fliehen konnte. Ihr Roman nähert sich dem Thema auf besondere Weise. 

    Der Spanische Bürgerkrieg gilt vielen als Präludium für den Zweiten Weltkrieg. Das ist etwas eurozentrisch gedacht und auf das Deutsche Reich fokussiert, das in Spanien mit der so genannen „Legion Condor“ Franco unterstützte, während die Verteidiger der Republik nur durch die Sowjetunion Unterstützung erhielten – zu einem hohen Preis, was in „Weine nicht“ dankbarerweise nicht verschwiegen wird: Stalin schickte Waffen und Terror nach Spanien, dem mehrere zehntausend Menschen zum Opfer gefallen sind.

    Vielfältige Perspektiv- und Zeitwechsel

    Selbstverständlich werden auch die Hinrichtungen durch die Franco-Faschisten nicht übergangen. Die Darstellung ist besonders eindrücklich, weil die Autorin dafür die Perspektive des konservativen Katholiken George Bernanos wählt. Erschüttert durch die Brutalität und die ignorante, menschenverachtende Haltung der Katholischen Kirche räumt der Mann seine politische Position und dokumentiert die Gräueltaten in seinem Werk: Die großen Friedhöfe unter dem Mond.

    Salvayre lässt Teile daraus und andere Dokumente geschmeidig in ihren Roman einfließen, ihre Erzählung wandelt spielerisch zwischen faktenreicher Darstellung, Erzählung und Erinnerung, Fiktion und Auszügen aus Quellen. Die Handlung spielt auf mehreren zeitlichen Ebenen, die Autorin mischt kräftig mit, erläutert und kommentiert ihren Schreibprozess, außerdem ist die Interpunktion sehr freizügig gestaltet. 

    Beeindruckende Leichtigkeit

    Der Roman rutscht trotzdem zu keinem Zeitpunkt in ein undurchsichtiges Wirrwarr ab und  erzählt mit einer wunderbaren Leichtigkeit.  Das liegt auch daran, dass ihm im Kern eine (tragische) Liebesgeschichte als Leitfaden eingewoben wurde. Die Hauptfigur, Montserrat, schließt sich mit ihrem Bruder den Verteidigern der Republik an. Für kurze Zeit erlebt sie Freiheit und ihre große Liebe. 

    So ist das Zitat auch zu verstehen, dass der Krieg zum rechten Zeitpunkt gekommen wäre. Diese flammende Liebe mündet in ein würgendes Desaster, mit lebenslangen Folgen. Es gehört zu den großen Stärken des Buches, dass es den Leser einmal nachempfinden lässt, wie weit die Schatten eines Krieges reichen, auch wenn die Kampfhandlungen lange beendet sind. 

    Zum Zeitpunkt dieses persönlichen Liebes-Desasters machen Montserrat und ihr Bruder Erfahrungen mit der grausamen Realität der Kriegführung. Die Ideale sind menschenverachtender Ideologie gewichen, auch die Sache der Verteidiger der Republik hat ihren Glanz eingebüßt. Auch aus diesem Grund kehren beide in ihre Heimat zurück. 

    Besonders wertvoll macht diesen Roman der Umstand, dass er eindrücklich nacherzählt, wie sich die Haltung der Bevölkerung in Montserrats Heimatort gegenüber Revolution und dem sich abzeichnenden Sieg der Franco-Seite wandelt. Wer von Umstürzen träumt, sollte hier genau lesen und zuhören, denn so einfach ist die Sache nicht, auch wenn zu Beginn einer Umwälzung die Begeisterung groß ist.

  21. Cover des Buches Kleines Land (ISBN: 9783492314053)
    Gaël Faye

    Kleines Land

     (38)
    Aktuelle Rezension von: Joroka

    Der Ich-Erzähler wächst als Sohn einer aus Ruanda geflohenen Tutsi und eines Franzosen in Burundi auf. Er schildert eine mehr oder weniger unbeschwerte Kindheit, bis die dunklen Wellen politischer bzw. ethnischer Konflikte aus dem Nachbarland herüberschwappen....

    Nach der Zusammenfassung auf dem Klappentext ging ich davon aus, dass der Hauptteil der Erzählung von einer Rückkehr nach Burundi handelt. Dem war aber nicht so. Es werden vor allem die Ereignisse aus den Jahren 1993/94 berichtet, als der Ich-Erzähler noch ein Kind ist. So war meine Erwartung auf den Roman ursprünglich eigentlich in eine andere Richtung gelenkt. Denn das hätte ich als ein besonders spannendes Thema empfunden: Wie ist es, nach Jahren in das Land zurückzukehren, aus dem man geflohen war. 

    Nun ist die Handlung auch so nicht langweilig. Doch in der ersten Hälfte fand ich sie fast ein wenig profan. Das ändert sich dann aber gewaltig, als die schrecklichen Ereignisse des Völkermordes in Ruanda, die auch das Nachbarland Burundi nicht verschonen, in den Mittelpunkt rücken. Dieser ethische Wahn zwischen Hutu und Tutsi, der selbst die Kinderherzen zu infizieren vermag. 

    Das Besondere dieses Romans ist die Kindersicht auf die Ereignisse, die natürlich aber von einem Erwachsenen verfasst wurden. Das merkte ich schon. Der Stil ist gut lesbar und oft in kürzeren Sätzen gehalten.


    Fazit: Anders als zunächst erwartet, aber insgesamt ein interessanter Einblick in die Vergangenheit eines Landes, das ich bisher nur aus den Nachrichten kannte, aus der Perspektive eines Kindes. 



  22. Cover des Buches Die Erziehung (ISBN: 9783641130763)
    Jean-Baptiste Del Amo

    Die Erziehung

     (2)
    Aktuelle Rezension von: Nespavanje

    Gaspard, Sohn eines Schweinezüchters, flieht vom Lande in die große Stadt und dort will er zuerst einmal seine Vergangenheit hinter sich lassen. Nachdem er in Paris herumirrt, findet er zuerst Arbeit an der Seine und lernt dort Lucas kennen. Allerdings bleibt er nicht lange und beginnt eine Lehre als Perückenmacher. Als er dort eines Tages de Comte de V. begegnet, ist Gaspard dem Adeligen vom ersten Moment an verfallen.

    Nachdem mein Stapel ungelesener Bücher eher immer größer als kleiner wird, ich arbeite schließlich in einem Buchladen, ist es immer wieder erstaunlich welche Kleinode sich hi und da darin verstecken. Mein Credo lautet: „Für manche Dinge im Leben, braucht es einfach die richtige Zeit!“ Und mittlerweile komme ich mir vor wie ein Schatzjäger… Ein Roman-Schatzjäger… Aber genug von mir, wenden wir uns dem eigentlichen Thema hin: Die Rezension zu „Die Erziehung“ von Jean-Baptiste del Amo.


    Wenn ich nichtsahnend, gleich beim ersten Kapitel, ja beim ersten Satz innehalten und über diesen einen Satz nachdenken muss, ist das eine literarische Kunst die mich wohlig erschauern lässt. Sein erster Satz lautet:

    „Paris, dreckiger, stinkender Nabel Frankreichs.“

    Ich unterstelle mal dem Romancier, dass er damit einfach nur polarisieren will und obendrein gleich von Anfang an, und ohne jedwede Umschweife, lässt er dem geneigten Leser in eine Kakophonie der Fäkalien und des Schmutzes eintauchen, und ja ein paar Mal hatte ich wirklich das Schaudernde Gefühl: Jetzt musst du dich selber waschen gehen. Dadurch bekommt der Leser sehr gut Einblick in das Pariser Alltagsleben des 18. Jahrhunderts, das keine Abwasserkanäle kennt und alles an Unrat, einfach aus dem Fenster kippt. Pariser, die es sich leisten konnten, übertünchten die schlechten Gerüche mit Parfum und genau zu jener Schicht möchte der eigentlich etwas unsympathische Gaspard dazugehören.

    Jean Baptiste del Amo, der eigentlich Jean Baptiste Garcia heißt, aber durch eine nicht gewollte Namensverwechslung mit dem Schriftsteller Tristan Garcia, der auch im selben Verlagshaus veröffentlicht, und den Namen der Großmutter als Pseudonym annahm, hat in Frankreich alle wichtigen französischen Literaturpreise gewonnen. Und das ganz zu Recht, wie ich finde, denn seine Erzählung strotzt nur so von einer kraftvollen und expressiven Sprache, ich mag mir gar nicht ausmalen wie gut es sich im französischen Original lesen würde. Kurz um, er beherrscht das Geschichtenerzählen; Wenn er über den körperlichen Tod, die Sexualität und die Verführungen des Reichtums schreibt, legt er eine Eleganz und Grausamkeit im Detail zu Tage, die ihm einen Schriftsteller ersten Ranges bescheinigen. Dabei ist das Thema des Reichtums sehr modern gewählt und kann auch gesellschaftskritisch gelesen werden. Auch wir erliegen der Verführung des Reichtums, und meinen uns so dadurch mehr Freiheit erkaufen zu können. Jean Baptiste del Amo führt uns damit ganz genau vor Augen, was es sich mit dem Reichtum auf sich hat, wenn er sagt: „(…)hier lebt die Bourgeoisie Wand an Wand mit dem gemeinen Volk, hier bekam der Dreck einen Goldrand.“

    Jean Baptiste del Amo gehört nun in meinen ganz persönlichen Olymp der Literatur und hat sich diesen Platz mehr als redlich verdient. Ich kann es kaum erwarten seinen zweiten, auf Deutsch erschienenen Roman „Das Salz“ zu lesen.

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