Bücher mit dem Tag "psychologischer realismus"

Hier findest du alle Bücher, die LovelyBooks-Leser*innen mit dem Tag "psychologischer realismus" gekennzeichnet haben.

6 Bücher

  1. Cover des Buches Tonio Kröger/ Mario und der Zauberer (ISBN: 9783596512799)
    Thomas Mann

    Tonio Kröger/ Mario und der Zauberer

     (172)
    Aktuelle Rezension von: BM1TE19a

    "Mario und der Zauberer" von Thomas Mann ist eine faszinierende Erzählung über die Macht des Bösen und die Auswirkungen von Massenhypnose. Manns sprachliche Fähigkeit und psychologische Tiefe sind in diesem Werk auf höchstem Niveau. Die Geschichte folgt dem Erzähler, der mit seiner Familie in einen Badeort reist und dort auf einen hypnotischen Zauberer trifft, der die Menschenmassen in seinen Bann zieht. Mann beschreibt in präziser und unheimlicher Weise, wie der Zauberer seine Macht ausübt und Mario schließlich selbst zum Opfer wird. Das Buch ist ein zeitloser Klassiker und eine eindringliche Warnung vor den Gefahren der Manipulation und des Faschismus. Manns einzigartiger Schreibstil und die düstere Atmosphäre machen "Mario und der Zauberer" zu einem unvergesslichen Leseerlebnis.

    AG

  2. Cover des Buches Ich zähmte die Wölfin (ISBN: 9783717521617)
    Marguerite Yourcenar

    Ich zähmte die Wölfin

     (16)
    Aktuelle Rezension von: Joroka

    Am Anfang benötigt man schon etwas Durchhaltevermögen, um sich einzulesen. Zunächst dachte ich: was ist das denn für ein zäher Monolog.

    Doch hält man die ersten 50 – 70 Seiten durch, erschließt sich einem die römische Welt des 2. Jahrhunderts anhand der Lebensgeschichte des Kaisers Hadrian. Umso überraschender erscheint mir die quasi-biografische Aufzeichnung, da sie von einer Frau geschrieben wurde. Man hört in diesen Zeilen so durchdringend einen Mann sprechen, dass ich vor Frau Yourcenar ehrfurchtsvoll den Hut ziehe.

    In Erwartung seines Todes schreibt der greise Kaiser an seinen jungen Freund Marc Aurel einen Brief, der sich zu einem umfassenden Rückblick auf sein Leben und seine Zeit ausweitet.

    Hadrian war offiziell zwar verheiratet, doch seine große Liebe galt dem jungen Antinous, der mit knapp 20 Jahren jedoch den Freitod wählte. Diesen Verlust hat Hadrian nie überwunden. Unzählige Bildnisse des Antinous stehen heute in Museum rund um die Welt als Büste oder Relief und künden von dieser tiefen emotionalen Bindung.

    Hadrian war dem Griechentum sehr zugetan und reiste so oft es ging nach Athen. Er veranlasste den Wiederaufbau Jerusalems als heidnische Metropole und war für die Niederschlagung der jüdischen Revolte im Jahr 135 n. Chr. verantwortlich.

    Ansonsten widmete er sein Kaisertum auf vielen Reisen der Befestigung der Reichsgrenzen.

    Fazit: Wer mehr aus dem Leben des Hadrian erfahren möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.


  3. Cover des Buches Colomba (ISBN: 9781420943030)
    Prosper Merimee

    Colomba

     (7)
    Aktuelle Rezension von: Steerpike
    Lydia Nevil ist eine blasierte höhere Tochter der englischen Gesellschaft. Ihr Vater - Sir Thomas Nevil, Colonel im Ruhestand - bereist mit ihr Europa, doch nichts gefällt ihr recht, alles hat schon einmal jemand erlebt oder gesehen, wodurch es für Miss Nevil uninteressant wird. So ergreift sie ungewöhnlich fügsam ihre Chance, auf Vorschalg ihres Vaters mit nach Korsika zu fahren; von dieser im 19. Jahrhundert noch wenig bereisten Insel, verspricht sie sich urwüchsige Abenteuer und ungesehene Einblicke in eine archaische Kultur, die sie später stolz ihren englischen Freundinnen erzählen kann. Dennoch ist sie nicht ganz erfreut, als sie auf der Überfahrt den schneidigen Leutnant Orso della Rebbia kennenlernt; mit Leutnants möchte sie eigentlich nichts zu tun haben, das verbietet ihr Standesdünkel. Nach und nach erliegt sie aber den passablen Manieren und dem schmucken Aussehen des Leutnants, der aufgrund einer Familienangelegenheit nach Korsika reisen muss, über die er sich zunächst ausschweigt. In Ajaccio angekommen verweilt Orso allerdings auffällig lange bei den Nevils und scheint es gar nicht eilig zu haben, in sein Heimatdorf Pietranera zu gelangen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn er fürchtet in eine der berüchtigten Vendettas seiner Heimat verwickelt zu werden. Sein Vater ist vor kurzem unter mysteriösen Umständen erschossen worden und seine ganze Familie und deren Bundesgenossen erwarten nun die Rache an den zwar mangels Beweisen nicht rechtskräftig überführten, aber dennoch in deren Augen unzweifelhaft schudigen Erzfeinden der Familie Barricini. Der sanftmütige und zivilisierte Orso möchte eigentlich nicht zur Selbstjustiz greifen und Miss Lydia bestärkt ihn darin, auch weil sie sich durch die Zivilisierung eines wilden Korsen ein besonderes Renommee verspricht, wenn sie diese Geschichte später in der Heimat erzählen kann. Da Orso weiter säumt, erscheint eines Tages eine wunderschöne Frau mit kastanienbraunen Haaren und dunkelblauen Augen. Sie ist keine andere als Orsos Schwester Colomba, die ihren Bruder zur Raison, das heißt zur Aufnahme der Familienfehde bringen will. Miss Lydia will dies nicht glauben und verspricht Orso ihre Unterstützung. Bald schon reisen die della Rebbias nach Pietranera ab, wohin ihnen einige Zeit später auch die Nevils folgen wollen. Inzwischen aber nimmt das Familiendrama seinen Lauf - und Colomba erweist sich dabei als ebenso gerissen wie manipulativ... Prosper Mérimée ist ein bedeutender französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Berühmt gemacht hat ihn vor allem seine Vorlage zu Georges Bizets Oper "Carmen", doch er hat auch viele weitere Novellen geschrieben, die sowohl realistische als auch phantastische Elemente beinhalten. Colomba ist aus einem Guss geschrieben. Die etwas zickige Lydia Nevil, der gutmütige und innerlich zerrissene Orso, sowie die geheimnisvolle Colomba sind differenziert angelegte Charaktere, die stets Lust auf den Fortgang der Geschichte machen. Diese ist sowohl unterhaltsam als auch voller Kenntnisse über korsische Bräuche und Lebensart, dabei nie platt, sondern stets ausgewogen das Für und Wider der Handlungsweisen der Protagonisten abwägend. Colomba, soviel sei verraten, bleibt bis zum Schluss eine sehr ambivalente Figur, die von der Rache auch dann nicht lassen kann, als sie eigentlich bereits vollzogen ist. Die "zivilisiereten" Orso und Lydia erscheinen ihr gegenüber fast schon übermäßig skrupulös und unfähig sich von Konventionen zu lösen. Die Kunst Mérimées liegt ganz eindeutig darin, diese Spannung zu halten und den Gegensatz der Lebensauffassungen in seinen Figuren ohne übertrieben Partei zu nehmen darzustellen. Ein wunderbares Lesevergnügen für alle, die gern Räuberpistolen auf hohem Niveau mögen.
  4. Cover des Buches Foxfire (ISBN: 9783423624978)
    Joyce Carol Oates

    Foxfire

     (5)
    Aktuelle Rezension von: Wortmagie

    Joyce Carol Oates wurde am 16. Juni 1938 geboren. Demnach ist sie am heutigen Tage (März 2022) 83 Jahre alt. Ihr erstes Buch, die Kurzgeschichten-Anthologie „By the North Gate“, erschien 1963. Seitdem veröffentlichte sie insgesamt 58 Romane, zahlreiche Novellen, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Gedichte und Aufsätze sowie Essays. Trotz ihres mittlerweile fortgeschrittenen Alters ist sie weiterhin äußerst produktiv und publiziert jedes Jahr mindestens einen Roman.

    Diese bemerkenswerte Produktivität wird ihr manchmal negativ ausgelegt, ebenso wie ihre Themenwahl. In der Vergangenheit wurde ihr häufig empfohlen, sich auf „Frauenthemen“ zu beschränken und den „großen Sozialroman“ Autoren wie Norman Mailer zu überlassen. Vor dem Hintergrund dieser Kritik wirkt ihr 22. Buch „Foxfire: Confessions of a Girl Gang“ beinahe wie eine Retourkutsche, denn darin beschäftigt sich Oates mit dem Traum einer feministischen Utopie.

    Vor ihrer Wiedergeburt war Maddy ein Niemand. Sie war nicht mehr als ein Mädchen der frühen 50er Jahre in der Kleinstadt Hammond im Bundesstaat New York – wie es auch ihre Blutsschwestern waren. Erst FOXFIRE erweckte sie, entfachte das Feuer in ihnen. Sie entflammten für den Kampf gegen eine ungerechte Welt, in der jungen Frauen niemals Türen offenstanden, in der sie unterschätzt und eingesperrt wurden. FOXFIRE rächte sich. FOXFIRE spuckte dieser Welt der Männer ins Gesicht und tat, was sie verdienten. 

    Doch das Feuer brannte heißer, als Maddy und ihre Schwestern ertragen konnten. Sie verglühten in den Flammen ihres Zorns. Viele Jahre später blickt Maddy – Madeleine – zurück. Als Chronistin der Mädchengang ist es ihre Aufgabe, in der Asche ihrer Träume Antworten zu finden und zu erklären, was sie selbst kaum versteht: Warum FOXFIRE scheitern musste.

    Die Bücher von Joyce Carol Oates sind oft schwer zu interpretieren. Ich kann natürlich nur für mich selbst sprechen, aber ihre gesellschaftskritischen Werke lassen mich häufig etwas ratlos zurück. Diese Geschichten muss ich lange in meinem Unterbewusstsein arbeiten lassen, bis ich Vermutungen über ihre Bedeutungen anstellen kann.

    Bei „Foxfire: Confessions of a Girl Gang“ brauchte ich mehrere Monate, um einen Verdacht zu entwickeln, was mir die Schriftstellerin mit diesem Buch sagen möchte. Die Erkenntnis wurde von einer interessanten Beobachtung begleitet: Ich konnte mich nicht auf eine Interpretation festlegen, weil ich zu dicht dran war. Ich musste erst Distanz gewinnen, um zu erkennen, was direkt vor meiner Nase lag. Ich bin fest überzeugt, dieser Effekt ist kein Zufall.

    Joyce Carol Oates muss ihn entweder gezielt forciert oder zumindest billigend in Kauf genommen haben, denn anders ist nicht zu erklären, warum sie mich so tief in die Ich-Perspektive ihrer unzuverlässigen Erzählerin Maddy eintauchen ließ, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sah.

    „Foxfire“ ist eine Erinnerungschronik, die von kurzen Bezügen zur Gegenwart eingerahmt wird. Als erwachsene Frau erinnert sich Madeleine an ihre Zeit als Teenager, als Maddy und als Gründungsmitglied der Mädchengang FOXFIRE. Wie notwendig diese Trennung zwischen Madeleine und Maddy für sie ist, wird schnell offensichtlich. Ihre Schilderungen gleichen einem Bewusstseinsstrom, sie schreibt oft ohne Punkt und Komma, als würde sie mitgerissen.

    Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie schneller und schneller tippt, jede Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit hinter sich lässt und die Ereignisse noch einmal durchlebt. Maddys Erfahrungen üben einen enormen Sog auf sie aus, dem sie sich nur stellen kann, wenn sie sich emotional abspaltet.

    Dadurch wirkt „Foxfire“ äußerst authentisch, doch es war nicht immer leicht, ihren Gedanken zu folgen. Dennoch begriff ich instinktiv, wie und warum FOXFIRE entstand. Die Gang begann als Schwesternschaft, die sich Gerechtigkeit für Frauen auf die Fahnen schrieb. Sie war eine Antwort auf vieles und in ihren Reihen fanden die Mitglieder Loyalität, Hingabe, Liebe und Fürsorge. Sie waren füreinander da, als es sonst niemand war, schon gar nicht die Männer in ihren Leben, die sie ausnahmslos als übergriffig erlebten.

    Daher ist es kein Wunder, dass Zorn ein entscheidendes Bindemittel in der Dynamik von FOXFIRE war. Ihr Gewaltpotential war früh und deutlich erkennbar; so ist kein Wunder, dass sich die Gang rasant kriminalisierte, denn die Mädchen berauschten sich an ihrem Zorn, dem erstmals ein Ventil geboten wurde.

    Weibliche Gewalt ist demnach ein Hauptmotiv in „Foxfire“ – Joyce Carol Oates beschreibt eindrücklich, wie sie entsteht, sich kanalisiert und am Ende eskaliert. Deshalb glaube ich, dass die Autorin mit diesem Roman betonen möchte, dass weibliche Emanzipation und Feminismus unvermeidlich sind. Das ist die Botschaft, mit deren Definition ich mich so schwertat. Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

    „Foxfire: Confessions of a Girl Gang” ist ein Roman über die Emanzipationserfahrung jugendlicher Frauen in den 1950er Jahren. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob er sich auch als Coming-of-Age – Erzählung qualifiziert, kam jedoch zu dem Schluss, dass diese Kategorie zu schwach ist für das, was Joyce Carol Oates in diesem Buch beschreibt. Die Gewalt, mit der sich die Mädchengang FOXFIRE emanzipierte, ist dafür zu dominant.

    „Foxfire“ hat nichts mit der Schilderung eines sanften, unschuldigen Erwachens zu tun. Vielmehr handelt es vom Traum radikaler, rachsüchtiger Gleichberechtigung, der zerplatzt, als die Gang zu weit geht. Am Ende müssen diese jungen Kriegerinnen einsehen, dass Feminismus nicht gegen die Gesellschaft möglich ist, sondern nur mit ihr – und das schließt Männer selbstverständlich ein.

    Ich fand die Lektüre hypnotisch und äußerst inspirierend. Es ist ein brutal feministisches Buch, das mich als weibliche Leserin gnadenlos bei meinem Gerechtigkeitssinn packte. Wer glaubt, Frauen könnten nicht mit aller Härte für ihre Rechte kämpfen, irrt gewaltig.

  5. Cover des Buches My Sister, My Love (ISBN: 9780061806667)
    Joyce Carol Oates

    My Sister, My Love

     (1)
    Aktuelle Rezension von: Wortmagie

    Meine überschwängliche Begeisterung für die Autorin Joyce Carol Oates war möglicherweise vorher bestimmt. Ich fand nämlich heraus, dass wir am gleichen Tag Geburtstag haben, obwohl die Grand Dame des psychologischen Realismus natürlich wesentlich älter ist als ich. Vielleicht ist es nur mein närrischer Aberglaube, dass ich an eine schicksalhafte Verbindung glauben möchte, aber vielleicht auch nicht. „My Sister, My Love“ ist mein zweiter Roman aus ihrer Feder und wie bereits „Blonde“ beruht er auf Tatsachen. Oates ließ sich vom mysteriösen Mord an der 6-jährigen JonBenét Ramsey inspirieren. Deswegen ist es mir wichtig, zu betonen, dass sich diese Rezension ausschließlich auf ihre literarische Interpretation bezieht. Meine Meinung über die fiktiven Charaktere steht in keinerlei Zusammenhang mit den realen Persönlichkeiten.

    „My Sister, My Love“ ist die Geschichte von Skyler Rampike. Und es ist die Geschichte seiner kleinen Schwester Bliss. Bliss, die mit dem Namen Edna Louise zur Welt kam und im Alter von 4 Jahren zum Wunderkind des Eiskunstlaufes wurde. Es ist die Geschichte einer Tragödie, die bereits begann, lange bevor Bliss kurz vor ihrem siebten Geburtstag ermordet wurde. Ehrlich und ungeschönt berichtet Skyler von seiner dysfunktionalen Familie, seinem Leben im tiefen Schatten seiner Schwester und dem Mordfall, der die Fassade der Perfektion zerstörte und eine endlose Kette von Anschuldigungen und Verdächtigungen nach sich zog. Erneut durchlebt er die schmerzhaften Erinnerungen, die Ungewissheit und das unerträgliche Gefühl der Schuld, um Bliss‘ wahre Geschichte offen zu legen und endlich eine Antwort auf die Frage zu finden, die ihn seit diesem verhängnisvollen Tag quält: wer hat Bliss getötet?

    „My Sister, My Love“ erzeugte in mir eine unfassbare emotionale Resonanz. Intellektuell ist mir bewusst, dass ich nicht Skyler lauschte, sondern Joyce Carol Oates. Doch weil sie ihm ihre Stimme lieh, ist es für mich fast unmöglich, ihn nicht als eigenständige Persönlichkeit zu begreifen. Ich vergaß während des Lesens immer wieder, dass Oates‘ Figuren eben nur das sind: fiktiv. Skyler wurde für mich zu einer lebendigen Instanz, dessen Humor das einzige war, das mich davon abhielt, wahre Sturzbäche von Tränen zu vergießen. Dieser zynische, bittere, zutiefst traumatisierte junge Mann brachte mich zum Schmunzeln, obwohl an seiner Geschichte rein gar nichts zum Lachen ist. Er schreibt chaotisch, ungeordnet, teilweise unzusammenhängend – gerade dadurch wirkte sein Manifest für mich authentisch. Jedes Wort habe ich ihm geglaubt.
    10 Jahre sind seit dem Mord an Bliss vergangen, doch für Skyler sind die Ereignisse noch immer präsent. Wie könnten sie auch nicht, nach all den furchtbaren Dingen, die ihm und seiner kleinen Schwester angetan wurden, von den Personen, die sie eigentlich bedingungslos lieben sollten: ihren Eltern. Betsey und Bix Rampike gehören zu der Sorte Menschen, die keine Kinder bekommen sollten und zumindest Betsey war auch noch gar nicht bereit dazu, Mutter zu werden. Ihre Kinder sind nur ein weiteres Statussymbol, die sie nicht ihrer selbst willen liebt, sondern nur aufgrund ihres Nutzens für ihre egoistischen, verdrehten Pläne. Sie ist völlig abhängig von der Meinung anderer über sie und erwartet von ihren Kindern das Gleiche. Niemals werden Skyler und Bliss nach ihren Wünschen oder Gefühlen gefragt, stattdessen perfektionieren beide Elternteile die Strategie der emotionalen Erpressung, die letztendlich in emotionalem Missbrauch gipfelt. Sie WOLLEN nicht sehen, wie sehr beide Kinder leiden, denn das widerspräche ja ihrem eigenen krankhaften Ehrgeiz.
    Kennt ihr das Wort „Eislaufmutter“? Betsey Rampike definiert diesen Ausdruck völlig neu. Sie pusht Bliss‘ Karriere auf dem Eis skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste. Sie scheut nicht einmal davor zurück, den Namen ihrer kleinen Tochter von Edna Louise in Bliss ändern zu lassen. Ihr müsst euch vergegenwärtigen, was das für ein so junges Kind bedeutet: für Edna Louise muss es sich angefühlt haben, als hätte ihre eigene Mutter ihre Identität gestohlen und mit dieser leeren Hülle namens „Bliss“ ersetzt, die nur dann vollwertig war, wenn sie Erfolg, Bewunderung und Applaus erfuhr. Skylers Gefühle für seine jüngere Schwester sind durch Betseys Fixierung unglaublich kompliziert. Ja, er liebt sie, doch schon von ihrer Geburt an empfand er Edna Louise als Eindringling. Als sie zum Wunderkind Bliss wird, wird es noch schwieriger, weil er sich neben ihr unsichtbar und unbedeutend fühlt. Es wäre Betseys und Bix‘ Aufgabe gewesen, Skylers widersprüchlichen Gefühlen entgegen zu wirken und ihm Liebe und Wertschätzung zu vermitteln. In diesem Punkt versagten beide kolossal. Während Betsey schlicht kein Interesse an ihrem Sohn hat, glänzt Bix hauptsächlich durch Abwesenheit. Er ist das Paradebeispiel eines gleichgültigen Vaters; unfähig, seine Kinder zu beschützen.
    Nach Bliss‘ Tod beginnt Betsey, durch Talkshows zu tingeln und die Geschichte ihrer ermordeten Tochter zu vermarkten. Sie nutzt die Tragödie ihres Lebens als Sprungbrett, während Skyler verloren, verstört und allein von einer Klinik in die nächste geschoben wird. Es gibt eine Szene, in der Skyler einen dieser Auftritte seiner Mutter im Fernsehen sieht. Für mich war das einer der schlimmsten Momente im ganzen Buch. Ich wurde so wütend, dass ich Betsey eine Backpfeife verpassen wollte, die so heftig wäre, dass sich mein flammend roter Handabdruck deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Es war eine wahnsinnig intensive Fantasie, weil ich einfach nicht fassen konnte, wie eine Mutter sich so egoistisch verhalten kann und fleißig an ihrer eigenen Karriere feilt, während sie sich eigentlich um ihren traumatisierten Sohn kümmern sollte.

    Ich muss diese Rezension an dieser Stelle abbrechen. Es geht einfach nicht mehr. Ich werde schon wieder wütend und so unglaublich traurig. Betsey Rampike ist die widerlichste, abstoßendste literarische Figur, die mir jemals untergekommen ist. Skyler und Bliss… Gott, ich hoffe inständig, das Leben ihrer realen Vorbilder war nicht genauso. Wisst ihr, nach all dem Schmerz, den ich gemeinsam mit Skyler durchlebt habe, dachte ich eigentlich, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Doch am Ende hat mich Joyce Carol Oates noch einmal eiskalt erwischt. Mir war es das Buch über nicht klar. Ich habe es erst am Ende begriffen. Ein Teil von Skyler glaubte all die Jahre, er hätte Bliss getötet.
    Wer sich auf „My Sister, My Love“ einlässt, muss sich bewusst sein, dass dieses Buch auf eine Art und Weise emotional und tragisch ist, die die Grenzen der Fiktion überwindet. Es ist nicht kitschig, voyeuristisch oder übertrieben – Joyce Carol Oates zeigt nur, wozu Menschen fähig sind und wie viel Schmerz wir selbst denjenigen zufügen können, die uns am nächsten stehen. Gebrochene Knochen heilen, aber eine zerstörte Psyche erholt sich unter Umständen nie mehr. Skyler, ich weiß, du existierst nicht. Trotzdem wirst du für immer einen Platz in meinem Herzen haben und deswegen möchte ich dir folgendes sagen: du bist wertvoll. Du bist es wert, geliebt zu werden. Was deine Eltern dir angetan haben, war Unrecht.

  6. Cover des Buches Carthage (ISBN: 9780007485758)
    Joyce Carol Oates

    Carthage

     (1)
    Aktuelle Rezension von: Wortmagie

    Corporal Brett Kincaid kehrte verwundet aus dem Krieg zurück, äußerlich wie innerlich traumatisiert. In seiner Heimatstadt Carthage wird von ihm erwartet, dass er das Leben wiederaufnimmt, das er für den Kampf gegen den Terrorismus hinter sich ließ. Doch Brett kann nicht. Er löst die Verlobung mit Juliet Mayfield und zieht sich zurück. Die Erinnerungen an den Irak quälen ihn, lassen ihn nicht schlafen und suchen ihn noch am Tage heim. Verzweifelt versucht er, zu vergessen, kombiniert Medikamente mit Alkohol. Als er am 10. Juli 2005 in seinem Auto am Straßenrand aufgegriffen wird, kann er nicht erklären, woher das Blut im Wagen stammt. Er erinnert sich vage, die Nacht in einer Kneipe verbracht zu haben. Er erinnert sich, dass Cressida Mayfield, Juliets jüngere Schwester, dort war. Danach verschwimmt alles in einem ungewissen Nebel. Offenbar war er der letzte, der Cressida lebend gesehen hat. Während die Stadt fieberhaft nach dem verschwundenen Mädchen sucht, sieht sich Brett mit Anschuldigungen konfrontiert. Könnte er tatsächlich etwas mit Cressidas Verschwinden zu tun haben? Hat er etwas Unverzeihliches getan? Verwirrt und unfähig, seinen Erinnerungen zu trauen, beginnt für Brett ein Kampf mit seinem Gedächtnis, der ihn Jahre seines Lebens kosten wird.

    „Carthage“ von Joyce Carol Oates ist schwer verdauliche Kost. Meine Lieblingsautorin befasst sich niemals mit einfachen Themen, doch dieses Mal bewegte sie sich am äußersten Rand meiner Wohlfühlzone. Das Buch forderte mich ungemein, weil Oates darin meiner Meinung nach von ihrem üblichen Schreibstil abweicht. Ich kenne sie als mitfühlende Autorin, die jede Facette der Psyche ihrer Figuren nachvollziehbar und explizit ausarbeitet. In „Carthage“ hingegen bekam ich nichts geschenkt. Ich erhielt tiefe Einblicke in die Seelen der Akteure, in ihre Gedanken- und Gefühlswelten, doch es war mir selbst überlassen, diese zu analysieren und interpretieren. Ich musste mich anstrengen, um zu verstehen, was Brett, Cressida und ihre Familien antreibt und bewegt, obwohl sie realistische, hyperlebendige Figuren mit psychologisch dichten Profilen sind. Es war besonders schwierig, sich in Bretts chaotischen Gedanken zurechtzufinden. Ich habe mich in seiner Perspektive sehr unwohl gefühlt, weil mir seine Psyche wie ein klaustrophobisches Labyrinth erschien, verwundet und verwirrend. Trotzdem wusste ich die erzwungene Konfrontation mit ihm sehr zu schätzen, denn andernfalls hätte ich nicht begriffen, wie mächtig sich eine posttraumatische Belastungsstörung auswirkt und wie inadäquat US-amerikanische Veteran_innen behandelt werden. Sie werden im Alltag allein gelassen, weggeworfen wie menschlicher Abfall. PTBS scheint in den Staaten tabuisiert zu werden; es gibt kaum Bemühungen, Kriegsheld_innen nach ihrem Dienst wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Rein abstrakt wusste ich natürlich, dass die Thematik in den USA heiß diskutiert wird und es für Veteran_innen eine große Herausforderung ist, sich ein neues Leben aufzubauen, doch mit Oates harter, brutaler Darstellung der Realität habe ich nicht gerechnet. „Carthage“ ist absichtlich unbequem. Es trifft die US-Bevölkerung zielsicher an einer empfindlichen Stelle: ihrem Patriotismus. Schonungslos illustriert es, wie wenig Soldat_innen für ihre Bereitschaft, ihr Leben für ihre Heimat zu riskieren, zurückerhalten und was der Dienst an der Waffe mit ihnen anrichten kann. Selbstverständlich ist Bretts Schicksal ein extremer Fall, ich halte ihn grundsätzlich allerdings für nicht so ungewöhnlich.
    Auffällig wird diese Geschichte durch Cressida, eine launische, eigenwillige junge Frau, mit der ich mich kaum identifizieren konnte. Sie ist keine Figur, für die man leicht Sympathie aufbaut, denn sie weist paradoxe, widersprüchliche Charakterzüge auf. Einerseits ist sie egoistisch, arrogant und herablassend, völlig von sich und ihrem Glauben an ihre intellektuellen Fähigkeiten eingenommen; andererseits ist sie zutiefst verunsichert und unfähig, sich als liebenswert einzuschätzen. Sie ist nicht in der Lage, mit Ablehnung oder Enttäuschung umzugehen und neigt zu hemmungslos überzogenen Reaktionen. Vermutlich leidet sie unter einer psychischen Erkrankung (vielleicht Borderline), was ihren massiven Zwang, sich auf psychischer, emotionaler Ebene wieder und wieder zu verletzen und zu bestrafen, erklären würde. Sie stößt alle Menschen von sich weg, verdammt sich zu einem Leben in Einsamkeit, weil sie glaubt, es nicht anders zu verdienen. Es war sicher nicht hilfreich, dass ihre Familie stets auf Zehenspitzen um sie herumschlich, ohne ihr jemals Grenzen aufzuzeigen. Wahrscheinlich hätte sie genau das gebraucht. Ich glaube, ich hatte während der Lektüre nur ein einziges Mal positive Gefühle für sie: im Epilog.

    „Carthage“ ist ein anstrengendes, unangenehmes Buch. Es handelt von Leid und Verwundung, veranschaulicht aber auch das Motiv der Vergebung. Joyce Carol Oates kritisiert indirekt und regt zum Nachdenken an, ohne anzugreifen. Ihren Stil empfand ich als ungewohnt, weil er nichtlinear ist, doch ich bezweifle, dass ihre Geschichte die gleiche Wirkung entfaltet hätte, hätte sie sie säuberlich geordnet niedergeschrieben. Sie verfolgte eine Strategie, wollte Chaos und Verwirrung vermitteln, um ihren Leser_innen die Situation ihrer Figuren näher zu bringen. Für mich ging diese Taktik auf. „Carthage“ hat mich sehr berührt und stieß einige Gedankengänge an, mit denen ich mich sonst wohl nie beschäftigt hätte. Trotz dessen weiß ich, dass dieses Buch nicht bei allen Leser_innen Begeisterungsstürme auslösen wird. Es ist kontrovers und stilistisch fast schon experimentell, daher solltet ihr euch vor dem Kauf unbedingt eine Leseprobe zu Gemüte führen. Ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst, damit ihr einschätzen könnt, ob es euch den mentalen Aufwand wert ist, herauszufinden, was Brett Kincaid und Cressida Mayfield miteinander verbindet.

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