Janina Hubers neue Kurzgeschichte "Verfolgt" jetzt online

Erstellt von JaHu_712 vor 6 Jahren

Janina Hubers neue Kurzgeschichte "Verfolgt" jetzt online

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JaHu_712vor 6 Jahren

Als das Licht ausging, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Ihr angewinkeltes Bein hing reglos in der Luft. Ihre Hände - glitschig von der Bodylotion, die sie eben hatte auftragen wollen - begannen zu zittern. Sie lauschte in die Dunkelheit und obwohl sie nichts hören konnte, außer ihrem eigenen, laut pochenden Herzen, war sie sich sicher, dass sie nicht allein war. Das Kribbeln, das sie so sehr fürchtete, begann wie so oft in der letzten Zeit zuerst im Nacken. Kalter Schweiß brach ihr aus. Sie durfte auf keinen Fall ohnmächtig werden! Nicht auszudenken, was mit ihr geschehen würde, wenn sie jetzt die Kontrolle verlor. So leise wie möglich drückte sie sich in den Spalt neben dem Spind. Langsam rutschte sie an der kalten Wand entlang nach unten, bis ihr Po den Boden berührte. Sie kauerte sich zusammen und schlang die Arme um den nackten Körper. Sie hatte jegliche Orientierung verloren und somit auch keine Ahnung, wo der Feind lauerte. Falls es diesen überhaupt gab. Den Verdacht, der sich ihr seit Kurzem unaufhaltsam ins Herz eingepflanzt hatte, drängte sie zurück. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte! Oder spielte ihr nur der Zufall einen üblen Streich? Sie spähte hinter dem Spind hervor. In einiger Entfernung konnte sie einen feinen Lichtstrahl sehen, der sich seinen Weg durch den Schlitz unter der Tür bahnte. Außerhalb der fensterlosen Umkleide schien das Licht zu funktionieren. Also kein Stromausfall! Sie presste die Lippen aufeinander und hielt den Atem an.
Ein Luftzug strich über ihre Arme und Beine. Sie erschauerte. War gerade jemand in der Dunkelheit an ihr vorbeigelaufen? Wieder versuchte sie, sich auf jedes noch so kleine Geräusch zu konzentrieren. Vergeblich.
Sie fror. Dennoch wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Das unangenehme Kribbeln hatte mittlerweile ihren Kopf erreicht. Obwohl sie nichts sehen konnte, hatte sie das Gefühl, als würde ihr jeden Moment schwarz vor Augen werden. Ihr Atem ging flach. Tränen stiegen in ihr auf. Wer spielte ihr so übel mit? Was hatte sie getan, dass jemand sie so sehr hasste?
Mit einem unerwartet lauten Rauschen sprang wenige Meter von ihr entfernt eine der Duschen an. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und unterdrückte mit Mühe einen Schrei. Schritte. Ein heiseres Kichern. Nun hatte sie Gewissheit. Jemand war mit ihr in der Umkleide. Jemand, der es nicht gut mit ihr meinte. Ihr Herz schlug nun so wild, dass sie kaum noch Luft bekam. Panisch drückte sie sich noch fester gegen die Wand. Gerade als sie kurz davor zu sein schien, den Verstand zu verlieren, flammten über ihr die grellen Neonröhren auf. Erleichtert stellte sie fest, dass sie allein war. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie sich mühsam hochrappelte. Ihre Knochen schmerzten von der unnatürlichen Position, in der sie die letzten Minuten gefangen gewesen war. Achtlos schmierte sie sich die übrige Bodylotion, die sie noch immer an den Händen hatte, auf Bauch und Oberschenkel. Sie wollte nur noch hier raus! Auch ihre Nacktheit war ihr plötzlich unangenehm. Hastig suchte sie ihre Kleidungsstücke zusammen. Sie hielt inne. Wo war ihr Höschen? Sie war sich sicher, dass sie es vor dem Duschen ganz oben auf den Stapel gelegt hatte. Sie durchsuchte ihre Sporttasche und warf noch einmal einen Blick in den leeren Spind. Doch das weiße Spitzenhöschen blieb verschwunden. Sofort kroch ihr wieder die blanke Panik in die Knochen. Ihr Angreifer musste ihr vorhin sehr nah gekommen sein. So nah, dass es ihm gelungen war, eines ihrer Kleidungsstücke an sich zu nehmen. Sie musste hier raus! Ob mit oder ohne Unterwäsche. Hektisch zog sie ihre Jeans an. An ihrer Bluse schloss sie nur die Hälfte der Knöpfe, ohne dabei auf die richtige Reihenfolge zu achten. Die Socken warf sie achtlos in ihre Tasche, während sie barfuß in die Sneakers schlüpfte. Ihren Mantel versuchte sie sich im Hinauseilen anzuziehen. Doch als sie an den Duschen vorbeirannte, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Im Augenwinkel sah sie etwas großes Rotes an der Wand, das dort nicht hingehörte. Sie blieb stehen und starrte in den weiß gekachelten Waschraum. Die Sporttasche rutschte ihr von der erschlafften Schulter und fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Wieder presste sie die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. An einem der Duschköpfe baumelte ihr Höschen. Jemand hatte mit blutroter Farbe quer über die Wand das Wort HURE geschrieben. Tränen stiegen in ihr auf. Sie schnappte sich ihre Tasche und rannte, ohne sich noch einmal umzublicken, hinaus.



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